# taz.de -- Prozess gegen deutsche IS-Rückkehrerin: Zurück aus Rakka | |
> Mit 15 Jahren zog Leonora M. von Sachsen-Anhalt zum IS nach Syrien. | |
> Inzwischen ist sie wieder in Deutschland – und steht nun in Halle vor | |
> Gericht. | |
Bild: Auf dem Weg in ein kurdisches Lager: Leonora M. (rechts) am 31. Januar 20… | |
BERLIN taz | Leonora M. wohnt jetzt wieder in einer Kleinstadt in | |
Sachsen-Anhalt, ganz in der Nähe des 200-Einwohner-Dorfes, in dem sie | |
aufwuchs. Ein Marktplatz mit Kirche, ein ausgedehnter Park, die Harzwälder | |
nicht weit entfernt. Die 22-Jährige lebt dort mit ihren zwei Kindern, macht | |
eine Ausbildung. Ein ruhiges Leben, fast, als wäre nichts geschehen. | |
Aber es ist noch nicht lange her, da war Leonora M.s Heimat noch das | |
staubige Rakka in Syrien, damals Hauptstadt der [1][Terrorgruppe | |
„Islamischer Staat“ – der auch M. angehörte.] Mit 15 Jahren war sie von | |
ihrem Dorf zum IS ausgereist. Sie wurde mit einem hochrangigen deutschen | |
IS-Kämpfer verheiratet, Martin Lemke, bekam zwei Kinder, hielt zeitweilig | |
eine jesidische Sklavin. Und landete am Ende in kurdischer Gefangenschaft, | |
bevor sie im Dezember 2020 nach Deutschland ausgeflogen wurde. | |
Ab Dienstag wird Leonora M. deshalb nun im Justizzentrum Halle sitzen, zur | |
Eröffnung des Prozesses gegen sie. Angeklagt hat sie die | |
Bundesanwaltschaft, die ihr Mitgliedschaft in einer terroristischen | |
Vereinigung, Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und | |
einen Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz vorwirft. Das könnte | |
mehrere Jahre Haft bedeuten. | |
Leonora M. ist damit nur eine von mehreren IS-Frauen, die zuletzt wieder | |
nach Deutschland zurückkehrten und der nun solche Vorwürfe gemacht werden. | |
Und bei denen der deutsche Staat damit ringt, wie er mit ihnen umgehen | |
soll. | |
## Der Bruch kam plötzlich | |
Der Fall Leonora M. aber ist besonders, weil sie eben noch sehr jung war, | |
als sie sich dem IS anschloss – und sich radikalisierte, obwohl es vor Ort | |
weit und breit keine muslimische Community gab. Für einige Vorwürfe muss | |
sie sich nun als Jugendliche, für einige als Heranwachsende verantworten. | |
Erst am Donnerstag entschied das Oberlandesgericht, ihr Verfahren deshalb | |
nichtöffentlich zu verhandeln. | |
Leonora M. brach im März 2015, wie etliche deutsche Islamist:innen | |
damals, über die Türkei und mithilfe von Schleusern nach Syrien zum IS auf. | |
Der Bruch kam plötzlich: Zuvor war sie Klassensprecherin, drehte | |
Schminkvideos auf Youtube. Ihre Radikalisierung erfolgte über salafistische | |
Onlinekanäle, ihre getrennt lebenden Eltern bemerkten nichts. Nach ihrem | |
Verschwinden erreichten den Vater Handynachrichten eines Unbekannten: | |
„Ihrer Tochter geht es gut. Sie ist angekommen in Dawlatul Khilafa.“ Im | |
syrischen Kalifenstaat. Die Nachrichten kamen von Martin Lemke. | |
All das ist festgehalten in einem Buch des Vaters, das Leonoras Schicksal | |
breiter bekannt machte. Dort schildert der Bäcker auch, wie er via Whatsapp | |
fortan mit Leonora Kontakt hielt, als diese in Rakka lebte. Wie sie den | |
Haushalt führte mit der französischen Zweitfrau von Lemke, auch er aus | |
Sachsen-Anhalt, ein früherer Schweißer, der es bis in den IS-Geheimdienst | |
Amniyat schaffte. Wie sie früh zweifelte und ihren Vater um Hilfe für eine | |
Rückkehr bat, die trotz bezahlten Schleusern scheiterte. Wie sie darauf in | |
IS-Haft geriet und von Lemke rausgeholt wurde. | |
Den Vater erreichte da aber nur eine Todesnachricht zu seiner Tochter – | |
eine vorgetäuschte. Dann meldete sich Leonora M. doch wieder. Später bekam | |
sie zwei Kinder und flüchtete im Sommer 2017 vor Bombenangriffen aus Rakka, | |
landete Anfang 2019 im kurdischen Gefangenenlager al-Hol. | |
Erst im Dezember 2020 holte die Bundesregierung, nach längeren | |
Verhandlungen, Leonora M. mit ihren Kindern und zwei weiteren [2][deutschen | |
IS-Frauen nach Deutschland]. Zuvor soll sie in al-Hol von anderen | |
Islamisten als Verräterin angefeindet worden sein – was den Druck erhöhte. | |
Noch am Flughafen Frankfurt/Main wurde M. festgenommen, nach 19 Tagen aber | |
bereits unter Auflagen aus der Haft entlassen. Seitdem muss sie sich | |
regelmäßig bei der Polizei melden – und an einem Deradikalisierungsprogramm | |
teilnehmen. | |
Die Anklage sieht Leonora M. keineswegs nur als Mitläuferin. Sie sei den | |
IS-Regeln gefolgt, habe eine andere deutsche Frau zur Ausreise zum IS | |
aufgefordert, ein Sturmgewehr und eine Pistole besessen, heißt es dort. | |
Drei Monate soll M. in einem IS-Krankenhaus gearbeitet und Ende 2015, nach | |
ihrem gescheiterten Fluchtversuch, für den IS-Geheimdienst Frauen von | |
IS-Kämpfern ausgeforscht haben. Für ihre Tätigkeiten habe sie monatliche | |
Zahlungen vom IS erhalten. | |
Zudem habe Leonora M. durch ihre Haushaltsführung ihrem Mann dessen | |
Terroraktivitäten ermöglicht. Für Lemke habe sie auch ein Testament bei | |
einem IS-Gericht hinterlegt, als er in einen Kampf zog, und eine Bewerbung | |
für den IS-Geheimdienst geschrieben. Zudem habe Lemke im Juni 2015 eine | |
33-jährige Jesidin mit zwei Kleinkindern gekauft, die Leonora M. gepflegt | |
habe, damit sie gewinnbringend weiterverkauft werden konnte. | |
Leonora M. selbst äußerte sich vor dem Prozess nicht, auch ihr Anwalt | |
nicht. In einer NDR-Dokumentation wies sie jedoch Beteiligungen an | |
Straftaten zurück und gab sich desillusioniert vom IS. Auch den Kauf der | |
Jesidin, die bis heute traumatisiert sein soll, schob sie auf Lemke. Sie | |
hoffe nun auf ein „neues Leben“, sagte sie dem NDR bei ihrer [3][Rückkehr | |
nach Deutschland.] | |
Aktuell redet dafür Claudia Dantschke, vom Berliner | |
Deradikalisierungsverein Grüner Vogel, der Leonora M. und ihre Familie seit | |
Jahren betreut. Natürlich sei Leonora M. vor dem Prozess angespannt, sagt | |
Dantschke. „Mit dem Prozess wird sie alles nochmal durchleben und in der | |
Anklage sind ein paar harte Brocken. Aber jede Rückkehrerin muss sich ihrer | |
Schuld stellen, das ist allen klar.“ | |
## Glaubwürdige Naivität | |
Dantschke sagt aber auch, dass sie Leonora – anders als bei manch anderen | |
Frauen – eine Naivität abnehme. „Ihr fehlte mit 15 Jahren sicher noch die | |
Reife, zu überschauen, was sie mit ihrer Ausreise tut. Und sie hat sich | |
schon kurz nach ihrer Ankunft beim IS von der Ideologie distanziert und das | |
bis heute glaubwürdig fortgesetzt.“ | |
Die Sicherheitsbehörden sind sich da nicht so sicher – so wie bei vielen | |
anderen deutschen IS-Rückkehrer:innen auch. Sie wissen von 1.150 deutschen | |
Islamist:innen, die in den vergangenen Jahren in dschihadistische | |
Kampfgebiete in Syrien und dem Irak ausreisten, mehr als ein Viertel davon | |
Frauen. 280 von ihnen sollen gestorben sein, 420 nach Deutschland | |
zurückgekehrt. Rund 450 befinden sich laut Angaben des | |
Bundesinnenministeriums von dieser Woche weiterhin im Ausland, die meisten | |
an unbekanntem Ort, und etwa 110 in zumeist kurdischer Haft. | |
Dantschke hält Letzteres für einen untragbaren Zustand. „Die Festgesetzten | |
leben dort in teils katastrophalen Verhältnissen, ohne Anklagen, in reiner | |
Verwahrung.“ Sie fordert die Rückholung der Islamistinnen, auch der Männer | |
wie Martin Lemke, der ebenfalls weiter inhaftiert ist. „So schnell wie | |
möglich. Es sind deutsche Staatsbürger und nichts wird besser, wenn sie | |
dort sitzen“, betont Dantschke. „Je länger wir warten, desto größer wird | |
wieder die Gefahr von Radikalisierungen.“ | |
Die Bundesregierung aber ließ sich lange Zeit mit Rückholungen. Politisch | |
ist damit nichts zu gewinnen. Zudem bezweifeln die Sicherheitsbehörden, | |
dass die Islamist:innen wirklich geläutert sind. Gerichte aber | |
verpflichteten die Regierung zuletzt in mehreren Fällen, deutsche | |
IS-Anhänger:innen zurückzuholen. Ab August 2019 folgten darauf drei | |
Rückholaktionen für insgesamt 12 Mütter und 42 Kinder. Leonora M. gehörte | |
zur zweiten Aktion. Die letzte und größte fand im Oktober 2021 statt, mit 8 | |
Müttern und 23 Kindern. | |
Für den Staat stellen sich seitdem viele Fragen. Wie gefährlich sind die | |
IS-Frauen noch? Welche Strafen verdienen sie – und wofür können sie | |
überhaupt verurteilt werden? Und wie lassen sich die Frauen in die | |
Gesellschaft reintegrieren? | |
Tatsächlich laufen gegen 11 der 12 zurückgeholten Frauen | |
Ermittlungsverfahren mit Bezug zum islamistischen Terrorismus, 7 landeten | |
direkt in U-Haft. Von den insgesamt 420 Rückkehrer:innen sind aktuell | |
70 als Gefährder eingestuft, denen weiter schwere Gewalttaten zugetraut | |
werden – ein Fünftel davon Frauen. Diesen Status hatte nach | |
taz-Informationen zumindest eine Zeitlang auch Leonora M. | |
Einige Rückkehrer:innen seien „ideologisch gefestigt und kampferprobt“, | |
bei ihnen sei von „einer besonderen Gefährdung“ auszugehen, erklärt das | |
Innenministerium. Daneben gebe es aber auch Fälle der „Desillusionierung“. | |
## „Zweite Chance verdient“ | |
Die Gerichte taten sich lange schwer, den Frauen konkrete Straftaten | |
nachzuweisen. Schließlich gab es mehrere Verurteilungen wegen | |
Waffenbesitzes, Aktivitäten in der IS-Sittenpolizei oder über einen neu | |
geschaffenen Vorwurf: der Aneignung von Wohnungen in Syrien, deren Bewohner | |
vertrieben wurden – ein Kriegsverbrechen gegen das Eigentum. | |
Ein Dutzend IS-Frauen wurde so allein nach einer Anklage der | |
Bundesanwaltschaft verurteilt, meist zu Haftstrafen zwischen drei und sechs | |
Jahren. Dazu kamen Anklagen durch Staatsanwaltschaften in den Ländern. Die | |
höchste Strafte erhielt im Oktober 2021 die Niedersächsin Jennifer W. mit | |
zehn Jahren Haft, weil sie mit ihrem IS-Mann ein fünfjähriges jesidisches | |
Mädchen angekettet in der Hitze hatte verdursten lassen. | |
Die Frage, die sich Claudia Dantschke dagegen stellt, ist, wie die Frauen | |
einen [4][Weg zurück in die Gesellschaft finden] können. „Wer sich wirklich | |
von der Ideologie distanziert und seine Strafe verbüßt hat, hat eine zweite | |
Chance verdient“, findet Dantschke. Tatsächlich fördert das Bundesamt für | |
Migration und Flüchtlinge bereits seit 2019 Rückkehrkoordierende in einigen | |
Bundesländern, die Ämter, Traumatherapeuten, die Polizei und | |
Deradikalisierungsprojekte vernetzen, um eine Reintegration der | |
Rückkehrer:innen und ihrer Kinder zu erreichen. | |
Das laufe gut, sagt Dantschke. Und sie verweist auch auf ihre eigenen | |
Erfahrungen: Von den 20 bisher in ihrem Projekt betreuten | |
Rückkehrer:innen gebe es nur einen Rückfall und einen Beratungsabbruch. | |
„Der Rest ist auf einem guten Weg.“ | |
Ob auch Leonora M. auf Dauer geläutert ist, wird ebenfalls nun der Prozess | |
in Halle klären müssen. In der Kleinstadt in Sachsen-Anhalt lebte die | |
22-Jährige zuletzt unauffällig, beschäftigt mit ihrer Ausbildung, eines | |
ihrer Kinder geht in die Kita. „Das verläuft alles sehr hoffnungsvoll“, | |
sagt Dantschke. Die Sicherheitsbehörden aber haben Leonora M. weiter im | |
Blick. Das LKA Sachsen-Anhalt will sich dazu nicht äußern. Man passe | |
Maßnahmen auf jeden Einzelfall an, erklärt ein Sprecher nur. Aber: | |
Grundsätzlich gehe man davon aus, dass von den ausgereisten Islamisten auch | |
nach ihrer Rückkehr „eine Gefahr für die Sicherheitslage in Deutschland | |
ausgehen kann“. | |
25 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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