# taz.de -- Prozess um Angriff von Brokstedt: Ein „böser Teufel“ im Kopf | |
> Im Prozess um tödliche Messerstiche in einem Regionalzug geht es um die | |
> Frage: In welchem psychischen Zustand war der Täter? Zwei Ärzte sagten | |
> aus. | |
Bild: Verdacht auf eine Psychose: Ärzte von Ibrahim A. sagen aus | |
ITZEHOE taz | Es war eine Tat, die Schleswig-Holstein erschütterte: Am 25. | |
Januar 2023 stach ein damals 33-jähriger Mann [1][in einem Regionalzug auf | |
Mitreisende ein], tötete zwei Jugendliche und verletzte vier weitere | |
Personen schwer. [2][Seit Juli wird gegen den Mann, der die Angriffe | |
zugibt, verhandelt]. Im politischen Raum steht die Frage, ob es durch | |
bessere Zusammenarbeit der Behörden oder andere Maßnahmen möglich gewesen | |
wäre, die Tat zu verhindern. | |
Vor Gericht geht es vor allem darum, ob der Mann damals unter einer | |
psychischen Krankheit litt oder nicht. Dazu sagten am Montag vor dem | |
Landgericht Itzehoe nun zwei Ärzte aus, die Ibrahim A. vor der Tat während | |
seiner Untersuchungshaft behandelt hatten. Es ging um die Frage, in welchem | |
Zustand er sich damals befunden hatte. | |
Er habe den Teufel gehört, sagte Ibrahim A. demnach einer Bediensteten im | |
Gefängnis Billwerder – dort saß der Staatenlose, der aus Palästina stammt, | |
für fast ein Jahr in Untersuchungshaft. Entlassen wurde er im Januar 2023, | |
nur wenige Tage vor der Tat im Zug. | |
Einer der Mediziner, der drogensüchtige Gefangene mit Methadon versorgt, | |
berichtete ebenfalls davon, dass A. von einem „bösen Teufel“ erzählt habe. | |
Aber bei Nachfragen habe es Widersprüchlichkeiten gegeben. „Die Symptome | |
waren sehr wechselhaft. Ich habe den Psychiater nicht beneidet“, sagte er. | |
## Tödliche Messerstiche im Regionalzug: Kein klares Bild | |
Dieser Psychiater ist Oberarzt des Hamburger Universitätsklinikums | |
Eppendorf (UKE), der regelmäßig psychisch auffällige Insassen des | |
Gefängnisses behandelt. Ihm gegenüber leugnete A., Stimmen gehört zu haben. | |
Dafür klagte er über ständige Klopfgeräusche, die der Psychiater als | |
akustische Halluzinationen interpretierte. | |
Zudem stellte er „Auffälligkeiten im Gefühlsleben“ fest: Teils sei A. | |
distanzlos gewesen, teils bei ernsten Themen unangemessen fröhlich, habe | |
manchmal „fratzenartig“ gelächelt. Einmal habe A. von Folter durch die | |
Hamas und dem Tod von Familienangehörigen gesprochen, was auf eine | |
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hindeuten könnte. „Darüber wollte | |
er aber nicht sprechen, das ist bei dieser Störung ungewöhnlich“, sagte der | |
Zeuge. | |
Bei einem Treffen habe A. erzählt, er sei traurig, weil seine Mutter gerade | |
gestorben sei – später erfuhr der Psychiater, dass dieser Todesfall lange | |
zurücklag. Einmal beschuldigte er Ärzte und Personal, sie hätten ihn durch | |
die Zellentür beschimpft. Immer wieder wurde A. aggressiv. | |
Ein klares Bild ergab sich aus diesen Details nicht: „Psychotisches | |
Syndrom, Verdacht auf PTBS, Drogenabhängigkeit, emotional impulsive | |
Persönlichkeitsstörung, möglicherweise eine komplexere Psychose oder | |
Schizophrenie“, fasste der Psychiater zusammen. Eine abschließende Diagnose | |
stellte er nicht: „Ich dachte, ich sehe ihn noch, ich hatte Folgetermine | |
vereinbart.“ | |
## Maßnahmen nach dem Angriff in Brokstedt | |
Aber A. wurde unerwartet entlassen – ein Gericht verfügte, dass die U-Haft | |
bereits zu lang gedauert hatte. Es gab keine Vorbereitung, keine Klärung, | |
wohin der obdachlose A. nun gehen könnte. Zuständig war für ihn die | |
Ausländerbehörde in Kiel. Dort war nicht einmal bekannt, dass A. in Hamburg | |
im Gefängnis saß. | |
Um seine Papiere auf den neuesten Stand zu bringen, fuhr A. nach Kiel, | |
wurde dort von einer Behörde zur nächsten geschickt. Bevor er sich auf den | |
Rückweg nach Hamburg machte, stahl er ein Messer in einem Supermarkt. Damit | |
stach er brutal und offenbar wahllos auf Mitreisende ein. Auf dem Bahnhof | |
von Brokstedt wurde er überwältigt. Eine junge Frau und ihr Freund starben | |
sofort. Eine schwer Verletzte beging später Selbstmord. | |
Hätte die Tat verhindert werden können, wenn die Behörden besser | |
zusammengearbeitet hätten? Direkt nach dem Vorfall wurden [3][diverse | |
Maßnahmen diskutiert], darunter Waffenverbotszonen an Bahnhöfen und Zügen | |
sowie Bodycams für Zugbegleiter. | |
Der Hamburger Senat schuf die Funktion von „Übergangscoaches“ für | |
Untersuchungsgefangene, die seit Anfang 2024 arbeiten. Diese Hilfe sei | |
einmalig in der Bundesrepublik, sagt Justiz-Senatorin Anna Gallina (Grüne): | |
„Wir verbessern so die psychologische Versorgung in der Untersuchungshaft.“ | |
## Opfer und Straftäter: Mehr Mittel für Betreuung | |
Auch in Schleswig-Holstein gebe es [4][mehr Mittel für Opferversorgung und | |
psychosoziale Versorgung für Straftäter], sagte Innenministerin Sabine | |
Sütterlin-Waack (CDU) zum Jahrestag der Tat. Doch es bleibe beim | |
„Klein-Klein“, kritisierte der FDP-Landtagsabgeordnete Bernd Buchholz. Der | |
Informationsaustausch zwischen den Behörden habe sich nicht verbessert. | |
Während der Aussagen der Ärzte und der detaillierten Nachfragen des | |
Gerichts starrte Ibrahim A. vor sich hin, gähnte, wischte über die | |
Tischplatte. Neben ihm saß ein Dolmetscher, der die Verhandlung übersetzte, | |
doch unklar blieb, ob die Worte A. überhaupt erreichen, ob sie ihn | |
interessieren. | |
Seit neun Monaten läuft der Prozess in einem gesicherten Saal im | |
Industriegebiet, er wird voraussichtlich noch bis mindestens Mitte Mail | |
fortgesetzt. Die Staatsanwaltschaft hält A. für schuldfähig. Ein | |
psychiatrischer Gutachter begleitet das Verfahren. Er fragte die Zeugen | |
unter anderem nach den Folgen eines abrupten Methadon-Entzugs. | |
9 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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