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# taz.de -- Sexualisierte Gewalt in Deutschland: Kaum Verurteilungen von Tätern
> Vergewaltigungen werden selten zur Anzeige gebracht. Und wenn doch, führt
> es in der Regel nicht zur Verurteilung des Täters. Wo liegt das Problem?
Bild: „Nein heißt Nein“-Demo vor dem Gerichtsgebäude zur Unterstützung v…
Es sollte ein lustiger Abend werden. Im Frühjahr 2013 war Nina Fuchs mit
Freund:innen unterwegs, sie tranken, tanzten in Clubs. Später am Abend
lernte sie neue Leute kennen. Dann hören ihre Erinnerungen auf. Sie setzen
erst wieder ein, als Fuchs in einem Park liegt, zwei Männer über ihr, ihre
Unterhose hängt zwischen ihren Beinen. Sie ist benommen und kann sich nicht
wehren.
Am nächsten Tag erstattet sie Anzeige und gibt zu Protokoll: eine
Vergewaltigung unter Einfluss von K.-o.-Tropfen. Die Mittel können nicht
mehr nachgewiesen, die DNA-Spuren eines Täters jedoch gesichert werden. Die
Tat ist mittlerweile über sieben Jahre her, die mutmaßlichen Täter wurden
gefasst, doch bis heute gibt es keinen Prozess.
Dass Vergewaltiger für ihre Taten verurteilt werden, kommt nur in den
seltensten Fällen vor. Der Kriminologe Christian Pfeiffer, der seit
Jahrzehnten zu diesem Thema forscht, kam bei einer Untersuchung zu einem
dramatischen Ergebnis: Von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt
nur etwa eine Betroffene die Verurteilung des Täters. So auch Nina Fuchs.
Woran liegt es, dass Vergewaltigungen so selten vor Gericht kommen – nicht
einmal dann, wenn der Fall so eindeutig zu sein scheint, wie es bei Fuchs
war?
Um die von Pfeiffer genannte Zahl nachvollziehen zu können, muss man einen
Blick in die Dunkelfeldforschung werfen. Nur 15 Prozent derjenigen, die
eine Vergewaltigung erleben, erstatten Anzeige. Das geht aus einer Erhebung
von 2011 hervor, mit der auch Pfeiffer seine Aussage begründet. [1][Laut
Zahlen des Landeskriminalamts Niedersachsen von 2017] sind es sogar nur 5
Prozent. Aktuelle Zahlen für das gesamte Bundesgebiet liegen nicht vor. Das
Bundeskriminalamt will diese mit der bisher [2][größten Dunkelfeldstudie
zur Sicherheit in Deutschland] im kommenden Jahr liefern.
## Scham, Angst und Traumata
Warum Betroffene, im Regelfall Frauen, keine Anzeige erstatten, hat
verschiedene Gründe. Vor allem wenn der Täter aus dem Nahbereich stammt,
also der (Ex-)Partner, Vater, Freund oder ein Bekannter ist, kommt es
selten zu einer Anzeige, sagt Bianca Biwer der taz. Biwer ist
Bundesgeschäftsführerin beim Weißen Ring, einem Opferhilfeverein, der seit
40 Jahren Beratung sowie finanzielle, juristische und psychotherapeutische
Unterstützung für Betroffene anbietet. „Wenn Frauen ihren Täter gut kennen,
sorgen sich manche, sie würden sein Leben zerstören. Doch auch das
Schamgefühl hindert viele, eine Anzeige zu erstatten. Und zuletzt muss man
festhalten, dass solch ein Verfahren so anspruchsvoll ist, dass nicht alle
Betroffenen das leisten können. Ihre Geschichte wieder und wieder erzählen
und durchleben zu müssen, kann sehr traumatisierend sein“, sagt sie.
Auch Nina Fuchs wollte keine Anzeige erstatten, es erschien ihr im ersten
Moment wie eine nicht überwindbare Hürde, sagt sie. Am nächsten Morgen
überzeugte ihre Schwester sie, es doch zu tun. 90 Minuten wurde sie auf der
Polizeistation befragt, es folgte eine Tatortbegehung und eine
rechtsmedizinische Untersuchung mit Blut- und Urinprobe. „Die untersuchen
jeden Millimeter deines Körpers, jede einzelne Körperöffnung und überall
werden Proben genommen, es war wirklich unangenehm“, sagt Fuchs. Wunden
oder blaue Flecken werden mit einem Millimeterband daneben abfotografiert.
Bei Fuchs sind es unter anderem blaue Flecken am Oberarm, die bei einer
Vergewaltigung als typische Halteverletzungen gelten.
Wenige Tage später geht Fuchs noch einmal zur Polizei, weil sie in ihrer
Tasche eine Sonnenbrille gefunden hat – ein mögliches Beweismittel, denkt
sie. Wieder wird sie von einem Polizisten befragt, danach bricht sie
zusammen. „Im Nachhinein waren die Befragungen durch die Polizei für mich
das Traumatisierendste an dem gesamten Prozess. Ich hatte durchgehend das
Gefühl, dass mir nicht geglaubt wird und habe wirklich null Empathie
gespürt.“
Auch dem Weißen Ring berichten Betroffene immer wieder von wenig sensiblen
Beamten. „Als Zeugin im Verfahren wird deine Glaubwürdigkeit ständig
infrage gestellt, das ist eine schwierige Situation. Ich glaube, dass
Beamte vielfach einfach noch nicht gut genug geschult sind im Umgang mit
traumatisierten Personen“, sagt Biwer. Ignaz Raab, der Leiter des
Kommissariats für Sexualdelikte in München, arbeitet seit 17 Jahren mit
Betroffenen von Vergewaltigung. Er ist sich bewusst, wie herausfordernd das
Verfahren für Betroffene sein kann. „Wir arbeiten so, dass wir den Opfern
erst einmal grundsätzlich glauben. Allerdings ist es auch unsere Aufgabe,
detailliert nachzufragen und auch mal nach links und rechts zu schauen, ob
alles stimmig sein kann“, sagt er. Detaillierte Nachfragen, die
Untersuchung und eine Tatortbegehung – all das sei nötig bei den
Ermittlungen, so Raab.
## Verurteilungsraten sinken
Die Zahl der Anzeigen schwankt über die Jahre hinweg, doch insgesamt lässt
sich eine Steigerung feststellen, was auf Gesetzesänderungen zurückzuführen
ist: 1997 das Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, 2016 das [3][neu
eingeführte Sexualstrafrecht „Nein heißt Nein“], aber auch die
#MeToo-Bewegung. Die Verurteilungsrate aber sinkt. „In den 90er Jahren lag
sie noch bei über 20 Prozent, von 2014 bis 2016 ist sie auf 7,5 Prozent
gesunken“, sagt Pfeiffer. Dabei ist die Rate stark bundeslandabhängig: So
liege sie in Sachsen bei 21,4 Prozent, in Berlin dagegen bei 3,4
Verurteilten pro 100 Anzeigen.
Fälle von sexualisierter Gewalt stellen Polizei und Justiz vor eine
Herausforderung. Im Regelfall steht Aussage gegen Aussage, meist gibt es
wenige bis keine Zeugen und Beweismittel. Bei Einsatz von K.-o.-Mitteln
gestaltet sich der Prozess noch schwieriger: Betroffene haben
Erinnerungslücken, die Mittel sind in der Regel nur sechs bis zwölf Stunden
nachweisbar. Verlässliche Studien, wie häufig sie bei Sexualdelikten
eingesetzt werden, fehlen. Biwer, Pfeiffer und Raab bestätigten jedoch,
dass ihnen Fälle unter Verabreichung von K.-o.-Tropfen bekannt sind, auch
wenn Raab sagt, es seien Einzelfälle. Bei Fuchs kam die rechtsmedizinische
Untersuchung zu spät, die Mittel konnten nicht nachgewiesen, die Täter
nicht ermittelt werden; die Ermittlungsarbeit wurde nach zehn Monaten
eingestellt.
Vier Jahre später bekommt Fuchs Post von der Staatsanwaltschaft: Ein
möglicher Täter wurde gefunden. Doch auch dieses Ermittlungsverfahren wird
nach Monaten wieder eingestellt. Die Staatsanwältin begründet das in einem
Schreiben, das der taz vorliegt, mit den Erinnerungslücken der Betroffenen.
Fuchs’ Anwalt legt Beschwerde ein – ohne Erfolg. Sie setzen auf ein
Klageerzwingungsverfahren, doch auch damit gelingt es nicht, einen
Prozess zu erkämpfen.
## Erstvernehmung mit Kamera
Dass Fälle ohne Prozess eingestellt werden oder dass es in einem
Gerichtsverfahren nicht zu einer Verurteilung kommt, führt Pfeiffer auch
auf die Arbeit der Polizei zurück. Für eine eventuelle
Glaubwürdigkeitsuntersuchung der Betroffenen sei es wichtig, dass die
Erstvernehmung nicht schriftlich festgehalten, sondern gefilmt werde.
„Unsere Hypothese ist, wer als Staatsanwalt nur eine Kurzfassung liest,
wird davon nicht so emotional betroffen wie bei dem zeitlich aufwendigeren
Anschauen der Videoaufnahme“, sagt Pfeiffer. Im Video werden Emotionen und
Ergriffenheit der Betroffenen stärker sichtbar. Diese Hypothese wird er nun
gemeinsam mit Theresia Höynck und Patrik Schmidt von der Universität Kassel
sowie der Psychologin Bettina Zietlow in einer Studie untersuchen.
Eine Erstvernehmung der Betroffenen per Videokamera hält auch Biwer für
unerlässlich. Damit könnte nicht nur die Glaubwürdigkeit der Betroffenen
gesichert werden, sondern es vereinfache auch den Prozess: Das Erlebte
müsste nicht wieder und wieder erzählt werden.
Der Einsatz von Videokameras ist in Deutschland noch nicht
selbstverständlich. Seit 2019 ist er bei schweren Straftaten zwar erlaubt,
doch nicht alle Polizeistationen sind hinreichend technisch ausgestattet
und ausgebildet. In welchem Umfang Videovernehmungen bisher eingesetzt
werden, ist nicht bekannt, da jede Staatsanwaltschaft selbst entscheidet,
welche Vernehmungsart eingesetzt wird. Im Münchner Kommissariat gibt es
zwar ein Videovernehmungszimmer und mittlerweile auch mobile
Vernehmungstechnik. Bei Sexualdelikten werde die polizeiliche Vernehmung
aber noch schriftlich festgehalten, die richterliche Befragung finde dann
per Video statt, sagt Raab. Es werde aber daran gearbeitet, alle
Dienststellen technisch so auszustatten.
Für Opfer einer Vergewaltigung wäre es ein großer Gewinn, wenn sich dieses
Vernehmungsverfahren durchsetzt. Für Nina Fuchs kommt es zu spät. Aufgeben
will sie dennoch nicht. Mithilfe [4][einer Petition] und [5][einem
Crowdfunding] schafft sie Aufmerksamkeit für ihren Fall, im Juli hat sie
Verfassungsbeschwerde eingereicht. Wenn das scheitert, will sie vor den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. „Mir ist bewusst, dass
die Verurteilung des Täters unwahrscheinlich ist, doch es würde mir allein
schon helfen, wenn ich nach all den Tränen, der Zeit und Energie, die ich
hierein gesteckt habe, einen fairen Prozess bekomme.“
24 Nov 2020
## LINKS
[1] /tmp/mozilla_erica.zingher0/180905_Kernbefundebericht2017.pdf
[2] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Forschung/ForschungsprojekteUndErgebni…
[3] /Nein-heisst-nein-im-Sexualstrafrecht/!5342784
[4] https://www.change.org/p/generalstaatsanwalt-reinhard-r%C3%B6ttle-bitte-ver…
[5] https://de.gofundme.com/f/bundesverfassungsgericht-und-egmr-neue-hoffnung
## AUTOREN
Carolina Schwarz
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