# taz.de -- Polarisierende Rede im Bundestag: Merkel legt den Schalter um | |
> Die Kanzlerin greift den SPD-Kandidaten Olaf Scholz unerwartet heftig an. | |
> Der liefert sich anschließend einen Schlagabtausch mit Laschet und | |
> Baerbock. | |
Bild: Die Kanzlerin kritisierte am Dienstag Scholz' Versuchskaninchen-Vergleiche | |
BERLIN taz | Ihre Rede dauert schon eine Weile, als Angela Merkel am | |
Dienstag im Bundestag plötzlich die Rolle wechselt. Das Parlament hat in | |
seiner wohl letzten Sitzung dieser Legislaturperiode eine dreistündige | |
Generaldebatte auf die Tagesordnung gesetzt, die Kanzlerin ist die erste | |
Rednerin an diesem Morgen. Erst lobt sie, wie zu erwarten, die Arbeit der | |
Regierung. | |
Dann aber, sie ist bei der Pandemie und beim Impfen angekommen, wechselt | |
sie plötzlich den Ton. „Niemand ist bei der Impfung ein Versuchskaninchen, | |
weder Olaf Scholz noch ich“, sagt Merkel ungewohnt scharf. Und dass zur | |
Vergrößerung der Impfbereitschaft doch eher „Argumente statt schiefer | |
Bilder“ helfen würden. | |
Das ist ein Angriff auf den Kanzlerkandidaten der SPD, Olaf Scholz, ihren | |
Finanzminister, mit dem sie jahrelang gut zusammengearbeitet hat – und den | |
sie eigentlich schätzt. Doch Merkel, die sich zuletzt fast präsidial | |
gegeben und wenig Interesse am Schicksal ihrer Partei gezeigt hatte, hat in | |
den Wahlkampfmodus geschaltet. | |
Scholz hatte in einer Rede das Bild vom Versuchskaninchen verwendet, | |
allerdings mit klar ironischem Unterton. Letzteres hatte die Bild-Zeitung | |
gekonnt ignoriert und daraus eine Schlagzeile gemacht. Dass Merkel darauf | |
einsteigt, ist höchst ungewöhnlich. | |
## Rote-Socken-Gerede von der Kanzlerin | |
Doch damit nicht genug. Es sei nicht egal, wer dieses Land regiere, sagt | |
die Kanzlerin dann. Die Bundestagswahl in knapp drei Wochen sei eine | |
besondere Wahl, „weil es in schwierigsten Zeiten eine Richtungsentscheidung | |
für unser Land ist“. Die Bürgerinnen und Bürger hätten die Wahl zwischen | |
zwei Optionen: einer Regierung von SPD und Grünen, „die die Unterstützung | |
der Linkspartei in Kauf nimmt, zumindest sie nicht ausschließt“. | |
Oder einer von CDU und CSU geführten Regierung mit Armin Laschet an der | |
Spitze – dem „besten Weg für unser Land“. Denn eine solche Regierung wer… | |
für Stabilität, Verlässlichkeit, Maß und Mitte sorgen. „Das ist genau das, | |
was Deutschland braucht.“ | |
„Schämen Sie sich!“, schallt es von den Linken zu Merkel herüber, auch in | |
den anderen Fraktionen jenseits der Union wird es unruhig. | |
Rote-Socken-Gerede? Von der Kanzlerin? Das ist keine Rede, die man von | |
Merkel im Bundestag erwartet hätte. Es scheint, als sei sie kurzfristig | |
zurück in die Rolle der Parteichefin oder gar der Generalsekretärin | |
geschlüpft, die sie in den späten 90er Jahren einmal war. | |
Merkel selbst reagiert gelassen auf den Protest. Man sei hier in der | |
„Herzkammer der Demokratie“, wo denn sollten diese wichtigen Fragen | |
diskutiert werden? Von der Unionsfraktion bekommt sie Applaus im Stehen. | |
## Scholz gibt sich staatsmännisch | |
Die Kanzlerin hat sich, nach langem Zögern, offensichtlich entschlossen, | |
jetzt doch mit aller Kraft in den Wahlkampf einzusteigen. Das zeigt, wie | |
verzweifelt die Lage der Union inzwischen ist. In einer Umfrage, die Forsa | |
zeitgleich mit der Debatte veröffentlicht, ist sie erstmals unter die | |
20-Prozent-Marke gerutscht. „Dies dürfte der niedrigste Wert sein, den | |
jemals ein Institut seit 1949 für die Union ermittelt hat“, erklärt dazu | |
das Umfrageinstitut. Der Trend der SPD dagegen geht weiter bergauf: Sie | |
liegt jetzt bei 25 Prozent. | |
Auch die Debatte, die auf Merkels Rede folgt, hat es in sich. Sie ist | |
scharf und pointiert und vor allem: sie ist inhaltlich. Wer sie verfolgt, | |
weiß danach im Kern, dass es bei der Wahl tatsächlich um sehr verschiedene | |
Konzepte geht. | |
Scholz gibt sich staatsmännisch. Er dankt der „Frau Bundeskanzlerin“ für | |
die gute Zusammenarbeit, kontert dann aber deren Angriff. Auch mit Witzen | |
müsse man die Bevölkerung vom Impfen überzeugen, wenn einige nicht lachen | |
könnten, liege das möglicherweise auch an den Umfragewerten. | |
Scholz spricht über Respekt, über die Wirtschaft und auch kurz übers Klima, | |
vor allem aber arbeitet er das Thema soziale Gerechtigkeit als Kernthema | |
der SPD heraus. Er verspricht einen Mindestlohn von 12 Euro, keinen Anstieg | |
beim Renteneintrittsalter, eine Kindergrundsicherung und 400.000 neue | |
Wohnungen pro Jahr. | |
## Weidel fabuliert vom „Hippiestaat“ Deutschland | |
[1][Annalena Baerbock, die grüne Kanzlerkandidatin], macht es genau | |
andersherum. Auch sie spricht über soziale Fragen und Außenpolitik, aber | |
bei ihr steht das Klima im Zentrum. Die Bundesregierung habe es | |
„vermasselt“, den Weg der Klimaneutralität einzuschlagen, sagt sie und | |
wirft Union und SPD vor, weiter am Kohleausstieg bis 2038 festzuhalten. | |
Baerbock teilt gleichermaßen gegen Union und SPD aus und scheint dabei | |
wieder zu sich selbst gefunden zu haben. So angespannt wie noch vor einigen | |
Wochen wirkt Baerbock längst nicht mehr. | |
Laschet dagegen hat es schwer. Er kann die Leistung der Bundesregierung | |
nicht angreifen, doch dass ein „Weiter so“ nicht reicht, weiß er auch. Das | |
führt dazu, dass er manchmal wie ein Oppositionspolitiker klingt, der mehr | |
an den anderen kritisiert als eigene Konzepte vorträgt. Seine wichtigsten | |
Punkte: Klimapolitik müsse wirtschaftskompatibel betrieben werden und man | |
dürfe Unternehmern in der Krise nicht Geld entziehen, im Gegenteil: Man | |
müsse die Wirtschaft entfesseln. | |
Deutschland, so Laschet, werde „nicht Industrieland bleiben, wenn man mit | |
den Rezepten agiert, die Rot-Grün hier vorgetragen hat“. Stark ist Laschet | |
dann, wenn er den Grünen deren eigene Versäumnisse vorwirft – | |
beispielsweise in elf Landesregierungen. Und natürlich darf auch die | |
Forderung nach einer Abgrenzung zur Linkspartei nicht fehlen: „Man kann | |
nicht mit der Raute durch die Gegend laufen und reden wie Saskia Esken.“ | |
Christian Lindner, Spitzenmann der FDP, der „erwirtschaften statt | |
verteilen“ will, sagt Richtung Scholz: Es könne passieren, dass man die | |
Wahl gewinne „und trotzdem keine Koalition hat“. Das kann man als Absage | |
[2][in Richtung Ampel] deuten, muss aber wohl eher taktisch verstanden | |
werden. Ein zweites Mal kann sich Lindner die Chance zum Regieren kaum | |
entgehen lassen kann. | |
Dietmar Bartsch, der [3][gemeinsam mit Janine Wissler Spitzenkandidat der | |
Linken] ist, spricht von „politischer Verantwortungslosigkeit“ und | |
formuliert damit die schärfste Kritik an der Bundesregierung. Er sagt, dass | |
seine Partei „Politik für Millionen statt für Millionäre“ mache, und ruft | |
am Ende in Richtung Scholz: „Es ist besser, gut mit der Linken zu regieren, | |
als falsch mit Lindner zu regieren.“ Das soll wohl als Angebot verstanden | |
werden. | |
Und die AfD? Die kritisiert erwartungsgemäß so ziemlich alles an der | |
Bundesregierung, besonders die Asylpolitik. Und dann ruft Spitzenkandidatin | |
Alice Weidel wegen der Klimaziele noch die Bundesrepublik als „Hippiestaat“ | |
aus. Von Love und Peace aber ist in diesen Minuten so gar nichts zu spüren. | |
7 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gruenen-Wahlkaempferin-Baerbock/!5792991 | |
[2] /Moegliches-Buendnis-aus-SPD-Gruenen-FDP/!5794253 | |
[3] /Die-Linke-im-Bundestagswahlkampf/!5798785 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Armin Laschet | |
Olaf Scholz | |
Annalena Baerbock | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
CDU/CSU in der Krise: Auf der Kippe | |
Die Union ist nach 16 Jahren Angela Merkel ausgelaugt. Verliert sie die | |
Wahl, wird sie es in der Opposition um ein Vielfaches schwerer haben als | |
1998. | |
CSU-Parteitag mit Söder und Laschet: Verordnete Geschlossenheit | |
Scheinbar begeistert beklatschen die CSU-Delegierten Unions-Kanzlerkandidat | |
Armin Laschet. Ob das die beschworene Trendwende bringt? | |
Koalitionen nach der Bundestagswahl: Alles drin für Söder | |
Scholz und seine SPD gewinnen vielleicht die Wahl, eine Koalition bekommen | |
sie aber nicht zustande. Kanzler wird am Ende: Markus Söder. Ganz sicher. | |
Kanzlerinrede im Bundestag: Merkel wieder CDU-Generalsekretärin | |
Mit absurden Vorwürfen gegen den SPD-Spitzenkandidaten versucht die | |
Kanzlerin, Laschet Auftrieb zu verschaffen. Damit polarisiert sie den | |
Wahlkampf. | |
Plakatkampagnen vor der Wahl: Nichtssagend und austauschbar | |
Die Parteien wollen mit inhaltsleeren Wohlfühlplakaten punkten. Dabei gäbe | |
es einen simplen Weg, die Wahlkampf-Slogans gehaltvoller zu machen. | |
Koalitionen nach der Bundestagswahl: Alle Ampeln auf Rot-Grün | |
Olaf Scholz präferiert ein Zweier-Bündnis mit den Grünen? Kein Problem: | |
Noch ein paar ganz kleine Verschiebungen und die Koalition steht. | |
Comeback der SPD: Auferstanden aus Ruinen | |
In der sächsischen SPD-Diaspora freuen sich die GenossInnen über den | |
plötzlichen Aufwind ihrer Partei. Eine eindeutige Erklärung haben sie | |
nicht. |