| # taz.de -- Schlafstörungen und Insomnie: Gesellschaft der Unausgeschlafenen | |
| > Millionen Menschen in Deutschland schlafen nicht gut, viele lassen sich | |
| > mit starken Medikamenten behandeln. Dabei gäbe es nachhaltigere | |
| > Therapien. | |
| Bild: Gründe für schlaflose Nächte: Smartphones, Säuglinge oder ein unbeque… | |
| Stephan König* muss Mitte 20 gewesen sein, als er das erste Medikament | |
| gegen seine Schlafprobleme verschrieben bekam. Der schlechte Schlaf begann | |
| bei ihm in den Nächten von Sonntag auf Montag. Man kennt das: Lange wach | |
| bleiben am Wochenende und mit gestörtem Rhythmus in die neue Woche starten. | |
| Bei König verfestigte sich dieser gestörte Rhythmus irgendwann, er fand | |
| auch dienstags und mittwochs nicht in den Schlaf, wachte nachts auf, | |
| starrte stundenlang an die Decke. Also ging er zum Arzt und kam mit einem | |
| Rezept für Lorazepam wieder heraus. | |
| Der Arzt hatte nicht groß Fragen gestellt und dem damaligen Studenten | |
| Pillen verschrieben, sogenannte Benzodiazepine, die bei schweren | |
| Angststörungen eingesetzt werden, also beruhigend und somit schlaffördernd | |
| wirken. Und abhängig machen können. | |
| König weiß das noch nicht, als er sie anfangs nur am Sonntagabend nimmt. | |
| „Hui! Hab ich gedacht“, sagt er. „Die sind aber klasse!“ Er kann wieder | |
| schlafen, schnell nimmt er die Tabletten nicht nur sonntags, sondern vier-, | |
| fünfmal die Woche. Für ein neues Rezept braucht er nur in der Praxis | |
| anrufen. König ist sich bewusst, dass das mit den Tabletten keine | |
| Dauerlösung sein kann. Aber nach dem Studium kommt der Job, dann die | |
| Familie, er hat viel zu tun und sie lassen ihn schlafen. Und nicht schlafen | |
| zu können, wäre schlimmer. | |
| ## Benzodiazepine und Antidepressiva | |
| Trotzdem geht er zweimal ins Schlaflabor. Dort schließen sie aber bloß aus, | |
| dass er eine Schlafapnoe, also Atemaussetzer, hat, er solle mal einen | |
| Neurologen aufsuchen. Der wiederum lässt ihn zwar das Lorazepam | |
| ausschleichen, verschreibt ihm dann aber ein Neuroleptikum, das immerhin | |
| nicht süchtig machen soll. König schläft damit schlechter, aber fünf | |
| Stunden am Stück sind für ihn okay. | |
| Seit vielen Monaten kann das Medikament allerdings nicht geliefert werden. | |
| Jetzt bekommt er Antidepressiva, die als Nebenwirkung schlafanstoßend sind, | |
| ihm aber nichts bringen. Und König muss sich das erste Mal, seitdem die | |
| Probleme auftraten, ernsthaft fragen, ob er nicht auch ohne Medikamente da | |
| wieder rauskommt. | |
| Schätzungsweise [1][34 Millionen Menschen in Deutschland können laut einer | |
| Erhebung der Krankenkasse DAK nicht gut schlafen], [2][etwa 1,5 Millionen | |
| nahmen im Jahr 2021 täglich Schlafmittel]. Bei solchen Zahlen spricht man | |
| hierzulande immer gerne von einem „Volksleiden“ oder einer gänzlich | |
| „unausgeschlafenen Gesellschaft“. Angemessen? | |
| ## Grund ist nicht die mangelnde Disziplin | |
| Ja, sagt Schlafforscherin Christine Blume von der Universität Basel. | |
| Allerdings hätten nur etwa 6 bis 10 Prozent der schlecht Schlafenden auch | |
| eine Insomnie, eine ausgewachsene Ein- oder Durchschlafstörung. Dafür | |
| müssen die Probleme über einen langen Zeitraum mindestens dreimal die Woche | |
| auftreten. | |
| Ein großer Teil der Bevölkerung, so Blume, schlafe aus mehr oder weniger | |
| „freien Stücken“ nicht genug, sie gingen einfach zu spät ins Bett. Das ha… | |
| weniger mit mangelnder Disziplin als mit Veranlagung zu tun. „Die meisten | |
| von uns präferieren eine Zubettgehzeit zwischen 23 Uhr und 1 Uhr. Davor | |
| fällt das Einschlafen oft schwer“, sagt Blume. | |
| Dazu kommen soziale Aktivitäten, die oft bis spät in den Abend reichen. Und | |
| dann müssen die Kinder um 8 Uhr in der Schule sein, brauchen vorher noch | |
| ein Frühstück, danach Pendeln zur Arbeit. Also ist man um 6 Uhr | |
| gezwungenermaßen wieder wach. | |
| ## Blaues Licht durch digitalen Konsum | |
| Laut DAK haben sich die Schlafstörungen bei Erwerbstätigen seit 2010 | |
| signifikant verschlimmert. Blume sieht als Gründe unter anderem die | |
| ständige Erreichbarkeit am Smartphone, Soziale Netzwerke sowie | |
| Streaming-Anbieter, die so designt sind, dass man nur schwer loskommt. | |
| Diese Mediennutzung erhöht den [3][künstlichen Lichtkonsum] am Abend. Dazu | |
| kommen Corona, [4][Klima], Krieg, also gesundheitliche und finanzielle | |
| Sorgen. | |
| Aber Blume hält auch zumindest eine positive Entwicklung für | |
| wahrscheinlich, die sich auf künftige Zahlen auswirken könnte. Besonders | |
| seit der Pandemie würden wir offener kommunizieren, wenn es uns nicht gut | |
| gehe. „Wir sind in dieser Zeit ein wenig von der | |
| Reiß-dich-mal-zusammen-Mentalität weggekommen, weil die Situation für uns | |
| alle einfach schwierig war.“ Und wenn sich Menschen ernst genommen fühlten, | |
| gingen sie eher mal zum Arzt. | |
| Empfohlene Behandlungsform bei Insomnie, so steht es in der medizinischen | |
| Leitlinie, ist eine sogenannte kognitive Verhaltenstherapie. In acht | |
| Sitzungen wird bei den Ursachen angesetzt und Verhaltensmuster abtrainiert. | |
| „Die Patient:innen sollen das Gefühl zurückerlangen, ihre | |
| Schlafsituation selbst in der Hand zu haben.“ Dafür lernen sie, mit | |
| Entspannungsübungen zur Ruhe zu kommen und falsche Überzeugungen abzulegen. | |
| Beispielsweise, dass mehr Zeit im Bett mehr Schlaf bedeute. Oder man es | |
| nach einer schlechten Nacht früher mit dem Einschlafen versuchen sollte. | |
| ## Therapie gegen die Angst | |
| Das Bett sei für viele ein Ort, an dem man vergeblich auf den Schlaf warte. | |
| Vor dem man sich schon am Vormittag wieder fürchtet. Insbesondere dieser | |
| Angst werde in der Therapie begegnet. Mittlerweile gebe es auch digitale | |
| Angebote, also Therapie-Apps, die man sich verschreiben lassen kann – unter | |
| anderem, um die Zeit bis zum Therapieplatz zu überbrücken. Und damit wären | |
| wir beim Problem. | |
| Leidensgeschichten wie die von Stephan König sind auch deshalb so häufig, | |
| weil die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland unzureichend ist. | |
| Dazu kommt, dass viele Betroffene bei Hausärzt:innen um eine schnelle | |
| Lösung bitten und manche Mediziner:innen die Verhaltenstherapie | |
| schlicht nicht auf dem Schirm haben. „Wenn Schlafprobleme in einer akut | |
| stressbehafteten Lebenssituation auftreten, können Medikamente schon auch | |
| hilfreich sein“, sagt Blume. „Die Gefahr der Abhängigkeit ist bei | |
| längerfristiger Einnahme aber nicht zu unterschätzen“. | |
| Bei Stephan König äußert sich der mangelnde Schlaf mittlerweile auch | |
| gesundheitlich. Tagsüber fühle er sich, als hätte er am Abend zuvor zwei | |
| Flaschen Rotwein getrunken. König hat Bluthochdruck und damit ein erhöhtes | |
| Herzinfarktrisiko, extreme Konzentrationsprobleme und immer wieder auch | |
| depressive Schübe. Schlafmangel kann über einen langen Zeitraum außerdem zu | |
| Stoffwechselerkrankungen führen, Adipositas oder Demenz. Fast noch | |
| schlimmer als die körperlichen Folgen sei, sich niemandem so richtig | |
| anvertrauen zu können, sagt er. Selbst im engsten Freundeskreis würden | |
| Schlafprobleme bagatellisiert. | |
| ## Auswirkungen auf alles Zwischenmenschliche | |
| Die Gründe fürs Nichtschlafenkönnen sind individuell, manche geläufiger als | |
| andere. Da ist zum Beispiel Sandra Frings*, zweifache Mutter, die seit | |
| ihrer ersten Schwangerschaft vor zwölf Jahren keinen so richtig erholsamen | |
| Schlaf hat. Los ging es ein paar Wochen vor der Geburt, dann war das Kind | |
| da und schlief die ersten vier Jahre nicht durch. | |
| Eine Zeit lang hatte es Atemaussetzer wegen vergrößerter Mandeln, Frings | |
| machte in dieser Phase kaum ein Auge zu. Als die Mandeln raus waren und das | |
| Kind irgendwann durchschläft, wird sie wieder schwanger. Mittlerweile ist | |
| sie 46, das Erstgeborene fast ein Teenie, doch sie ist immer noch | |
| unausgeschlafen. | |
| „Am schlimmsten ist diese Gereiztheit, das Gefühl, meine Kinder kriegen | |
| nicht die beste Version von mir“, sagt sie. Ihr Gehirn arbeite gefühlt nie | |
| auf 100 Prozent, generell sei sie viel negativer eingestellt als früher. | |
| Unausgeschlafenen Menschen falle es schwerer, das große Ganze zu sehen, | |
| sagt Christine Blume. | |
| Zweifellos habe Schlafmangel Auswirkungen auf alles Zwischenmenschliche, | |
| die Ressourcen für die Selbstkontrolle schwinden. [5][Forschende aus den | |
| USA fanden kürzlich heraus, dass die Hilfsbereitschaft sinkt]. Außerdem | |
| treffen Menschen, die zu wenig schlafen, impulsivere Entscheidungen. „Nach | |
| dem Motto: ‚Hab ich jetzt keinen Nerv dafür!‘“ | |
| ## Menschen sind nicht für Nachtschichten gemacht | |
| Anja Singer* kennt das aus ihrem Arbeitsalltag, in dem es immerzu Geduld, | |
| Gelassenheit und Aufmerksamkeit braucht. In dem sie außerdem Verantwortung | |
| für oft wechselnde, ungelernte Hilfskräfte hat. Die 28-Jährige ist | |
| Heilerziehungspflegerin in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Im | |
| dritten Lehrjahr begannen die Bereitschaftsnächte und mit ihnen die | |
| Schlafstörungen. | |
| „Man hat Dienstschluss um 22 Uhr, übernachtet dann in der Arbeit, fängt | |
| regulär um 6 Uhr wieder an, und wenn in der Zwischenzeit was passiert, muss | |
| man halt raus.“ Als sie sich Kolleg:innen anvertraut, die schon länger | |
| im Job sind, hört sie nur, sie solle sich nicht so anstellen, das gehöre | |
| halt dazu. | |
| „Für Nachtschichten ist der Mensch nicht gemacht“, sagt Blume. Es gebe zwar | |
| Hilfsmittel wie besondere Brillen, mit denen man auf dem Weg nach Hause das | |
| wachmachende Blaulicht rausfiltern kann, um im Anschluss besser | |
| einzuschlafen. Aber generell müsse man bei Problemen versuchen, einen Weg | |
| raus zu finden. | |
| ## Hoffnung auf mehr als nur ein Rezept | |
| Singer hat für sich ausgehandelt, keine Nachtbereitschaften mehr zu machen | |
| und Nachtschichten auch nur, wenn sie davor und danach frei hat. Sie ist in | |
| einer guten Position, man kann in ihrer Einrichtung nicht auf sie | |
| verzichten. Langfristig möchte sie aber einen Job mit Regelzeiten ausüben, | |
| vielleicht als Schulbegleitung oder Erzieherin in einem integrativen | |
| Kindergarten. In der Hoffnung, dass es dann besser wird. | |
| Stephan König sagt, er sei in all den Jahren nicht ein einziges Mal nach | |
| einer möglichen Ursache für seine Schlafprobleme gefragt worden. Und dann | |
| habe er sich gedacht, dass das wohl auch keine Rolle spielt. Demnächst hat | |
| er einen Termin in einer interdisziplinären Klinik in Essen. Und hofft, | |
| dass nicht einfach nur ein neues Rezept dabei rumkommt. | |
| *Namen von der Redaktion geändert | |
| 17 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://norvio.de/muedes-deutschland-schlafstoerungen-steigen-deutlich-an/ | |
| [2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181205/umfrage/haeufigkeit-v… | |
| [3] /Smartphones-und-Schlafstoerungen/!5629672 | |
| [4] /Studie-zu-Hitze-und-Gesundheit/!5859130 | |
| [5] https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371%2Fjournal.pbio.300… | |
| ## AUTOREN | |
| Leonie Gubela | |
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