# taz.de -- Selbstvermarkter Anselm Lenz: Aluhüte am Rosa-Luxemburg-Platz | |
> Früher hochkulturell subventionierte Radikalitätsposen, heute politisches | |
> Theater im Zeichen der Querfront. Der Fall des Anselm Lenz. | |
Bild: Broschüre über groteske Selbstvermarktung? Anselm Lenz teilt gerne aus | |
Man wünscht sich derzeit sehr, [1][Anselm Lenz, einer der Organisatoren] | |
der von Rechtsradikalen und Verschwörungstheoretikern frequentierten | |
Berliner [2][„Hygiene“-Demonstration], würde sich an die Parole halten, mit | |
der er früher auf sich aufmerksam machen wollte: „Sag alles ab.“ Ja, bitte, | |
sag alles ab, am besten sofort. | |
Allerdings hat Anselm Lenz die aus einem Tocotronic-Song entwendete Parole | |
seinerzeit in einem etwas anderen Kontext benutzt. Vor sechs Jahren | |
versuchte er sich noch mit überschaubarem Erfolg wahlweise als Dramaturg, | |
politischer Aktionskünstler und Buchautor, später auch als Journalist, | |
unter anderem bei der taz. Mitte der 2010er Jahre gehörte Lenz zum | |
[3][Kunstkollektiv Haus Bartleby], das vor drei Jahren seine Aktivitäten | |
eingestellt hat und sich von den neuesten Kapriolen des früheren | |
Mitstreiters mittlerweile deutlich distanziert. | |
Das Geschäftsmodell von Haus Bartleby war ein wenig bizarr. Mit | |
coolnessbewussten Anleihen bei den Situationisten und anderen | |
Radikalverweigerern verkündete man den Ausstieg aus allen systemrelevanten | |
Aktivitäten und Faulheit als den definitiven Weg der Subversion. Vieles | |
davon war wie die Tocotronic-Zeile zwecks Selbstaufwertung parasitär | |
geklaut – eine etwas anmaßende Attitüde aus zweiter Hand. | |
## Radikal für Geld | |
Da das Programm der „Karriereverweigerung“ mit großem Fleiß und | |
deutlichem Willen zur Markenbildung betrieben wurde, war ein gewisser | |
performativer Selbstwiderspruch nicht zu übersehen. Bei den Akteuren | |
handelte es sich mitnichten um Langzeitarbeitslose oder Eremiten, sondern | |
um strebsame Nachwuchsakademiker auf der Suche nach einem Auskommen und | |
einer kleinen Karriere im Kulturbetrieb. | |
Ziel des Geschäftsmodells war es, mittels der Behauptung vermeintlich das | |
System destabilisierender „Karriereverweigerung“ ein eigenes Label, eben | |
Haus Bartleby, zu etablieren und die so akquirierten | |
Aufmerksamkeits-Marktanteile im Kulturbetrieb zu monetarisieren. Dort | |
werden unverbindliche Gesten der Radikalität und Dissidenz immer gern | |
genommen. | |
Das hat eine Zeit lang funktioniert und steht symptomatisch für die | |
Konjunkturen im Radical-Chic-Segment des Kulturbetriebs. Es wird | |
interessant sein zu sehen, ob und wie dieses Business der hochkulturell | |
subventionierten Radikalitätsposen die derzeitige Krise und die in ihr mit | |
einer etwas anderen Dringlichkeit gestellten Relevanzfragen überstehen | |
wird. | |
Die paradoxe Wette der Haus-Bartleby-Betreiber lief darauf hinaus, ob man | |
ohne viel zu bieten zu haben, nur mit der Behauptung, man wolle auf keinen | |
Fall Karriere machen, eben doch eine kleine Karriere machen könnte. | |
Zumindest für zwei, drei Jahre ging die Wette auf. Haus Bartlebey konnte in | |
der Hamburger Edition Nautilus ein Buch veröffentlichen und wurde | |
gelegentlich auf ehrwürdige Bühnen eingeladen, vom Heimathafen Neukölln | |
über das Haus der Kulturen der Welt bis hin natürlich zur Berliner | |
Volksbühne. | |
Sogar für einen Wiener Theaterpreis, den Spezialpreis des Nestroy, | |
reichte es. Dass sich aus der Propagierung der Karriereverweigerung auf | |
Dauer dann doch keine Karriere im Kulturbetrieb erschwindeln ließ, hat eine | |
gewisse Logik. Sehr freundlich könnte man diesen Bluff als launige Versuche | |
von Künstlern ohne Werk, aber mit Talent zur Selbstvermarktung beschreiben, | |
die einem gelangweilten Kulturbetrieb ein ironisches Schnippchen schlagen. | |
## Lebenslüge grotesk forgesetzt | |
Die Frage ist, welches Licht Anselm Lenz’ jüngste Aktivitäten als | |
Querfront-Aktivist und Demonstrationswegbegleiter von | |
Verschwörungstheoretikern auf seine früheren Tätigkeiten im | |
Radical-Chic-Aufmerksamkeitsgeschäft wirft. Vor seinem biografischen wie | |
ideengeschichtlichen Hintergrund wirken seine heutigen Manöver wie die halb | |
komische, halb tragische, also groteske Fortsetzung einer Lebenslüge und | |
der energischen Versuche, irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen. Egal für | |
was. Hauptsache, für die eigene Person. Ein Leben aus zweiter Hand, immer | |
auf der Suche nach Bedeutung und einer Bühne. Auch deshalb war der Wechsel | |
des politischen Vorzeichens, von diffus linksradikal zu konfuser | |
Systemkritik mit Schnittstellen zum Rechtsradikalismus, offenbar recht | |
mühelos. | |
Tragisch daran ist nicht nur die Assoziation mit [4][bizarren | |
Querfront-Weggefährten wie dem Moderator Ken Jebsen], [5][dem | |
Compact-Magazin] oder mit AfD-Kadern, sondern der unreflektierte Wechsel | |
des Spielfelds, ein typisches Missverständnis unaufgeklärter, hinsichtlich | |
der eigenen Voraussetzungen naiver Aktionskunst. | |
Als Untermieter im Haus Bartleby spielte Anselm Lenz den Systemverweigerer, | |
dabei ging es nur um Kunst (oder zumindest um Teilhabe am Kunstbetrieb). | |
Jetzt ist es genau umgekehrt. Der Ort der Demonstration vor der Volksbühne, | |
die Lügen, der frühere Schlingensief-Dramaturg Carl Hegemann zähle zu den | |
Unterstützern und Giorgio Agamben sei Mitherausgeber der von Lenz & Co | |
verteilten Flugblätter, der gestreute Fake, Frank Castorf spreche auf einer | |
der Demonstrationen, die Verbindung zum verstrahlten Teil der einstigen | |
Volksbühnen-Besetzer, die frei erfundene Behauptung, man arbeite mit der | |
Volksbühne zusammen – mit jeder Geste signalisiert Lenz den Wunsch, | |
irgendwie an der Kunst und dem Referenzsystem der Volksbühne teilzuhaben. | |
Früher tat er als Kulturbetriebs-Selbstvermarkter so, als sei er | |
politischer Aktivist. Heute ist er beim Gegenteil angekommen: Er wäre gern | |
ein Teil einer von ihm imaginierten Volksbühne und macht sich zum | |
nützlichen Idioten der Rechtsradikalen, die seine Demonstration besuchen. | |
7 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Corona-und-Verschwoerungstheoretiker/!5675712 | |
[2] /Koepfe-der-Corona-Relativierer/!5681132 | |
[3] /Berliner-Schlendrian/!5371283 | |
[4] /Preisverleihung-fuer-Ken-Jebsen/!5471004 | |
[5] /Compact-Magazin-in-der-Krise/!5676890 | |
## AUTOREN | |
Peter Laudenbach | |
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