# taz.de -- Gewaltprävention nach Brokstedt-Attentat: Stützen, bevor es kracht | |
> Mit Gewaltpräventionsambulanzen will Schleswig-Holstein schwere | |
> Straftaten im Vorfeld verhindern: eine Reaktion auf die Messerattacke von | |
> Brokstedt. | |
Bild: Präventionsambulanzen: Ein Baustein, sodass Gewalt nicht entsteht | |
KIEL taz | Die Jugendliche im Wohnheim, die auf jede Kritik mit Geschrei | |
und Spuckattacken reagiert, der alkoholisierte Obdachlose, der in der | |
Unterkunft den Bettnachbarn angreift – auch professionelle Helfer*innen | |
sind oft ratlos, wie sie mit gewaltbereiten Menschen umgehen sollen. Es | |
fehlen Zeit, Personal und manchmal auch Fachkenntnis. | |
Damit aber Wut und Frust nicht in schweren Straftaten münden, will | |
Schleswig-Holstein Gewaltpräventionsambulanzen schaffen, die als Anlauf- | |
und Koordinierungsstellen dienen sollen. Der Landtag hatte das neue Angebot | |
im Frühjahr beschlossen, kurz nachdem [1][ein mutmaßlich psychisch kranker | |
Mann in einem Regionalzug nahe dem Ort Brokstedt mit einem Messer um sich | |
gestochen, zwei Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt hatte.] | |
„Wer am meisten Hilfe bräuchte, erhält oft am wenigsten, und einige fallen | |
komplett durch die Maschen“, fasste Christian Huchzermeier, Direktor des | |
Instituts für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie (ISFP) am | |
Uniklinikum Kiel die aktuelle Lage zusammen. Wie es besser laufen könnte, | |
stellte er gemeinsam mit Reiner Johannsen von Pro Familia, Bernd Priebe vom | |
Verein „Wendepunkte“ in Elmshorn und Inke Asmussen vom Verein | |
„Krisendienst“ in Schleswig am Mittwoch vor. | |
Mit dabei war Otto Carstens, Staatssekretär des Justiz- und | |
Gesundheitsministeriums, das die Fördermittel für die | |
Gewaltpräventionsambulanzen stellt. 200.000 Euro fließen im Jahr 2023, im | |
Haushalt 2024 sind 400.000 Euro eingeplant. | |
## Taser sind teurer | |
Klingt viel, sei im Verhältnis aber wenig, so Huchzermeier: [2][In Bayern, | |
das erste Bundesland, das Gewaltpräventionsambulanzen eingerichtet hat, | |
stünden pro Jahr 2,4 Millionen Euro zur Verfügung.] Und Jan Kürschner, der | |
sich in der Grünen Landtagsfraktion für das Thema der Ambulanzen stark | |
gemacht hatte, verwies darauf, dass Taser, die Personen per Stromschlag | |
außer Gefecht setzen und mit denen die Polizei zurzeit ausgestattet wird, | |
pro Stück 250.000 Euro kosten. Im Vergleich gebe es also wenig Geld für | |
Prävention, dennoch lasse sich damit viel erreichten, ist der Abgeordnete | |
überzeugt. | |
Geplant ist, dass die Anlaufstellen, die bereits heute mit psychisch | |
kranken Straffälligen arbeiten, künftig auch denen helfen, die noch keine | |
Straftaten begangen haben, aber zu Gewalt neigen. Es gelte, „Täterkarrieren | |
zu vermeiden“, sagte Bernd Priebe, dessen Verein im Hamburger Randgebiet | |
vor allem Jugendliche betreut. | |
Im Zentrum stehen die Forensischen Ambulanzen in Kiel, die zur Uni-Klinik | |
gehört, sowie in Flensburg und Lübeck, die von Pro Familia betrieben | |
werden. „Mit den Mitteln, die wir zurzeit haben, können wir zwar nicht | |
ständig Sozialarbeiter rausschicken, aber wir können eine Lotsenfunktion | |
übernehmen“, erklärte Pro-Familia-Landesgeschäftsführer Reiner Johannsen. | |
Denn es gebe durchaus viele Hilfsmöglichkeiten, etwa Sucht- oder | |
Schuldnerberatungen, sozialpsychiatrische Dienste, Wohnungslosenhilfen. | |
Auch staatliche Stellen wie die Ausländerbehörde, die Polizei oder | |
Ministerien könnten zu Teilen eines Hilfsnetzes werden, hofft Huchzermeier. | |
## Reaktion auf Brokstedt-Attentäter | |
Geplant ist, Mitarbeitende zu schulen, ihnen Tipps zu geben, wie sie mit | |
Personen umgehen sollen, die zu Gewalt neigen oder sich feindselig | |
verhalten. Denn oft haben Taten eine lange Vorgeschichte. So hatte der aus | |
Palästina stammende Ibrahim A., der zurzeit wegen der Messerattacke im | |
Regionalzug in Itzehoe vor Gericht steht, zuvor in Hamburg in | |
Untersuchungshaft gesessen, weil er in einer Wohnungslosenunterkunft | |
jemanden verletzt haben soll. | |
Kein Einzelfall: Der Verlust der Wohnung gehöre zu immer wieder | |
auftauchenden Risikofaktoren, so Huchzermeier. Er nannte außerdem | |
Drogenkonsum, finanzielle Probleme oder einen ungeklärten | |
Aufenthaltsstatus. Auch psychische Krankheiten könnten eine Rolle spielen – | |
wobei generell psychisch Kranke nicht häufiger gewalttätig seien als der | |
Schnitt der Gesellschaft. | |
Aber viele Fragen bleiben zum Start der Ambulanzen offen: Was tun, wenn | |
jemand jede Behandlung ablehnt? Wer zahlt, wenn ein Mensch im Asylverfahren | |
eine langwierige Therapie bräuchte? Ja, es gebe noch einige praktische | |
Probleme und Fragen, sagte Huchzermeier. Dennoch sei der Start wichtig, | |
betonte Inke Asmussen vom Krisendienst in Schleswig, der ehrenamtlich und | |
telefonisch Menschen in psychischen Ausnahmesituationen berät. „Das Neue | |
ist, dass wir jetzt zusammenarbeiten. Das Ziel muss sein, dass es weniger | |
darum geht, wer zuständig ist, als um die Frage, was am besten hilft.“ | |
Auch mit dem neuen Angebot gebe es keine Garantie, dass sich Taten wie die | |
bei Brokstedt verhindern ließen, sagte Staatssekretär Carstens. „Aber jeder | |
Baustein, der hilft, [3][dass Gewalt gar nicht erst entsteht,] ist | |
wertvoll.“ | |
21 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Prozessauftakt-nach-Messerattacke/!5943133 | |
[2] /Diskussion-um-Gewaltpraeventionsambulanz/!5941437 | |
[3] /Hilfe-fuer-Opfer-haeuslicher-Gewalt/!5967435 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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