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# taz.de -- Demokratische Werte im Osten: Letzte Ausfahrt Grundgesetz
> Wer in Ostdeutschland offen links und antirassistisch ist, muss vor allem
> die Demokratie verteidigen – denn die ist nicht Konsens.
Bild: Rassistische Parole an einem leerstehenden Haus in Loitz bei Greifswald, …
Ich bin in Ostdeutschland groß geworden. Als 78er Jahrgang mit Verbindungen
zur evangelischen Kirche habe ich mich seit meiner Jugend durchgehend
politisch engagiert, was dazu führte, dass ich mehrmals Opfer rechter
Gewalt und staatlicher Repression wurde. Was mich aber wirklich beängstigt,
[1][ist der rechte, menschenfeindliche und demokratiefeindliche Konsens
hier in Ostdeutschland].
Er durchdringt alle sozialen Schichten und wird als solcher gar nicht
wahrgenommen: [2][Es passiert nicht ab und zu, dass man auf rassistische
Ressentiments stößt, sondern diese herrschen vor] – fast immer, ohne dass
die Menschen selbst schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht hätten.
Was wiederum zeigt, dass rassistische Einstellungen keine konkreten, realen
Erfahrungen brauchen, um zu existieren.
Viele meiner jugendlichen idealistischen „Flausen“ lebe ich heute in einer
kleinen Blase in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Als Berliner, der
die Nachwendezeit erlebt und die hohen politischen Ideale der linken
Bewegungen quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat, stehe ich heute vor
einem Dilemma, das ich so nie erahnt hätte.
Als radikaler Linker freue ich mich, mittlerweile seit 2015, dass Merkel an
der Macht ist, und verteidige die bundesdeutsche FDGO, die ich eigentlich
als eine heuchlerische, rassistische, Menschen mordende, imperialistische
Scheindemokratie verurteile, gegen faschistische Strukturen, die ebendiese
Demokratie angreifen und durch eine Diskursverschiebung noch weiter nach
rechts ein Klima des Terrors geschaffen haben. Und das Irre ist, dass die
Polizei, die uns Linke seit Jahrzehnten mit allen Arten von Repression
überzieht, mittlerweile zum überlebenswichtigen Partner geworden ist.
## Protest gegen rechts gefährlich
Hier in MV ist es für bürgerlichen Protest gefährlich, sich Nazis in den
Weg zu stellen. In Greifswald hat es zwei Brandanschläge allein auf unser
Wohnhaus gegeben, in dem wir mit mehreren Familien, Migrant:innen und
Studierenden zusammenleben. Von den Anschlägen auf all die anderen Häuser,
Büros und Jugendzentren und von Übergriffen auf Personen mal ganz zu
schweigen.
Wir sind keine Gemeinschaft von Autonomen, wie man es aus Großstädten
kennt, sondern es sind einfach Menschen, die sich nicht an den rechten
Konsens hier in der Region gewöhnt haben und ihn aktiv als solchen immer
wieder ins Bewusstsein rufen. Zum Beispiel, indem sie Transparente
aufhängen oder sich für mehr Demokratie einsetzen und auch zu Protesten
gegen Neonazis gehen. Bei Protesten kommen die Anfeindungen aber nicht nur
von Neonazis, sondern sie kommen von Leuten, die meinen, nicht die Nazis
wären das Problem, sondern der Protest dagegen. Wir wurden aufs Übelste
beschimpft und angeschnauzt, weil wir unseren Kindern beibringen, dass
Protestieren und Demonstrieren Grundrechte sind, die zum Leben in der
Demokratie dazugehören.
In der Welt, in der ich lebe, habe ich mittlerweile Angst, dass meine
eigenen Ideale einer Welt ohne Polizei, der Gleichberechtigung und
gemeinsamer Teilhabe an politischen Prozessen Wirklichkeit werden könnten.
Ich habe Angst vor den Krawallbürgern, die zwar Ausländer fürchten, aber
eben keine Neonazis. Und ich bin froh, wenn die Polizei vor Ort ist und
darauf achtet, dass es bei Diskussionen bleibt und nicht handgreiflich
wird. Wobei die Polizisten immer wieder raushängen lassen, dass sie
keinerlei Sympathien für bekennende Linke haben und es sie nervt, dass sie
uns schützen müssen, und einen offen als Stasi- und DDR-Verherrlichter
ankeifen.
## Dieses flaue Gefühl
Nach einer Kundgebung gegen die lokale Pegida wegen einer geplanten
Flüchtlingsunterkunft kamen ein paar Männer meines Alters aus der
Anwohnerversammlung mit dem grünen Bürgermeister und dem Polizeipräsidenten
und begrüßten die Polizisten, die die Veranstaltungen absicherten. In der
Bürgerversammlung kam es zu Beschimpfungen und rassistischen Ausfällen. Die
Männer verteilten Zigaretten an die Polizisten, quatschten und kamen dann
in unsere Richtung. Bei uns angekommen, begannen sie uns anzupöbeln. Es war
klar, dass, wenn es zu einer Auseinandersetzung käme, wir körperlich
unterliegen würden und dass wir von der Polizei nur ein nachträgliches
Eingreifen zu erwarten hätten. Dieses flaue Gefühl ist Lebensrealität und
zieht sich durch das Leben aller, die in Ostdeutschland aktiv gegen rechts
sind.
In dieser Atmosphäre bin ich froh, dass es einer gewissen Anstrengung
bedarf, sich an politischen Prozessen zu beteiligen, weil das viele dieser
Misanthropen davon abhält, aktiv zu werden. Mir gruselt es bei der
Vorstellung, dass hier die Hürden, wie in unseren politischen Utopien, so
niedrig wie möglich lägen. Vielen hier ist die Demokratie egal: Hauptsache,
keine Ausländer; und keine Asozialen; und keine Zecken – und die Wessis
sind eh an allem schuld. Die Vorstellung, das eigene Leben durch Gestaltung
des politischen Raums mitzugestalten, fehlt weitgehend; zum Glück, denke
ich manchmal.
Das Grundgesetz schützt uns Gegner des Kapitalismus und uns Antifaschisten
– trotz des Durchsetztseins der exekutiven Behörden mit alten und neuen
Faschisten – vor dem Volkszorn, der sich gegenüber wehrlosen Migranten
immer wieder Bahn bricht.
Der Repression allen gegenüber, die die Eigentumsfrage offen stellen, tut
das natürlich keinen Abbruch. Wir leben in einem neoliberalen
Verwertungsregime, das die Menschen in wertvoll und nutzlos kategorisiert.
Die Nutzlosen auf dem Mittelmeer, in Libyen oder in Jemen werden natürlich
anders behandelt als die Nutzlosen in der nordöstlichen
Wertschöpfungsperipherie Deutschlands; aber jahrzehntelang hat man sie
gegeneinander aufgehetzt beziehungsweise dem Affen Zucker gegeben. Ob
Springer und Bertelsmann oder sogenannte Konservative mit ihrer Hetze den
rechten Konsens geschaffen haben oder ihn nur bedienen – es ändert nichts
an der Tatsache, dass die einzige Barriere, die uns davor bewahrt, dass
dieser Konsens sich noch weiter institutionalisiert, das Grundgesetz ist.
## Und doch Hoffnung
Ob es Dummheit ist oder Absicht, dass die Unterprivilegierten und die
Abstiegsschisser nicht bemerken, dass der Umverteilungskampf nach oben
wesentlich lukrativer wäre als der nach unten, lässt sich nicht
abschließend klären, ist aber nicht durch das Grundgesetz vorgegeben. Wenn
ich das GG anschaue, ist es ein emanzipatorischer Fortschritt im Gegensatz
zu den reaktionären Ansichten vieler meiner Mitmenschen. Und ich sehe
gerade keine Mehrheiten für tiefgreifendere Veränderungen hin zu noch
libertäreren Ideen.
Linke Ideen und Protestformen wurden von der neuen Rechten gekapert – und
mit ihnen sogar ein Teil der Bewegung, der nicht mitbekommt, dass es den
Gegnern der „Merkeldiktatur“ nicht darum geht, die Demokratie durch ein
progressiveres Instrument zu ersetzen, sondern die Anführer und
Organisatoren der Corona-Ignoranten gut in braun-blaue Kreise zu vernetzen.
Und was macht da Hoffnung? Die rechten Bewegungen beruhen auf Angst. Das
macht sie relativ uncharismatisch. Das sind eher so pegidalike
Alte-Männer-Events, nicht so wie die erfrischenden FFF-Demos, die auch
wesentlich mehr Leute anziehen. Meine Hoffnung ist deswegen, dass die
Klimabewegung erfolgreicher ist als unsere jahrzehntelang vor sich
hindümpelnde globalisierungskritische Bewegung, die es nie geschafft hat,
wirklich Ergebnisse zu erzielen. Die Abstraktion der Probleme der
Globalisierung ist zu groß, während der Klimawandel zu begreifen und sogar
zu erleben ist. Es ist auch eine weltweite Bewegung, aber mit konkreten
lokalen Bezügen.
Da es wieder eine positive Vision gibt wie eine klimagesunde Welt, lassen
sich auch wieder Menschen begeistern für eine solidarischere Welt. Denn
ohne Solidarität lässt sich keines unserer Probleme lösen.
12 Feb 2021
## LINKS
[1] /Rechtsextremismus-in-Ostdeutschland/!5730766
[2] /Reiseboykott-fuer-Ostdeutschland/!5743338
## AUTOREN
Torsten Galke
## TAGS
Menschenfeindlichkeit
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Ostdeutschland
DDR
Schwerpunkt AfD
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