# taz.de -- Rechtsextremismus in Ostdeutschland: Die Jungen radikalisieren sich | |
> Der Rechtsextremismus im Osten wächst, vor allem ist es die jüngere | |
> Generation, die sich laut einer Studie radikalisiert. Das hat viele | |
> Gründe. | |
Bild: Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016 kam die AfD bei Wählern unte… | |
Es gibt Dinge, die man lieber nicht hören möchte. Wahrheiten, von denen man | |
sich wünschte, sie wären nur Klischees. Die Ergebnisse [1][der jüngst | |
veröffentlichten Autoritarismus-Studie] sind so eine Wahrheit, die ein | |
mittlerweile verpöntes Klischee zu bestätigen scheinen. Der Osten ist | |
rechter als der Westen. | |
Wobei es nun vor allem die Jungen sind, die sich zunehmend radikalisieren, | |
die 14- bis 30-Jährigen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden. | |
Diejenigen, auf denen die Hoffnung lag, dass sie nicht mehr von den | |
autoritären Strukturen der Diktatur und den Härten der Transformation | |
geprägt wären. | |
Sie, so hatte man lange geglaubt, würden im vereinten Deutschland | |
aufwachsen, in einem Europa mit offenen Grenzen und all das wäre ihnen | |
selbstverständlich. So selbstverständlich, dass sie sich auch in ihrer | |
Weltanschauung kaum von ihren Altersgenossen im Westen unterscheiden | |
würden. Diese Annahme stellt sich nun als gefährlicher Irrtum heraus. Die | |
Zahlen der Untersuchung markieren die politischen Unterschiede im Land, um | |
die es kein Herumreden mehr geben kann. | |
Als die Sozialpsychologen Oliver Decker und Elmar Brähler Mitte November | |
die Ergebnisse der zehnten Leipziger Autoritarismus-Studie vorstellen, | |
herrscht zunächst Erleichterung. Die rechtsextremen Einstellungen im Land | |
sind insgesamt rückläufig, die Zustimmung zur Demokratie ist groß. Das | |
belegen die Befragungen der Langzeitstudie, die seit 2002 (bis 2016 | |
Mitte-Studien genannt) alle zwei Jahre durchgeführt werden. | |
So nimmt der Anteil der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen | |
Weltbild unter den gut 2.500 Befragten kontinuierlich ab. Während 2002 noch | |
fast jeder Zehnte ein solches Weltbild vertrat, hat sich der Anteil 2020 | |
auf 4,3 Prozent mehr als halbiert. Auch die Ausländerfeindlichkeit ist | |
stark zurückgegangen. 2002 hatte mehr als jeder Vierte der Befragten eine | |
manifeste ausländerfeindliche Einstellung. Dieses Jahr sind es noch 16,5 | |
Prozent, ein Rückgang von 10 Prozentpunkten. | |
Ein genauer Blick in die Zahlen zeigt jedoch, dass die Ergebnisse der | |
Forscher von der Universität Leipzig keinesfalls beruhigen können. Die | |
Werte von Ost- und Westdeutschland liegen oft so weit auseinander, dass | |
sich die Frage stellt, ob es überhaupt Sinn ergibt, diese in einem Graphen | |
zusammenzufassen. Während in Westen mit 1,8 Prozent der Befragten nur eine | |
verschwindend geringe Minderheit eine rechtsautoritäre Diktatur | |
befürwortet, sind es im Osten 8,8 Prozent (gesamt: 3,2 Prozent). Und es ist | |
nicht so, dass sich dieser Unterschied in den anderen Teilen der Befragung | |
relativieren würde. | |
## Alarmsignal für Ost und West | |
Tatsächlich sind die Antworten der Studienteilnehmer in Ostdeutschland | |
durchgängig rechter und demokratiefeindlicher als im Westen. So stimmen in | |
Ostdeutschland 43,9 Prozent der Teilnehmer der Aussage „Die Ausländer | |
kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ vollständig zu, | |
während es im Westen 24,5 Prozent sind. Und 29 Prozent der Befragten im | |
Osten glauben, Deutschland „brauche eine einzige starke Partei, die die | |
Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Im Westen ist die Zustimmung hier | |
mit 14 Prozent zwar auch erschreckend hoch, erreicht aber nicht einmal die | |
Hälfte des Werts aus dem Osten. | |
Ergänzt man die Zahl im Osten um diejenigen, die der Aussage latent | |
zustimmen, kommt man auf einen Zustimmungswert von 51,6 Prozent der | |
Befragten (West: 34,9 Prozent). Gut jeder Zweite im Osten also wäre | |
grundsätzlich bereit, eine solche autoritäre Einheitspartei zu wählen. | |
Diese Zahlen müssen ein Alarmsignal in Ost wie West sein. Zeigen sie doch | |
in beiden Teilen das Potenzial, auf das sich die aktuelle und gut | |
organisierte rechte Bewegung stützt. | |
Die Annahme der letzten Jahre, dass sich das rechte Problem irgendwann auf | |
natürlichem Weg auswachsen würde, gilt insbesondere für den Osten nicht. | |
15,6 Prozent der Befragten zwischen 14 und 30 Jahren, also mehr als jeder | |
sechste junge Ostdeutsche, sehnt sich nach einer rechtsautoritären Diktatur | |
(West: 2,2 Prozent). Diese Menschen bilden das Fundament für die Zukunft | |
der AfD. | |
Das zeigt auch ein Blick in die Wahlanalysen der letzten Jahre. So wurde | |
die AfD 2016 bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt nur deshalb | |
Zweite, weil die jüngeren Wähler im „Land der Frühaufsteher“ aufgrund von | |
demografischem Wandel und Abwanderung deutlich in der Minderheit sind. Bei | |
den Wählern unter 30 kam die AfD auf satte 29 Prozent, weit vor der CDU mit | |
18 Prozent. Ähnlich sah es bei den Landtagswahlen im letzten Jahr in | |
Thüringen, Sachsen und Brandenburg aus. | |
## „Generation Mauer“ wählt AfD | |
Auch die Eltern der Erst- und Zweitwähler, [2][die Vertreter der | |
sogenannten „Generation Mauer“], wählen mehrheitlich AfD. Angesichts der | |
Möglichkeiten, die diesen Generationen durch den Fall der Mauer | |
offenstanden, ein erschreckender Befund. Die Verfasser der Studie | |
bescheinigen dem Osten folglich „dringenden Handlungsbedarf in der | |
politischen Bildungsarbeit im Jungend- und Erwachsenenalter“. | |
Die These der Wissenschaftler, dass dies bei den Jüngeren auf Grund der | |
Geburt nach dem Ende der DDR kein Erbe der SED-Diktatur mehr sein könne, | |
ist jedoch fraglich. Die Transformationsgeschichte mit all ihren sozialen | |
und ökonomischen Härten hat die politische Landschaft des Ostens geprägt, | |
in der die Nachwendegenerationen aufgewachsen sind. Doch speist sich die | |
Skepsis gegenüber der bundesrepublikanischen Demokratie auch aus den | |
Diktaturerfahrungen der Elterngenerationen. | |
Die Nachwendekinder wurden größtenteils von Erwachsenen erzogen, die sich | |
vor 1989 mit dem System arrangiert und dieses gestützt hatten. War es bis | |
1989 noch Aufgabe der Lehrer, die Kinder zu sozialistischen | |
Persönlichkeiten zu erziehen, sollten sie nach der Wiedervereinigung die | |
Werte des vormaligen Klassenfeinds unterrichten. In dieser Schizophrenie | |
eine glaubwürdige Stabilität zu vermitteln, war ein Akt der Unmöglichkeit. | |
Dazu kommt das große Schweigen, [3][das Johannes Nichelmann in seinem Buch | |
„Nachwendekinder“ beschrieben hat] – über die Verbrechen der Diktatur, d… | |
bloß anekdotenhafte Erzählen scheinbar unpolitischer Alltagsgeschichten bis | |
hin zur Ostalgie, in welcher der Unrechtsstaat nachträglich zum Hort | |
sozialer Wärme und Sicherheit wird. Laut Nichelmann fühlen sich auch die | |
Nachwendekinder deshalb der DDR solidarisch zugehörig. | |
## Wagenburgmentalität im Osten | |
Gerade wenn es darum geht, die offensichtlichen Probleme mit | |
Rechtsradikalismus und antidemokratischen Tendenzen des Ostens zu benennen, | |
flüchten sie sich nicht selten in eine Wagenburgmentalität, welche die | |
Erzählungen der Eltern nicht kritisch hinterfragt, sondern sie bestätigt | |
und reproduziert. Infrage gestellt werden viel mehr die Demokratie und ihre | |
Institutionen, in denen immer irgendetwas nicht zu funktionieren scheint. | |
Diese Mentalität konnte nicht, wie erhofft, durch ökonomischen Erfolg und | |
die zunehmende Angleichung der Lebensverhältnisse gebrochen werden. | |
Was bedeutet dies für das Superwahljahr 2021? Auch wenn die AfD in Umfragen | |
im Vergleich zu den letzten Wahlergebnissen im Moment verliert, wurde auf | |
ihrem Bundesparteitag in Kalkar der Machtanspruch des | |
„sozial-nationalistischen“ Flügels einmal mehr sichtbar. Bestärkt wird das | |
durch einen Trend, der sich schon bei den letzten Europawahlen abzeichnete. | |
Höckes extremistischer Flügel hat die wirtschaftsliberalen AfD-Wähler der | |
Lucke-Ära auf Abstand gehen lassen, sodass die Partei in den westdeutschen | |
Länderparlamenten voraussichtlich um den Sprung über die Fünfprozenthürde | |
kämpfen muss. Im Osten hingegen hat gerade die nationalistische | |
Ausrichtung der AfD für kontinuierlichen Wählerzuwachs gesorgt. Hier wird | |
die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer rechtsextremen Spitzenleute | |
gewählt. | |
[4][Die Politik hat dieses Problem offenbar endlich erkannt] und | |
beschlossen, in den nächsten Jahren mehr Geld in den Kampf gegen | |
Extremismus und Rassismus zu stecken. Die Frage bleibt, ob das ausreichend | |
sein wird, wenn rechtsextreme Einstellungen von Generation zu Generation | |
weitergegeben werden und so auch besonders bei den jungen Wählern im Osten | |
fest verankert sind. Wenn also das Bild einer diktatorischen, rechten | |
Gesellschaft kein Schrecken, sondern viel mehr ein Sehnsuchtsraum ist. | |
9 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-11/studie-rechtsextremi… | |
[2] /Umkaempfte-Zone-von-Ines-Geipel/!5583141 | |
[3] /DDR-Aufarbeitung-in-Familien/!5635412 | |
[4] /Stiftung-zu-Massnahmen-gegen-rechts/!5727524 | |
## AUTOREN | |
Anne Rabe | |
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