| # taz.de -- Umfragehoch für die SPD und Scholz: Genies, Deppen, Strategien | |
| > Ausgeklügelte Taktik oder Zufall? Der überraschende Umfrageerfolg der SPD | |
| > und ihres Kandidaten Olaf Scholz beruht vermutlich auf beidem. | |
| Bild: Umfragehoch: Für SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz läuft es gerade prima | |
| [1][Olaf Scholz’] Aufstieg in den Umfragen ist vielleicht nicht die | |
| spektakulärste Auferstehung seit Lazarus, aber schon nahe dran. Dabei war | |
| alles so geplant. Denn bei den Leuten rund um Olaf Scholz hat man sich das | |
| schon vor etwas mehr als einem Jahr in etwa so ausgedacht: Angesichts der | |
| tiefen Krisen und Erschütterungen – jetzt auch noch durch Corona und die | |
| daraus folgende Wirtschaftskrise – werden die Bürgerinnen und Bürger bei | |
| den Bundestagswahlen ein immenses Sicherheitsbedürfnis haben, ein Bedürfnis | |
| nach Stabilität und Solidität. | |
| Da die Bundeskanzlerin kein weiteres Mal antritt, werden diesmal auch | |
| Millionen „Merkel“-Wähler und -Wählerinnen am Markt sein. Wähler_innen d… | |
| Mitte mit leicht progressivem Einschlag, was Modernität, Feminismus, | |
| Gerechtigkeit, Humanität und Weltoffenheit anlangt. Die werden sich erst in | |
| den letzten Wochen vor der Wahl entscheiden, wenn ihnen dämmert, dass „CDU“ | |
| nicht mehr „Merkel“ heißt. | |
| Dies wäre dann die Stunde des Mannes, der als einziger Kanzlerkandidat | |
| wenigstens mit einem „Vizekanzler“-Bonus in die Wahl geht, der wie kein | |
| anderer die Sicherheitsbedürfnisse der Leute repräsentiert und zugleich als | |
| der perfekte [2][Merkel-Nachfolger] erscheint. Dieser Gedankengang scheint, | |
| Stand heute, bemerkenswert gut aufzugehen. Man könnte meinen: Da müssen | |
| Genies am Werke sein. | |
| Nun ist eine Strategie dann perfekt, wenn sie aufgeht. Es wäre aber | |
| natürlich auch möglich gewesen, dass sie nicht aufgeht. Dann wären die | |
| genialen Strategen vielleicht wie Deppen dagestanden. Wir sehen also: | |
| Strategie ist von Glück nie ganz leicht zu unterscheiden. Natürlich gibt es | |
| auch Pläne, die so aberwitzig sind, dass sie niemals funktionieren können. | |
| Eine Strategie ist also nicht viel mehr als ein Planspiel, das eintreten | |
| kann, und eine geniale Strategie ist ein Plan, der zufälligerweise | |
| aufgegangen ist. | |
| Neben dem Glück spielt auch die Hoffnung hinein. Unsere Annahmen, was sich | |
| in Zukunft ereignen könnte, sind nicht nur von der Ratio modelliert, | |
| sondern auch von Gefühlen. „Dass meine Gefühle mein Denken verfälschen | |
| könnten, ist mir eine so beängstigende und widerwärtige Vorstellung …“, | |
| notierte schon der legendäre André Gide in sein Tagebuch. | |
| ## „Bitte, wie?“ | |
| Gerade wenn man sich selbst als rationales Subjekt sieht und die | |
| Überlegungen und Einschätzungen, zu denen man gelangt, als Ergebnis | |
| vernünftigen Abwägens ansieht, stellt die Erkenntnis von Gide ja das eigene | |
| Selbstbild infrage. Von der Art: „Bitte, wie? Das, was ich für meine | |
| rationale Einschätzung halte, halte ich nur für eine solche, weil ich | |
| wünsche, dass es so eintritt?“ | |
| Unsere [3][SPD-Strategen] haben sich obige Strategie so zurechtgelegt, weil | |
| sie wünschten, dass sie eintritt und weil sie sich emotional innerlich dazu | |
| überredeten, sie für eine äußerst wahrscheinliche Variante zu halten. | |
| In komplexen Gesellschaften ist es sowieso verdammt schwierig, Pläne zu | |
| verfolgen, oder besser: Oft wird den gut ausgedachten Plänen durch die | |
| Realität ein Strich durch die Rechnung gemacht. „Ja, mach nur einen Plan! / | |
| Sei nur ein großes Licht! / Und mach noch einen zweiten Plan / Gehn tun sie | |
| beide nicht“, sang der alte Brecht über „die Unzulänglichkeit menschlichen | |
| Strebens“. | |
| Schon Friedrich Engels hat auf seine alten Tage die vulgärmarxistische | |
| Kindischkeit zurückgewiesen, die herrschenden Klassen würden alles | |
| wunderbar manipulieren können. Die materielle Welt, meinte er, ergebe sich | |
| als „Wechselwirkung“, als eine „unendliche Menge von Zufälligkeiten“. | |
| Verschiedene Akteure verfolgten ihre Interessen, widerstreitende | |
| „Einzelwillen“, worauf etwas herauskommt, „das keiner gewollt hat“. | |
| Das erinnert ein wenig an die kühle, systemtheoretische Sprache von Niklas | |
| Luhmann, der darauf hinwies, dass das „System Politik“ über viel mehr | |
| Informationen verfügt, als es verarbeiten kann. Man muss Entscheidungen | |
| treffen, obwohl man eigentlich viel zu wenig über die aktuell wirkenden | |
| Kräfte weiß – ganz zu schweigen von den zukünftigen. Luhmann: „Jeder | |
| Entscheider muss Schemata verwenden, um das, was er nicht weiß, ignorieren | |
| zu können …“ Nachdenkliche Intellektuelle sind daher nicht immer die besten | |
| Staatsmänner und -frauen, einfach, weil sie oft dazu neigen, so lange alle | |
| Für und Wider in ihre Kalkulation einzubauen, bis sie völlig | |
| handlungsunfähig sind. | |
| Aus persönlicher Anschauung darf ich Ihnen verraten: Planlosigkeit ist | |
| natürlich auch keine Lösung. Persönlich bin ich ja ganz schlecht in der | |
| Planerei, werde dann vom Leben durchgebeutelt und dort hingewirbelt, wo der | |
| Zufall mich haben will. Den Unfug, der dabei rauskommt, rede ich mir dann | |
| einfach schön. Hat ganz passabel geklappt bisher, und mit bald | |
| Sechsundfuffzig wird sich an diesem Charakterfehler wohl auch nicht mehr so | |
| viel ändern lassen. | |
| 4 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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