# taz.de -- Rechte Jugendliche in Ostdeutschland: Hakenkreuze auf Schulbänken | |
> Eine Berliner Schulklasse musste wegen rassistischer Bedrohungen aus | |
> einem Camp an einem Brandenburger See fliehen. Wiederholen sich die 90er | |
> Jahre? | |
Bild: 9. Mai in Cottbus: Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen demonstrieren … | |
Dass die 90er Jahre nicht zurück sein können, sieht man auf Spiegel Online. | |
Da steht ein [1][Interview mit Anne Brüggemann], der Leiterin der | |
Brandenburger Beratungsstelle für Opfer von rassistischer, antisemitischer, | |
gemeinhin rechter Gewalt. Aber es ist verplust, also nur für die Menschen | |
lesbar, die dafür zahlen. Bei Spiegel Online glauben sie also, das | |
verkaufen zu können, was eine Frau sagt, die sich um die Opfer von Nazis | |
kümmert. Das wäre ihnen in den 90ern nicht passiert. Da galten Ostlinke, | |
die über Nazis redeten, als fusselige Panikmacher:innen, die die taz und | |
Frankfurter Rundschau zu verarzten hatten. | |
Anne Brüggemann wird vom Spiegel-Kollegen gefragt, ob sie überrascht sei, | |
dass [2][eine Berliner Schulklasse aus einem Camp an einem Brandenburger | |
See floh], weil die einheimischen Gäste einer Geburtstagsfeier die | |
Schüler:innen rassistisch beleidigten und bedrohten. Und ob eben die | |
1990er Jahre zurück seien, jene Zeit, in der Berliner Schulklassen in | |
Ostdeutschland immer wieder angegriffen wurden, jene Zeit, in der Banden | |
von Nazis Straßen, Dorffeste, Parks und Kneipen in vielen Teilen | |
Ostdeutschlands terrorisierten und Schwarze Menschen, Obdachlose, | |
Geflüchtete, Punks ermordeten. Manchmal, wie in jener Sommernacht 1994, in | |
der Skinheads [3][den Kraftfahrer Gunter Marx mit einem | |
Radmutternschlüssel] erschlugen, brauchten sie auch nur Geld für die Disko. | |
Vor einem Rückfall in diese Zeit warnte in dieser Woche jedenfalls der | |
Vorsitzende der CDU-Fraktion im Brandenburger Landtag. Ja, niemand von den | |
Linken oder den Grünen, sondern von der CDU. Die 90er können also wirklich | |
nicht zurück sein. Die Flucht der Berliner Schüler:innen hätte für so | |
eine Warnung vielleicht nicht gereicht, aber es passiert gerade viel in | |
Brandenburg, in Ostdeutschland: Lehrer:innen einer Schule in Burg im | |
Spreewald schrieben einen öffentlich gewordenen Brief über [4][Hitlergrüße | |
auf dem Schulflur, rechtsextreme Musik im Unterrich]t, Hakenkreuze auf | |
Schulbänken. | |
Und: An einer Schule in Bautzen, Sachsen, backt ein Mitglied der | |
rechtsextremen AfD-Jugendorganisation Junge Alternative Buchteln und | |
Gemüsechips mit den Kindern, ein Ganztagsangebot. Und: In [5][Brandenburgs | |
Hauptstadt Potsdam] haben Jugendliche seit dem vergangenen Sommer | |
mindestens drei Mal Student:innen rassistisch beleidigt und angegriffen. | |
Und: So weiter und so fort. | |
## Die 90er wirken bis heute nach | |
Was die 90er von heute unterscheidet, ist vor allem die Öffentlichkeit für | |
solche Taten. Sie ist größer oder überhaupt da, oft erzwungen durch soziale | |
Medien, in denen Menschen auch das zeigen, was die Journalist:innen der | |
auflagenstarken Regionalzeitungen Ostdeutschlands in den 90er Jahren häufig | |
nicht berichteten. Das Level der Ereignisse, das die beiden Lehrer:innen | |
an der Brandenburger Schule aufmerken ließ, liegt unter dem, was an vielen | |
Schulen damals schlicht normal war. Die Wahrnehmung hat sich verändert. | |
Auch weil es nicht mehr so viele exzessive Taten in so kurzer Zeit gibt wie | |
damals. | |
Aber die 90er sind auch mehr als eine Erinnerung. Sie wirken bis heute. | |
In einer Reportage in der Zeit über die Schule in Burg spricht die | |
Schulleiterin über die Clique, von der sich linke Schüler:innen | |
terrorisiert sehen. Sie sagt: „Diese Jungs sind Teenager, sie sind in der | |
neunten Klasse und suchen ihren Platz. Sie wollen sich ausprobieren.“ | |
[6][Die Direktorin wirft den Lehrer:innen], die den Brief über | |
Hitlergrüße und Rassismus an der Schule geschrieben haben, vor, dass die | |
sich nicht an sie gewendet haben. Wer das Problem benennt, ist ein | |
Störenfried. Die Rechten sind unsere Jungs. Das ist das Reden der 90er. | |
Die Generation der Männer, die in den 90ern Jugendliche waren, ist heute | |
eine wichtige Trägergeneration von Organisationen wie der AfD, den Freien | |
Sachsen und von rassistisch motivierten Protesten gegen Geflüchtete 2015 | |
und später. In den 90er Jahren haben Jugendliche die Erfahrung gemacht, | |
dass die Polizei vor ihnen zurückgewichen ist und weggesehen hat, wenn sie | |
Migrant:innen und Linke angegriffen haben, und dass auch die Politik vor | |
ihnen zurückwich und die Asylgesetze drastisch verschärfte. | |
Im Jahr 2015, in dem Jahr, als viele Menschen aus Syrien nach Deutschland | |
kamen, stiegen die nach den 90ern zurückgegangenen Zahlen rassistisch | |
motivierter Taten wieder stark an. Und die Polizei wich 2015 wieder an | |
vielen Orten vor rassistischem Protest zurück, Politiker:innen | |
verschärften die Asylgesetze erneut. Die Erfahrungen der Rechten aus den | |
90ern bestätigen sich. Ihre Kinder sehen, dass wahr ist, was ihre Eltern | |
erzählen: Sie können sich erlauben, so zu sein. | |
2022 zählte die Opferperspektive 138 rechte Übergriffe in Brandenburg, und | |
die trafen mehr als 240 Menschen. Manchmal attackieren Eltern und Kinder | |
Menschen, die ihnen nicht passen, gemeinsam. Die Brandenburger Jugendstudie | |
und die Autoritarismusstudie aus Leipzig zeigen, dass rechtsextreme | |
Einstellungen bei vielen Jungen in Ostdeutschland nicht verschwinden, | |
sondern wachsen. Die brandenburgische Schriftstellerin Manja Präkels, | |
Autorin des 90er-Romans „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“, sagt, sie | |
sieht bei ihren Lesereisen, bei ihrer Arbeit an Schulen, dass eine Form von | |
rassistischer Härte und Mitleidlosigkeit von den Eltern an die Kinder | |
weitergegeben wird. | |
## Eine weiße Erzählung | |
Was den 90ern heute ähnelt, sagt der Magdeburger Rechtsextremismusexperte | |
David Begrich, ist das, was in Ostdeutschland öffentlich diskutiert wird. | |
Wer bekommt was? Verteilungskämpfe, die in Sozialdarwinismus umschlagen. | |
Wer darf sprechen? Kämpfe um Repräsentation. Und die werden wieder mit | |
Gewalt geführt. Aber eben nicht mit der gleichen Brutalität in der gleichen | |
Frequenz wie damals, vielleicht, weil Menschen mit faschistischen Haltungen | |
es nicht müssen. Es gibt eine normalisierte Partei, die rechtsextreme | |
Positionen vertritt. Mit ihrem Wählerpotenzial von 30 Prozent strahlt die | |
AfD in Ostdeutschland weit aus. Mit ihr und ihrem Umfeld müssen | |
Bürgermeister:innen rechnen, die ein Heim für Geflüchtete in ihrem Ort | |
haben, aber ebenso Theater, die ein Stück aufführen, das Rassist:innen | |
nicht passt. | |
Dass die 90er eine Zeit wären, die irgendwann mal abgeschlossen gewesen | |
sei, das sei ohnehin eine Erzählung weißer Menschen, sagt Katharina Warda, | |
eine Schwarze Soziologin und Autorin, die unter anderem zu | |
Rechtsextremismus und migrantischem Widerstand in Ostdeutschland forscht. | |
Ja, auch Migras und Post-Migras hätten einen Unterschied zwischen den 90ern | |
und der Zeit danach gemerkt, aber es habe eben auch immer tödliche Taten | |
gegeben. Und eine Sache sei gleich geblieben, sagt sie: Wenn über | |
rassistische oder gegen Linke gerichtete Gewalt geredet wird, dann stehen | |
auch heute zu selten die im Mittelpunkt des öffentlichen Redens, die diese | |
Gewalt trifft. | |
12 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/angriff-auf-schueler-in-brandenburg-… | |
[2] /Rechte-Bedrohungen-gegen-Schulklasse/!5930187 | |
[3] https://todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de/gunter-marx/ | |
[4] /Rechte-Vorfaelle-an-Brandenburgs-Schulen/!5930479 | |
[5] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2023/04/gewalt-uni-campus-golm-brande… | |
[6] https://www.zeit.de/arbeit/2023-04/rechtsextremismus-schule-brandenburg-sch… | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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