# taz.de -- Regierungsbildung in Italien: Vorwärts in die Vergangenheit | |
> Bei ihrer Kabinettsbildung tut Italiens Ministerpräsidentin Giorgia | |
> Meloni alles, um die postfaschistischen Kräfte ihrer Koalition | |
> herunterzuspielen. | |
Bild: Hoher Altersdurchschnitt, niedrige Frauenquote: Italiens neues Kabinett | |
ROM taz | Italiens Rechtsregierung steht: Am Samstag trat die neue | |
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zusammen mit ihrem Kabinett bei | |
[1][Staatspräsident Sergio Mattarella zur Ableistung des Amtseids an], am | |
Sonntag übergab der scheidende Regierungschef Mario Draghi ihr offiziell | |
die Amtsgeschäfte. | |
Herzlich war die Atmosphäre bei beiden Terminen, so als sei hier alles | |
demokratische Routine, in der Regierungen kommen und gehen, in der Wahlen | |
natürlich auch zu Machtwechseln führen. Die letzte Wahl vom 25. September | |
hatte die Rechtsallianz aus Melonis postfaschistischer Fratelli d’Italia | |
(FdI – Brüder Italiens), aus Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis | |
Forza Italia klar für sich entschieden; vor allem Meloni konnte sich | |
angesichts der 26 Prozent für ihre FdI über einen wahren Triumph freuen. | |
Doch ist es tatsächlich demokratische Routine, wenn jetzt [2][eine von | |
rechtspopulistischen Kräften dominierte, von einer postfaschistischen | |
Partei angeführte Koalition] in Rom an die Schalthebel der Macht gelangt? | |
Immerhin handelt es sich hier um einen Präzedenzfall, wie ihn ganz | |
Westeuropa seit 1945 bisher nicht erlebt hat. | |
Bei ihrer Kabinettsbildung jedenfalls tat Giorgia Meloni alles, um den | |
postfaschistischen Charakter ihrer Koalition herunterzuspielen und um | |
demokratische Normalität zu signalisieren. Dies alles mit dem Ziel, die | |
europäischen Partner und die Finanzmärkte vorneweg zu beruhigen. Zwar | |
scheiterte sie mit ihrem ursprünglichen Plan, Schlüsselressorts wie | |
Äußeres, Inneres, Finanzen und Justiz mit parteilosen Technokraten ohne | |
großen Rechtsschlag zu besetzen – fast durch die Bank lehnten die | |
Wunschkandidaten dankend ab. | |
## Keine verstörenden Signale ans Ausland gesendet | |
Deshalb sitzen jetzt doch Leute aus den drei Koalitionsparteien in fast | |
allen Ministerien, worüber diverse Kommentator*innen in Rom lästern, | |
denn so hatten 11 der 24 Minister*innen schon Silvio Berlusconis | |
letzter Regierung in den Jahren 2008 bis 2011 angehört. Zudem ist der | |
Altersdurchschnitt hoch und der Frauenanteil mit gerade einmal 25 Prozent | |
äußerst niedrig. | |
Dennoch ist es Meloni gelungen, keine verstörenden Signale ans Ausland zu | |
senden. So stammt der neue Außenminister Antonio Tajani zwar aus der Partei | |
des bekennenden Putin-Freunds Berlusconi, doch hat Tajani seit seiner Wahl | |
ins Europäische Parlament im Jahr 1994 seine ganze Karriere auf der | |
europäischen Bühne absolviert, war von 2008 bis 2014 EU-Kommissar, dann von | |
2017 bis 2019 Präsident des Europäischen Parlaments, tritt als überzeugte | |
Europäer und als fester Verbündeter der Ukraine auf. | |
Und auch Finanzminister Giancarlo Giorgetti kommt zwar aus Salvinis Lega, | |
gilt dort aber als heimlicher Anführer der „Gemäßigten“, als Mann der | |
leisen Töne und des Dialogs, der sich rühmt, mit Draghi ein | |
freundschaftliches Verhältnis zu pflegen, kurz: als einer, der bei den | |
Brüsseler Beratungen des Rates für Wirtschaft und Finanzen Ecofin kein | |
Porzellan zerschlagen wird. | |
Gleiches gilt für den neuen Verteidigungsminister Guido Crosetto und den | |
Europaminister Raffaele Fitto. Beide stammen zwar aus Melonis FdI, haben | |
aber keine faschistische, sondern eine christdemokratische Vergangenheit. | |
## Zweites Ziel der 45-jährigen Postfaschistin | |
Schließlich wäre da noch der Innenminister, nicht zuletzt zuständig für | |
Migrationspolitik. Lega-Chef Salvini wollte dieses Amt, das er schon in den | |
Jahren 2018/2019 für seine Politik der „geschlossenen Häfen“, mit | |
[3][propagandistisch inszenierten Schikanen gegen Flüchtlinge und gegen die | |
in der Seenotrettung aktiven NGOs] genutzt hatte. Doch Salvini scheiterte | |
an Melonis Veto; sie gab das Amt einem Technokraten, dem bisherigen | |
Präfekten Roms, Matteo Piantedosi. | |
Gleich mehrfach ausgebremst muss sich auch Berlusconi fühlen. Der alternde | |
Forza-Italia-Chef wollte sowohl das Justiz- als auch das Wirtschaftsressort | |
für seine Partei. Schließlich läuft immer noch ein Prozess wegen Bestechung | |
in einem Justizverfahren gegen ihn, weil er das Stillschweigen junger | |
Frauen in den Verfahren um seine Bunga-Bunga-Partys mit hohen Geldsummen | |
erkauft haben soll. Und schließlich droht ihm deshalb bei einer | |
Verurteilung die erneute Schmach des Verlusts seines Mandats als Senator, | |
wie es ihm schon 2013 widerfahren war. Ein befreundeter Justizminister, der | |
an den einschlägigen Gesetzen dreht, wäre da gerade recht gekommen – doch | |
dank Melonis Njet wurde daraus nichts, ebenso wenig wie aus dem Versuch, | |
das Wirtschaftsministerium zu ergattern, in dessen Zuständigkeit auch die | |
Medien – und damit das Kerngeschäft des TV-Moguls Berlusconi – fallen. | |
Den offenen Konfrontationskurs in Europa vermeiden, außerdem der | |
Parallel-Agenda von Salvini oder Berlusconi samt Negativschlagzeilen den | |
Riegel vorschieben: Das ist erkennbar das eine Ziel, das Meloni bei der | |
Regierungsbildung verfolgte. Doch zur Koalition des bloßen Weiter-so wird | |
ihre Allianz darüber nicht. Ein zweites Ziel hatte die 45-jährige | |
Postfaschistin ebenso klar im Auge: Die versprochene rechtsreaktionäre | |
Wende soll keineswegs ausfallen. | |
Für diese Wende steht vorneweg die neue Ministerin für „Familie, Geburten | |
und Gleichstellung“, Eugenia Roccella. Die stramm konservative Katholikin | |
kämpft seit Jahren unermüdlich gegen eingetragene Lebenspartnerschaften und | |
will nur die „traditionelle Familie“ gelten lassen, sie streitet gegen | |
„Gender-Indoktrination“ an den Schulen und ist überzeugte | |
Abtreibungsgegnerin. Die Pro-Life-Verbände jubeln, die LGBTIQ-Vereinigungen | |
sind entsetzt. | |
Giorgia Meloni, die sich selbst immer wieder als „Patriotin“ bezeichnet und | |
deren Leitmotto „Gott, Vaterland, Familie“ ist, wird sich selbst also kaum | |
untreu werden. Vorwärts in die Vergangenheit, ohne dabei international | |
allzu sehr aufzufallen – dies ist und bleibt ihr Plan. | |
23 Oct 2022 | |
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Michael Braun | |
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