# taz.de -- Italienischer Autor über Meloni: „Die Wurzeln des Faschismus wir… | |
> Vor 100 Jahren übernahm Mussolini in Italien die Macht. Trotz Parallelen: | |
> sein Faschismus komme mit Giorgia Meloni nicht zurück, sagt Antonio | |
> Scurati. | |
Bild: Am 28. Oktober 1922 machten sich Mussolinis faschistische Horden auf den … | |
taz: Herr Scurati, gerade ist die Postfaschistin Giorgia Meloni als Chefin | |
eines rechten Parteienbündnisses Italiens Ministerpräsidentin geworden – | |
nur wenige Tage vor dem 100. Jahrestag von Mussolinis Marsch auf Rom am 28. | |
Oktober. Doch so gut wie niemand findet dieses Zusammentreffen der | |
Erwähnung wert. Zu Recht? | |
Antonio Scurati: Gerade weil ich mich intensiv mit dem Faschismus | |
beschäftigt habe, gehöre ich nicht zu denen, die meinen, dieses | |
Zusammenfallen der Daten stünde dafür, dass jetzt der Faschismus | |
zurückkehrt. Ich denke, dass denjenigen, die der Idee einer | |
liberal-westlichen Idee anhängen, etwas anderes Sorge bereiten muss: dass | |
in Italien, in Europa Kräfte auf dem Vormarsch sind, die sich durch einen | |
„souveränistischen“ Populismus auszeichnen. Und es ist schon erstaunlich, | |
dass seit dem Tag nach der Wahl jedwede Sorge über diese Kräfte aus dem | |
Gros der Medien verschwunden scheint. Anders gesagt: Wir haben ein Problem, | |
aber das besteht nicht in einer Rückkehr zu dem Faschismus, der vor 100 | |
Jahren an die Macht gelangte. | |
Einige ausländische Medien haben Giorgia Meloni ja als Neofaschistin | |
bezeichnet. Das halten Sie für verfehlt? | |
Das stimmt technisch einfach nicht, wir haben es bei ihren Fratelli | |
d’Italia (FdI) nicht mit einer neofaschistischen Partei zu tun. Gewiss, | |
viele der Spitzenvertreter, beginnend bei Meloni selbst, haben [1][ihre | |
politische Laufbahn in einer neofaschistischen Partei, im Movimento Sociale | |
Italiano], begonnen. Doch mit dem Etikett „Faschisten“ macht man es sich zu | |
einfach, und das ist kontraproduktiv, mit dem Risiko, die realen | |
Entwicklungen zur Karikatur zu verzerren. | |
Wie stehen die Dinge also wirklich? | |
Wie gesagt, waren viele der heutigen Anführer von Fratelli d’Italia in | |
ihrer Jugend in einer neofaschistischen Partei aktiv. Das wirft sowohl eine | |
moralische als auch eine politische Frage auf. Ich halte die in der Partei | |
oft gepflegte Faschismusnostalgie für unmoralisch – auch wenn eine | |
relative Mehrheit der italienischen Wähler das nicht so sieht, wie die | |
letzten Wahlen gezeigt haben. Die politische Problematik dagegen besteht | |
darin, dass die Spitzen von FdI einen offen reaktionären Konservatismus | |
pflegen, weil sie aus einer politischen Kultur stammen, die mit dem | |
liberalen Konservatismus nichts zu tun hat. Insofern wirken die Wurzeln des | |
Faschismus fort. | |
Reaktionär ja, [2][faschistisch nein]? Wo verläuft für Sie die Trennlinie? | |
Der historische Faschismus ist durch den systematischen Einsatz der Gewalt | |
gekennzeichnet. Gewalt ist für ihn originär und essenziell, vom Anfang vor | |
100 Jahren bis zu seinem Ende. Gewalt: Das hieß auch Mord, einzelne | |
Mordtaten, aber auch Massenmord. Und die Parteimitglieder wurden darüber zu | |
Mitgliedern einer paramilitärischen Miliz. Doch zugleich dürfen wir nicht | |
vergessen, dass der Faschismus Italien nicht einfach vergewaltigt, sondern | |
es auch verführt. Über diese Seite nachzudenken, heißt auch über das Erbe | |
nachzudenken, das er heute noch hinterlässt. Doch die Gewaltfrage macht den | |
Unterschied zwischen heute und gestern aus. Die heutigen | |
rechtspopulistischen Bewegungen bewegen sich völlig innerhalb der | |
demokratischen Spielregeln. | |
Mit Mussolini haben die heutigen Populisten in Europa, hat FdI in Italien | |
aber doch auch gemein, dass sie das Volk im Kampf gegen die „Eliten“ sehen. | |
Sicher. Mussolini war der erste große Populist, er war geradezu der | |
Archetyp des Populisten. Das erste Axiom des populistischen Anführers | |
besteht in dem doppelten Satz: „Ich bin das Volk, das Volk bin ich.“ Diese | |
extreme Personalisierung, die Stilisierung des Anführers als Inkarnation | |
des Volks findet sich immer wieder in populistischen Bewegungen. Wer immer | |
sich in dieser Gleichung Führer = Volk nicht wiederfindet, wird schnell als | |
Feind des Volks gebrandmarkt. Daneben wird diese Gleichung polemisch gegen | |
die traditionellen Eliten gewendet. | |
Mussolini selbst prägte den Begriff „Antipolitik“, um seine Polemik gegen | |
die politische Elite zu unterstreichen. Und er sprach von seinen „Fasci di | |
combattimento“, seinen „Kampfbünden“ als Bewegung, als „Antipartei“.… | |
aus dieser Position heraus polemisierte er äußerst heftig sowohl gegen die | |
Demokratie als auch gegen den Parlamentarismus. Diese polemische Haltung | |
gegen den Parlamentarismus finden wir auch heute noch bei den Populisten – | |
nicht aber die Polemik gegen die Demokratie, die nicht abgeschafft, sondern | |
autoritär umgebaut werden soll. | |
Von Italiens Wirtschaftseliten zumindest wurde Mussolinis Bewegung aber | |
doch tatkräftig unterstützt. | |
In der Frühphase 1919/20 gab es diese Unterstützung nicht. Doch dann | |
entdecken zunächst die Großgrundbesitzer, dann die Industriellen Mussolini, | |
der mit seiner brachialen Gewalt als probates Mittel gegen die Linke, gegen | |
Sozialisten und Gewerkschaften erschien. Zugleich hingen sie der irrigen | |
Hoffnung an, anschließend Mussolini domestizieren zu können – machten dann | |
nach dem Marsch auf Rom allerdings schnell ihren Frieden mit dem Machthaber | |
Mussolini. | |
Dieser Marsch auf Rom erscheint ja in vieler Hinsicht als Farce. Mussolini | |
ist gar nicht dabei, er bleibt in Mailand, und die mit der Leitung des | |
Marschs betrauten „Quadrumviro“ sitzen in Perugia, während ihre | |
Kommunikation sowohl mit den faschistischen Truppen als auch mit Mussolini | |
immer wieder zusammenbricht. | |
Der Marsch auf Rom hatte zwar Züge einer Farce, aber aufgepasst! Sich | |
darauf zu fixieren, kann zu einem großen Missverständnis führen. Da ist man | |
dann schnell auf dem Gleis, den Faschismus zur komischen Nummer und | |
Mussolini zu einer lächerlichen Figur zu machen. Das ist völlig abwegig. | |
Der Faschismus war eine politische Tragödie, nicht eine Komödie. Der Marsch | |
auf Rom selbst ist das Emblem eines Staatsstreichs, der dank der von den | |
Faschisten in breitem Maßstab ausgeübten, offen subversiven Gewalt mit | |
ihren Hunderten Toten und Tausenden Verletzten schleichend schon seit einem | |
Jahr im Gange war. | |
Und dieser Staatsstreich war ein Doppelspiel. Mussolini kommt ja ganz legal | |
an die Macht, vom König zum Ministerpräsidenten ernannt. Aber das passiert, | |
während seine Zehntausende zählenden faschistischen und gewaltbereiten | |
Truppen vor den Toren Roms stehen. Und am Ende reist der kommende Diktator | |
Mussolini im Schlafwagen an, um die Macht in Rom zu übernehmen. | |
Die neue [3][Ministerpräsidentin Meloni erklärte, ihre Partei habe „den | |
Faschismus der Geschichte überantwortet“], ihr Parteifreund und | |
Senatspräsident Ignazio La Russa dagegen meint, die Italiener seien „alle | |
Erben des Duce“. Wer von ihnen hat recht? | |
Beide, und ich füge hinzu: leider. Wie gesagt, glaube ich nicht an eine | |
Wiederkehr des Faschismus, das lenkt uns übrigens auch nur von den wahren | |
Gefahren für die Demokratie ab – wohlgemerkt Gefahren nicht für die | |
Demokratie selbst, sondern für ihre Qualität. Natürlich wurde der | |
Faschismus „der Geschichte überantwortet“, allerdings durch die Geschichte | |
selbst. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass er auch dem Bewusstsein | |
überantwortet worden wäre. | |
Gerade mit den letzten Wahlen haben die Italiener die vorerst letzte | |
Gelegenheit verpasst, sich der faschistischen Vergangenheit ihres Landes zu | |
stellen; stattdessen wurde dieses Thema einfach weggewischt. Und ebenso | |
wenig gibt es eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass das Gros der | |
Italiener auf der Seite des Faschismus stand. La Russa findet das | |
wahrscheinlich positiv, ich dagegen sehe hier ein negatives und | |
unbewältigtes Erbe. | |
28 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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