| # taz.de -- Diskussion um Gewaltpräventionsambulanz: Vorsorge unter Stigmaverd… | |
| > Nach dem Brokstedt-Attentat will Schleswig-Holstein | |
| > Gewaltpräventionsambulanzen für psychisch Kranke einrichten. Der | |
| > Flüchtlingsrat übt Kritik. | |
| Bild: In Ansbach gibt es bereits eine Gewaltpräventionsambulanz, geleitet von … | |
| Hamburg taz | Die Pläne der schwarz-grünen Regierung in Schleswig-Holstein | |
| für eine Gewaltpräventionsambulanz stoßen nicht nur beim Flüchtlingsrat, | |
| sondern auch bei Psychologen auf Kritik. „Hintergrund des Plans ist, dass | |
| man der Ausländerbehörde den Zugriff auf Geduldete ermöglichen will“, sagt | |
| Martin Link vom [1][schleswig-holsteinischen Flüchtlingsrat]. | |
| Und Thomas Bock, der langjährige Leiter der [2][Spezialambulanz für | |
| Psychosen und bipolare Störungen am Hamburger Universitätsklinikum | |
| Eppendorf (UKE),] sieht in Spezialambulanzen für potenzielle | |
| Gewalttäter:innen „ein großes Risiko, zu diskriminieren“. | |
| Der Antrag der schwarz-grünen Koalition ist im Nachgang [3][zum | |
| Messerattentat von Brokstedt entstanden], bei dem Ibrahim A., ein | |
| geduldeter Palästinenser, zwei Menschen getötet hat. A. war von einem | |
| Gutachter während seiner Inhaftierung nach einer Messerattacke eine | |
| psychotische Störung infolge der Inhaftierung bescheinigt worden. Vor | |
| seiner Entlassung hatte es zwar eine reguläre Untersuchung gegeben, bei der | |
| weder eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung festgestellt worden war, es gab | |
| aber kein Prognosegutachten. | |
| Jan Kürschner, der innen- und rechtspolitische Sprecher der grünen | |
| Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein, betont, dass nicht von allen | |
| psychisch kranken Menschen eine Gefahr ausgehen könne, sondern lediglich | |
| von Menschen, die eine Psychose haben, und davon ungefähr 3 Prozent. Zudem | |
| richte sich das Angebot an alle Erkrankten und nicht spezifisch an | |
| Geflüchtete. | |
| ## Auf Geflüchtete gemünzt | |
| [4][Der Flüchtlingsrat sieht das anders. Für Martin Link ist der Vorstoß | |
| eindeutig auf Geflüchtete gemünzt] – und geht selbst in den Teilen, die | |
| nicht auf erleichterte Abschiebung zielen, nämlich mit der | |
| Gewaltpräventionsambulanz am Ziel vorbei. | |
| „Die Situation ist hausgemacht“, sagt Link, „dann ist es nicht | |
| verwunderlich, dass die Menschen in Einzelfällen austicken.“ Die Situation, | |
| das ist für Link die „Technokratie der Ablehnung“ [5][mit unklarer | |
| Bleibeperspektive], unzureichender persönlicher Betreuung und | |
| Gesundheitsversorgung. | |
| Eine Gewaltpräventionsambulanz könne ein Mittel sein, „wenn das Kind | |
| bereits in den Brunnen gefallen ist“. Echte Prävention, so Link, hieße, | |
| eine Perspektive für geduldete Menschen in Deutschland zu entwickeln. | |
| Kürschner wiederum verweist gegenüber der taz auf zwei Entwicklungen, auf | |
| die die Politik reagieren müsse: Zum einen steige die Zahl der Menschen im | |
| Maßregelvollzug, also der Straftäter:innen, die wegen einer psychischen | |
| Erkrankung nicht in reguläre Haftanstalten kommen. Außerdem wachse auch die | |
| Zahl der Menschen mit Psychose, die in die Psychiatrie kämen, dort aber | |
| eine Behandlung mit Medikamenten ablehnten. | |
| Die Kliniken, so beschreibt es Kürschner, entließen diese Patient:innen | |
| dann unbehandelt, weil sie für eine reine Unterbringung von den | |
| Krankenkassen nicht bezahlt würden. „Und das schlimmste“, so stellt es | |
| Kürschner in seiner Rede vor dem Landtag dar: „Die forensischen Kliniken | |
| laufen voll.“ | |
| Um dem entgegenzuwirken, soll nun an vier Standorten ein Pilotprojekt nach | |
| dem Modell der Forensischen Präventionsambulanz der Klinik für forensische | |
| Psychiatrie des Bezirksklinikums Ansbach begonnen werden. Dafür sind | |
| 400.000 Euro pro Jahr veranschlagt, die bereits im Haushalt eingestellt | |
| sind. Das Projekt richtet sich an Menschen, die eine Psychose aus dem | |
| schizophrenen Formenkreis oder eine schwere Persönlichkeitsstörung haben, | |
| verbunden mit einem hohen Risiko für künftige Gewalttaten. | |
| Der Kontakt soll über die Betroffenen selbst laufen oder aber | |
| professionelle Betreuer:innen etwa aus der Bewährungshilfe oder | |
| Familienangehörige. Die Teilnahme ist freiwillig, zum Angebot gehören | |
| Gruppentraining, Einzelbehandlung und sozialpädagogische Beratung. Durch | |
| regelmäßigen Telefonkontakt und Hausbesuche soll ein Abbruch der Behandlung | |
| verhindert werden. | |
| In einer Evaluation kommt der Chefarzt der Ansbacher forensischen | |
| Psychiatrie, Joachim Nitschke, zu dem Ergebnis, dass von 91 Patienten 41 | |
| die Behandlung abgebrochen haben, 22 sind umgezogen, 21 aus anderen Gründen | |
| nicht mehr dabei. Neun Patienten haben die Behandlung erfolgreich | |
| abgeschlossen – und damit Bayern laut Studie knapp eine Million Euro | |
| jährlich erspart, weil sie nicht stationär in einer forensischen Klinik | |
| untergebracht waren. | |
| ## Vorbild Hamburg | |
| In der Vorstellung des Ansbacher Projekts wird explizit auf das Hamburger | |
| Modell zur integrierten Versorgung von Psychosepatienten verwiesen. Der | |
| langjährige Chef der Spezialambulanz für Psychosen, Thomas Bock, begrüßt | |
| zwar, dass sich die Forensik für Präventionsarbeit auch jenen öffnet, die | |
| noch nicht dort Patient:in waren. Doch das Modell einer zusätzlichen | |
| Gewaltpräventionsambulanz überzeugt ihn dennoch nicht. | |
| Er schreibt der taz: „Aus meiner Sicht birgt das Thema große Risiken zu | |
| diskriminieren oder zu stigmatisieren. Wir brauchen keine | |
| Spezialambulanzen, sondern die vorhandenen Ambulanzen, zum Beispiel für | |
| Psychoseerfahrene, müssen niedrigschwelliger und sorgsamer sein.“ Das | |
| bedeutet unter anderem, dass es gelingt, eine verlässliche Beziehung zu den | |
| Patient:innen aufzubauen. | |
| Die Zahlen der Psychosepatient:innen in der Forensik seien lange | |
| gesunken und stiegen nun wieder an. Für Bock ist das ein deutliches Signal | |
| dafür, dass ihre Versorgung im Vorfeld unzureichend ist. Insgesamt gebe es | |
| einen Wettbewerb um die sozusagen einfacheren Patient:innen, deren | |
| Behandlung weniger aufwendig sei – auf der Strecke blieben dabei die | |
| Patient:innen, die besonders behandlungsbedürftig sind. | |
| 20 Jun 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.frsh.de/ | |
| [2] https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/psychiatrie-und-psychotherap… | |
| [3] /Zwei-Tote-in-Zug-nahe-Brokstedt/!5930942 | |
| [4] /Abschiebungen-in-Schleswig-Holstein/!5937467 | |
| [5] /Aenderung-des-EU-Asylrechts/!5937362 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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