# taz.de -- Parlamentswahlen in Italien: Was wählen und wenn ja, wie viele? | |
> Am Sonntag wird in Italien ein neues Parlament gewählt. Unsere | |
> deutsch-italienische Autorin lebt in Deutschland und fragt: Lohnt sich | |
> Wählen überhaupt? | |
Bild: „Bereit, um Italien wieder zu beleben“: Wahlplakat der rechten Politi… | |
Wieder liegt ein dicker Umschlag im Briefkasten. Absender: Italienisches | |
Generalkonsulat. Ich öffne ihn und lege den Inhalt auf den Küchentisch. Ein | |
blauer und ein grauer Bogen, ein gelber und ein weißer Umschlag. Einen der | |
Bögen falte ich auseinander, lese [1][„Salvini, Berlusconi, Meloni“] auf | |
grün-weiß-rotem Hintergrund, und möchte am liebsten alles wieder einpacken. | |
Ich bin Halbitalienerin und besitze die doppelte Staatsbürgerschaft. Damit | |
darf ich sowohl in Deutschland als auch in Italien wählen. Ich halte den | |
Bogen mit den bunten Logos der verschiedenen Parteien in der Hand und bin | |
überfordert. Wem soll ich meine Stimme geben? Soll ich überhaupt wählen, | |
obwohl ich nicht in Italien lebe? In diesem Moment, in dem sich mein | |
Italienischsein in Form von Wahlunterlagen bemerkbar macht, realisiere ich, | |
wie wenig Ahnung ich von italienischer Politik – vielleicht sogar von | |
Italien selbst – habe. | |
Staatsbürgerin in zwei Ländern zu sein, gefiel mir schon immer sehr. | |
Komisch, denn reale Vorteile hatte ich dadurch nie. Doch irgendetwas in mir | |
regt sich, wenn ich ein Formular ausfülle und bei „Staatsangehörigkeit“ | |
deutsch-italienisch schreiben kann. Sicherlich auch, weil ich in 25 Jahren | |
so gut wie nie schlechte Erfahrungen mit meiner italienischen Identität in | |
Deutschland machen musste. Es sind meine Tanten und Onkel, die mir noch von | |
anderen Zeiten erzählen. | |
Mein „nonno“, mein italienischer Opa, kam in den 1950er Jahren vom | |
sizilianischen Land als Gastarbeiter nach Baden-Württemberg. Meine Oma | |
folgte ihm – mit neun Kindern. Der Jüngste von ihnen war mein Vater. Ich | |
bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und konnte, bis ich 18 war, | |
nicht flüssig Italienisch sprechen. | |
Nach dem Abitur absolvierte ich einen Freiwilligendienst in Italien, um das | |
zu ändern. Im Sprachkurs warnte die Lehrerin mich und andere | |
Kursteilnehmer:innen vor der Lega Nord, wie die rechtspopulistische | |
Lega damals noch hieß. Wirklich einordnen konnte ich die Partei da noch | |
nicht, geschweige denn ahnen, dass sie in ein paar Jahren an der Regierung | |
beteiligt sein würde. | |
## Versuche, die italienische Politik zu verstehen | |
Es ist nicht so, als hätte ich nie versucht, das politische Geschehen in | |
Italien zu verfolgen. Immer wieder starte ich einen neuen Anlauf. Im Kopf | |
bleiben mir einzelne Namen, die ich – werde ich auf die Politik im | |
Herkunftsland meines Vaters angesprochen – abspule: Berlusconi, Renzi, | |
Conte, Draghi, Salvini, Meloni. Peinlicherweise kann ich nur zu denen mehr | |
sagen, die wegen ihrer Skandale und unmöglichen Aussagen in der | |
Öffentlichkeit stehen. | |
Ich höre mich bei meiner Familie um. Die meisten behielten ihre | |
italienische Staatsbürgerschaft oder haben – wie ich – den Doppelpass. In | |
der Whatsapp-Gruppe mit den Cousinen und Cousins frage ich: „Wer will mit | |
mir über die Wahlen in Italien reden?“ Die Begeisterung hält sich in | |
Grenzen. Eine Cousine schreibt, sie empfinde sich als Außenstehende, die | |
nicht viel dazu sagen könne. | |
„Nein zum Trio infernale Meloni, Salvini und Berlusconi“, schreibt mein | |
Cousin Giuseppe. Wir telefonieren. Er erzählt, dass er sich seit einigen | |
Jahren dafür interessiere, was politisch in Italien los ist. [2][Die | |
angekündigten Steuerentlastungspakete des rechtskonservativen Trios] seien | |
leere Versprechen. „Ich wähle auf jeden Fall“, sagt er. Auch meine Tante | |
schreibt, sie habe bereits gewählt. Trotzdem sagt sie: „Gina, auch wir | |
haben Schwierigkeiten. Wir verfolgen die italienische Politik nicht so | |
sehr.“ | |
Das gibt mir zu denken. Ist das, was meine Cousine, meine Tante und ich | |
fühlen, Politikverdruss? [3][Der scheinbar ständige Regierungswechsel in | |
Italien] überfordert mich. Das Draghi-Kabinett war das 69. nach 1945. Zum | |
Vergleich: Das Scholz-Kabinett ist das 24. seit Adenauer. | |
Ich beginne, mehr Artikel zur italienischen Wahl zu lesen, schaue nach, was | |
Menschen schreiben, die schon lange ein Auge auf die Entwicklungen in | |
Italien haben. Lese ich über den Zuspruch, den die Faschistin Giorgia | |
Meloni bekommt, schnürt sich mir die Kehle zu. Die Prognosen sehen sie | |
eindeutig vorne. „Dieses Jahr wähle ich!“, entscheide ich. | |
Wird meine Stimme den Unterschied machen? Wahrscheinlich nicht. Dennoch | |
steigt in mir das Bedürfnis, am demokratischen Prozess teilzunehmen und | |
Meloni nicht den haushohen Wahlsieg zu gönnen. | |
## Auslandsitaliener durften nicht wählen | |
Um letzte Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen, rufe ich eine Expertin an. | |
[4][Edith Pichler ist gebürtige Italienerin] und forscht an der Universität | |
Potsdam zu den Themen Migrationspolitik und interkulturelles Zusammenleben. | |
„Lange Zeit durften Auslandsitaliener gar nicht wählen“, sagt sie. Zu groß | |
war die Angst vor Wahlmanipulation. | |
Nicht ganz zu Unrecht, wie der Fall von Nicola di Girolamo zeigt. Nach | |
seiner Wahl zum Senator im Jahr 2008 vermutete man Wahlbetrug, begangen von | |
der kalabrischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta. Sie soll Blankowahlzettel | |
von migrierten Italiener:innen im Raum Stuttgart aufgekauft und | |
zugunsten di Girolamos ausgefüllt haben. | |
Das Wahlrecht für Auslandsitaliener:innen gehe auf den Politiker | |
Mirko Tremaglia zurück, erklärt Edith Pichler. Tremaglia war seinerzeit | |
Mitglied der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano und später | |
in deren Nachfolgeparteien. Von 2001 bis 2006 war er unter Silvio | |
Berlusconi „Minister für die Italiener in der Welt“. Die Gesetzesänderung | |
war eine seiner größten Errungenschaften. | |
Seit 2001 dürfen Auslandsitaliener:innen zwölf Mitglieder in die | |
Abgeordnetenkammer und sechs Senator:innen wählen. Mit dem | |
Verfassungsreferendum 2020 zur Verkleinerung des Parlaments sind es nur | |
noch acht Abgeordnete und vier Senator:innen. Ich habe einem Faschisten zu | |
verdanken, dass ich eine Stimme gegen Faschist:innen abgeben darf. | |
## Komplizierte Wahlunterlagen | |
„Die Wahlbeteiligung der Auslandsitaliener ist aber sehr gering“, sagt | |
Pichler. Bei der letzten Parlamentswahl 2018 beteiligten sich nur knapp 30 | |
Prozent. Auffällig ist die hohe Zahl ungültiger Stimmen: Elf Prozent der | |
Stimmen von Auslandsitaliener:innen waren nach Angaben des | |
italienischen Innenministeriums vor vier Jahren nicht gültig. | |
Mit Blick auf meine Wahlunterlagen wundert mich das nicht. Zwar ist ein | |
Schreiben beigelegt, das in genauen Schritten erklärt, was zu tun ist, aber | |
selbst nach mehrmaligem Lesen bin ich immer noch verunsichert, wo genau ich | |
mein Kreuz setzen soll. | |
Erst nachdem mir eine italienische Freundin in einer zweiminütigen | |
Sprachnotiz erklärt, dass ich das Kreuz auf das Parteisymbol setzen und die | |
Nachnamen der Abgeordneten auf die Linie daneben schreiben muss, ist alles | |
klar. | |
Edith Pichler spricht noch ein weiteres Problem an: „Deutsch-Italiener sind | |
nicht präsent in der deutschen Politik.“ Zwar dürfen die migrierten | |
Italiener:innen wie mein Vater und seine Geschwister an den | |
italienischen Wahlen teilnehmen, aber um in Deutschland über die | |
Kommunalwahlen hinaus wählen oder gar selbst kandidieren zu können, | |
brauchen sie die deutsche Staatsbürgerschaft. | |
Seit 2002 können sich Italiener:innen einbürgern lassen, ohne die | |
italienische Staatsbürgerschaft zu verlieren, erklärt Pichler. Dafür müssen | |
sie mindestens acht Jahre in Deutschland leben, 255 Euro zahlen, vorweisen, | |
dass sie keine Sozialleistungen beziehen und einen Einbürgerungstest | |
bestehen. | |
Diesen Schritt gingen viele Italiener:innen nicht. „Einige fragen sich, | |
wozu sie den Aufwand betreiben sollen, wenn sie sonst keine Nachteile hier | |
in Deutschland haben“, sagt Pichler. Vor allem unter | |
Gastarbeiter:innen gebe es die Haltung: Warum soll ich Geld dafür | |
zahlen, um Bürger:in in dem Land zu werden, für das ich so viel geleistet | |
habe? | |
## Letzte Zweifel | |
„Es ist auch eine gewisse Frage der Würde“, sagt die Wissenschaftlerin. | |
„Die Gastarbeitergeneration hat verpasst, politisch aktiv zu werden“, | |
ergänzt sie. Es gebe aber auch Ausnahmen. Besonders in Gegenden wie | |
Wolfsburg und Saarbrücken, in denen viele Gastarbeiter:innen ankamen, | |
engagierten sich Italiener:innen in Gewerkschaften und der SPD. | |
Endlich, in der Woche vor der Frist, falte ich die ausgefüllten Wahlbögen | |
zusammen und stecke sie in den kleinen weißen Umschlag und diesen dann mit | |
dem Wahlschein in den größeren gelben Umschlag. | |
Während ich zum Briefkasten laufe, melden sich noch einmal letzte Zweifel. | |
Beteilige ich mich an einer Wahl, die gar nicht meine Wahl ist? Die | |
Gesichter von Meloni, Berlusconi und Salvini tauchen vor meinem inneren | |
Auge auf. Ich denke an Geflüchtete und Schutzsuchende, die auf Anweisung | |
von Matteo Salvini tagelang auf einem Schiff im Hafen von Catania ausharren | |
mussten. | |
Ich denke an den korrupten Silvio Berlusconi, der wissentlich die | |
Prostitution Minderjähriger förderte. Ich denke an Giorgia Meloni und ihre | |
Behauptung in einem Interview 1996, dass der Faschistenführer Benito | |
Mussolini ein „guter Politiker“ gewesen sei. Die Zweifel verfliegen und | |
mein Umschlag fällt durch den Briefkastenschlitz. | |
22 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Gina La Mela | |
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