Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Comeback der SPD: Auferstanden aus Ruinen
> In der sächsischen SPD-Diaspora freuen sich die GenossInnen über den
> plötzlichen Aufwind ihrer Partei. Eine eindeutige Erklärung haben sie
> nicht.
Bild: Plötzlich Aufwind: Der sächsische SPD-Bundestagskandidat Harald Prause-…
Pirna/Zittau taz | Ja, man habe es schwer hier in der Sächsischen Schweiz
und im Osterzgebirge, räumt SPD-Direktkandidat und Juso-Landesvorsitzender
Fabian Funke ein. Das sei eine „konservative Gegend“. Vor vier Jahren holte
im Wahlkreis die Noch-AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry das
Bundestagsdirektmandat, bevor sie einen Tag nach der Wahl hinschmiss und
die Alternative zur „Alternative“ suchte. Bei der sächsischen Landtagswahl
2019 sackte die SPD im Raum Pirna auf 5,6 Prozent der Zweitstimmen.
„Trotzdem machen wir hier ein Angebot für alle, die Lust auf soziale
Politik haben“, fügt Funke unverdrossen hinzu.
Überwältigend viele solcher Lustvollen tauchen zumindest in der Pirnaer
Fußgängerzone auch jetzt nicht auf. Hier hält der schwarze Juso-Kleinbus
gleich am zweiten Tag seiner Deutschlandtour. Außer gegen Regenschauer
kämpft das halbe Dutzend junger Sozialdemokratinnen und -demokraten auch
gegen die Apathie und die sächsische Muffelei der Passanten. Vom Reporter
lässt sich gleichfalls kaum jemand ansprechen. Wenn, dann kommt im
Vorübergehen die alte Beschimpfung „Wer hat uns verraten –
Sozialdemokraten!“
Den jungen Straßenwahlkämpfern muss man die Begeisterung über [1][das
überraschende Umfragehoch ihrer Partei] fast ein bisschen aus der Nase
ziehen. Nach vielen Jahren in der Defensive scheinen sie selbst noch nicht
zu begreifen, wie ihnen geschieht. Die Martin-Schulz-Euphorie 2017 habe
letztlich nicht gutgetan, warnt der 25-jährige Maximilian Strüning, der
immerhin schon acht Jahre bei den Jusos mitarbeitet. „Die SPD kann das
schaffen“, beschreibt er dennoch das neue Vorwärts-Gefühl und seine
gewachsene Motivation. Aber man müsse noch zäh bis zum Wahltag
weiterarbeiten.
Auch der Kreisvorsitzende Ralf Wätzig bleibt nüchtern, misstraut den
Umfragen und spricht sogar von Demut. Die vielen Jahre auf der Rutschbahn
scheinen nachzuwirken. Wätzig vergleicht die SPD mit einer
abstiegsbedrohten Fußballmannschaft, die plötzlich überzeugend spielt. Das
bringe einen psychologischen Vorteil. In der Kreisgeschäftsstelle sieht es
aus wie überall im klassischen Straßenwahlkampf. Große Plakate, auf der
Vorderseite Olaf Scholz, auf der Rückseite Kandidat Funke. Der
Kreisvorsitzende ist in mittleren Jahren, aber die Kartons mit einer
Bilanzbroschüre der SPD-Fraktion in der GroKo schleppt ein junger Mann
herein. Nicht nur in Pirna fällt auf, dass sich der Nachwuchs am meisten
engagiert.
Plakat und Broschüre liefern den Anstoß zu einer ersten Erörterung
möglicher Ursachen für die unverhofft wiedererwachte Zustimmung zur SPD.
Der Kanzlerkandidat wird natürlich zuerst genannt, „der Erfahrung hat,
gezeigt hat, dass er Kanzler kann und nicht so ein unglückliches Bild
abgibt wie die anderen“, meint Wätzig. „Jeder Satz stimmt, den er sagt“,
ergänzt der Vorsitzende von Kreisverband und Kreistagsfraktion.
## Nicht nur Scholz?
Einen Tag später wird der junge SPD-Kandidat Harald Prause-Kosubek im
Wahlkreis Görlitz eher auf Distanz zu einem Übervater Scholz gehen. „Mir
ist es zu kurz gesprungen, wenn man den derzeitigen Erfolg auf die Person
Olaf Scholz reduziert oder – was mich noch mehr stört – darauf, dass er von
den Fehlern der anderen profitiert.“ Denn an der Neiße, wo die SPD bei der
Landtagswahl 2019 gar unter die fünf Prozent rutschte, oder an der Elbe bei
Pirna wundern sich Basis und Funktionäre über die veränderte Wahrnehmung
durch die Wähler angesichts sonstiger Konstanten.
„Wir sind von unseren Inhalten nicht plötzlich überzeugter als zuvor“,
heißt es aus dem Juso-Bus in Pirna. „Ich war persönlich stets motiviert,
denn die SPD hat das beste Programm seit Jahren“, drückt es Kandidat Funke
aus. Es gehe um „soziale Politik für die Menschen hier“, flüchtet er dann
aber doch ein bisschen ins Formelhafte.
Das eigentliche Erstaunen der Sozis geht also in Richtung Echo auf ihre als
beharrlich empfundene Politik. Denn man sei schon immer gut, mindestens
ambitioniert und in den Koalitionen als Juniorpartner der Union der Motor
gewesen. Das hätten halt zu wenige registriert. Und verkannt und
unterbewertet fühlen sich die Sozialdemokraten ja schon länger. Außerdem
ziehe man keinen Messias Olaf aus der Tasche, sondern trete mit bewährtem
Personal an.
Die Frage nach Gründen für die relative Erholung der SPD führt zur
Erörterung veränderter Konstellationen. Als einer der wenigen
Angesprochenen in Pirna bleibt ein älterer Herr stehen und souffliert den
Genossen beinahe eine Erklärung. „Die Leute sind halt gezwungen, genauer zu
überlegen, was Sache ist angesichts der Situation“, ist er überzeugt. Die
„Situation“ ist die, dass es keine großen politischen Lager und sie
repräsentierende starke Parteien mehr gibt und mit dem Abschied von
Kanzlerin Merkel auch keine gefühlt dominanten Bewerberinnen und Bewerber
um das Kanzleramt. In seiner Verlegenheit prüfe eben ein wachsender Teil
der Wähler Programme und Leistungen genauer und entdecke so die SPD wieder.
## Wunschkonzert in Zittau
Viel mehr diskutiert als in Pirna wird das beim Zittauer Wochenmarkt. Es
kann nicht nur am zaghaften Sonnenschein liegen, dass es hier lebendiger
zugeht.
Die SPD hat auf dem Wochenmarkt einen Würfel der Wünsche aufgebaut, auf dem
man seine Meinungen und Erwartungen notieren kann. Einen solchen virtuellen
Würfel gibt es auch auf der Internetseite des Kreisverbandes.
Wieder unterstützt eine Handvoll Jusos den nur wenig älteren Kandidaten
Prause-Kosubek auf der Straße. Der tritt im Wahlkreis Görlitz immerhin
gegen den AfD-Kovorsitzenden Tino Chrupalla an, der wiederum 2017 dem wenig
später zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählten Michael Kretschmer das
Bundestagsmandat wegnahm.
„Unser Aufwärtstrend hat auch mit dem Niedergang der Volksparteien zu tun,
die sich jetzt alle bei 20 Prozent begegnen“, bekräftigt der angehende
Student Aaron Michel die These des Pirnaer Fußgängers. Aber die SPD möchte
doch weiterhin Volkspartei bleiben? Ja schon, aber dafür müsse man ihre
Leistungen erst einmal registrieren.
„Wir jedenfalls freuen uns tierisch, etwas in der Stadt zu bewegen“,
strahlt der junge Zittauer Aaron geradezu. Er nennt spontan die
Unterstützung für einen Bürgerentscheid für einen Schulneubau, der von AfD
und Linken abgelehnt wurde, er erwähnt eine sächsisch-tschechische
Arbeitsgruppe gegen die ökologischen Folgen des polnischen
Braunkohletagebaus Turow.
## „Wir waren nie weg!“
„Es gibt längst wieder die solide Arbeit von unten, unabhängig vom
Wahlkampf“, entgegnet sein Freund Philipp Kießlich auf das Zitat eines
älteren Genossen, die SPD existiere in der Lausitz praktisch nicht mehr.
„Wir waren nie weg!“ Philipp bestätigt einen Wiederentdeckungseffekt.
Wahlprogramme, die angeblich keiner liest, gingen neuerdings „weg wie warme
Semmeln“. „Die Leute verstehen, dass ein Wechsel nach 16 Jahren nötig ist�…
behauptet er.
Über Zukunft und Altlasten wird auf dem Markt von Zittau eifrig debattiert,
zwischen SPD-Anhängern und Skeptikern, zwischen Einheimischen und
Touristen, auch westdeutschen. Die Agenda 2010 der Ära Schröder, die der
SPD Stimmen und Mitglieder kostete, sei grausam, aber notwendig gewesen,
sagen die einen. „Das Schicksal ist mit den Gerechten“, orakelt hingegen
ein Hartz-Gegner.
Wie steht es überhaupt mit Kapitalismuskritik bei den Jusos? Aaron rutscht
eine bezeichnende Formulierung heraus. Seine Zukunftsgedanken gingen dahin,
„wie man Kapitalismus weiterhin lebt“. Also „in das bestehende System
hineinwachsen und trotzdem etwas verändern“, will er sich ein wenig
korrigieren und erweist sich doch ganz als Sozialdemokrat.
## Ungewohnte Geschlossenheit
Einen weiteren Erklärungsversuch für den neuerlichen Zuspruch zur SPD hört
man sowohl in Pirna als auch in Zittau. „Zum ersten Mal ist die SPD eine
geschlossene Partei“, ist gleich mehrfach zu hören.
Seit einem Jahr habe sie „einen Zusammenfindungsprozess hingelegt“, heißt
es im Juso-Bus. Und der Spitzenkandidat biete auch keine Angriffsflächen.
Beim Hinweis, [2][dass dieser Olaf Scholz] noch vor Jahresfrist als
Kandidat für den Parteivorsitz unterlag und dass die SPD unschlüssig war,
ob sie überhaupt einen Kanzlerkandidaten nominieren solle, endet allerdings
die Diskussionsfreude der Genossinnen und Genossen.
Wer immer noch zögert, am 26. September mit seiner Stimme die SPD zur
Kanzlerpartei zu machen, dem versüßt in Zittau ein Gläschen Marmelade die
Entscheidung. „Roter Mirabellentraum“, vom Kandidaten Harald Prause-Kosubek
persönlich in seinem Dorfgarten geerntete Früchte. In Pirna verschenken die
Juso-Hochschulgruppen Schonüberzüge für den Fahrradsattel. Nicht in Rot,
sondern in Violett – der sprichwörtlichen Farbe des letzten Versuchs.
Dagegen spricht die Tatsache, dass in Sachsen die Hälfte der
SPD-Direktkandidaten jünger als 35 Jahre ist. Von der „Alten Tante SPD“ mag
man auch angesichts der Juso-Aktivitäten zumindest hier nicht sprechen.
7 Sep 2021
## LINKS
[1] /Umfragehoch-fuer-die-SPD-und-Scholz/!5794354
[2] /Olaf-Scholz-vor-der-Bundestagswahl/!5794166
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
SPD
Sachsen
Wahlkampf
Olaf Scholz
Verschwörungsmythen und Corona
FDP
Schwerpunkt Angela Merkel
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Annalena Baerbock
Kolumne Der rote Faden
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausschlussverfahren gegen Angelika Barbe: Bürgerrechtlerin mit AfD-Sympathien
Einst wirkte sie am Aufbau der Sozialdemokratie im Osten Deutschlands mit.
Nun will sogar die CDU Angelika Barbe nicht mehr in ihren Reihen.
taz-Autor:innen und die Wahl: Shit, ich hab Schwarz-Gelb gewählt
Für wen abstimmen, am 26. September? Schonmal nicht für CDU oder FDP –
diesen Fehler hat unser Autor schon einmal gemacht.
Polarisierende Rede im Bundestag: Merkel legt den Schalter um
Die Kanzlerin greift den SPD-Kandidaten Olaf Scholz unerwartet heftig an.
Der liefert sich anschließend einen Schlagabtausch mit Laschet und
Baerbock.
taz-Autor:innen und die Wahl: Das kleinste Übel – von Herzen
Wen wählen die tazler:innen? Für unseren Autor ist klar: Die Union muss aus
der Bundesregierung raus. Um das zu erreichen, wählt er sogar Olaf Scholz.
Kanzlerkandidatur und Bundestagswahl: Mehr Utopie wagen
Bloß nicht WählerInnen überfordern, lautet die Devise im Wahlkampf. Diese
Ängstlichkeit hat etwas Lähmendes.
Umfragehoch für die SPD und Scholz: Genies, Deppen, Strategien
Ausgeklügelte Taktik oder Zufall? Der überraschende Umfrageerfolg der SPD
und ihres Kandidaten Olaf Scholz beruht vermutlich auf beidem.
Mögliches Bündnis aus SPD, Grünen, FDP: Was kann die Ampel?
SPD, Grüne und FDP könnten die nächste Regierung bilden, unter einem
Kanzler Olaf Scholz. Nur: Da, wo es ums Geld geht, sind die Gräben tief.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.