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# taz.de -- Folgen der hohen Gaspreise: Gas contra Glas
> Auf der italienischen Insel Murano wurde jahrhundertelang Glas
> hergestellt. Heute sind kaum noch Öfen in Betrieb. Die Gaspreise bedrohen
> das Handwerk.
Bild: Handwerk, das einer Kunst gleicht: Glasmacher in Murano
Brücken, niedrige Häuser und schmale Gassen entlang der Kanäle, die wenig
Platz lassen für die Tische und Stühle der sie säumenden Cafés und
Restaurants, und das blaugrün schimmernde Wasser der Lagune – Murano wirkt
auf den ersten Blick im September nicht anders als Venedig – nur kleiner,
weniger imposant und angeberisch. Die Auslagen der Geschäfte sind gefüllt
mit Andenkenkitsch, Schmuck und Schöner-oder-schrecklicher-wohnen-Artikeln
wie Tellern, Gläser oder Vasen in allen Farben, Mustern, Schattierungen –
handgemacht aus [1][Murano]. Die Tourist:innen tragen Taschen mit den
Namen der berühmten Glasmanufakturen Venini oder Cenedese durch die Straßen
wie anderswo die Namen teurer Parfümiers oder Couturiers.
Aber kein Plakat oder Schild an einem der Geschäfte oder Cafés, das
verkündet: Wir sind bedroht, es geht uns nicht gut, es geht uns eigentlich
ziemlich dreckig. Kein öffentlicher Aufschrei: Vielleicht gibt es uns bald
nicht mehr.
Die Glasproduktion ist die Existenzgrundlage der Insel und Grundlage ihrer
kulturellen Identität seit Jahrhunderten. Die gibt man nicht so schnell auf
und nicht so schnell preis. Das ist die Krux an der Sache. „Was man in den
Geschäften sieht, kommt letztlich meist von uns“, sagt Cristiano Ferro.
„Wir verkaufen, was das Magazin hergibt, aber irgendwann ist Schluss.“
Seine Firma [2][Effetre Murano] stellt als einziger Betrieb der Insel Glas
als Vor- oder Halbprodukt her, die semilavorati, die von lokalen
Glasmanufakturen weiterverarbeitet werden.
Schon jetzt lassen sich im Lager von Effetre nicht mehr alle der rund 200
Farbnuancen finden. Ferro führt durch die Gänge der Halle, wo in
Holzregalen Glas in langen Stangen nach Farben und Durchmesser sortiert
steht: bei den Orangetönen klaffen Lücken, und das besondere
Filigrano-Glas, transparent und mit feinen Farblinien durchzogen, ist aus.
„Wir nehmen derzeit keine Aufträge an“, sagt Ferro. Alle 13 Brennöfen von
Effetre sind kalt, die Produktion ist stillgelegt. 32 Menschen arbeiten
hier, eigentlich, zwölf Angestellte sind bereits in Kurzarbeit. Ferro,
kurze Jeans, staubiges T-Shirt, führt in sein kleines Büro. Er steht,
während er redet, die Zeit drängt; am Abend wird die [3][Glasweek in
Venedig] unter Sturzregen eröffnet werden, eine jährlich stattfindende
Großveranstaltung rund um Glaskunst mit Workshops, Panels, Ausstellungen.
Dort muss Ferro als Vizepräsident der Sektion Glas im italienischen
Industrieverband Confindustria Venezia Gesicht zeigen.
1996 zählte Murano noch 266 Glasmanufakturen, übrig geblieben sind an die
60, die sich über die Inselgruppe verteilen. Murano gilt als das Mekka des
Glases, in den Augen seiner Käufer:innen ebenso wie in den Augen seiner
Produzent:innen. Gebrannt aus Quarzsand, Silizium, Soda und anderen
mineralischen Stoffen – jeder Glasmacher hat seine eigene wohlgehütete
Mischung und Rezeptur – ist Muranoglas nicht nur von höchster Qualität,
sondern auch gleichbedeutend mit Glaskunst: über das Blasen, Formen und
Bearbeiten von Glas zu Gläsern, Schalen, Skulpturen oder Kronleuchtern, die
bis heute Paläste von Potentaten und Milliardär:innen schmücken. Oder
aber als Lichtinstallationen ihren Weg in die Welt der Kunst und Technik
gefunden haben.
## Die Preise gehen durch die Decke
Bis auf zwei große Firmen und einige ganz kleine haben alle Betriebe auf
Murano ihre Öfen nach der jährlichen Sommerpause nicht wieder in Betrieb
genommen, bestätigt Ferro. Es folgen Zahlen, Rechenbeispiele, fantastische
Summen. 165.000 Kubikmeter Gas verbraucht durchschnittlich sein Betrieb im
Monat. Lag der Gaspreis im Oktober 2020 noch bei 21 Cent pro Kubikmeter,
belief er sich ein Jahr später bereits auf 60 Cent und flottierte im August
2022 bei wahnsinnigen 2,60 Euro.
Explosiv die Kosten, die Zahlen, die Rechnungen: Statt 35.000 Euro wie
einst zahlte Effetre, so sagt Cristiano Ferro, im August 350.000 Euro für
die gleiche Menge Gas. Statt 300.000 seien es nun 3 Millionen im Jahr, so
geht es weiter und wird so schnell kein Ende nehmen. Ähnliche Berechnungen
stellten alle Betriebe an, mit denen die taz gesprochen hat. Insolvenz habe
noch keiner in Murano angemeldet, weiß Ferro; zumachen, abwarten sei die
Maxime im Moment.
Schon vor der Eskalation durch den russischen Angriff auf die Ukraine hatte
Muranoglas mit Widrigkeiten und dem Niedergang zu kämpfen: das
zerstörerische Hochwasser von 2019, der Einbruch des Tourismus durch Corona
und ein sich verändernder Weltmarkt, der Imitate aus Asien in die Geschäfte
spülte. Neuerdings gibt es ein Label, das die Herstellung des Glases auf
Murano garantiert. Nicht jeder Betrieb macht da mit, auch das eine
Besonderheit der Insel, wo sich die alteingesessenen Familien oft mit
Misstrauen begegnen.
Bis heute ist Murano familiär, patriarchalisch, handwerklich geprägt. Das
hat seinen Ursprung in der Inselgeschichte. Nachdem sich im Mittelalter die
Republik Venedig zum Zentrum der europäischen Glasherstellung entwickelt
hatte, verbannte der Doge im Jahr 1295 die Glashütten nach Murano. Es trug
zur Isolation des Berufsstandes des Glasmachers bei, dem es bei Strafe
verboten war, die Insel zu verlassen und seine Rezepturen in die Welt zu
tragen. Erst das böhmische Glas brach im 18. Jahrhundert das Monopol der
Insel bei der Glasherstellung. Murano verkümmerte in Zeiten der
Industrialisierung, bis es sich im 20. Jahrhundert mit Glaskunst neu
erfand.
## „Die EU hat versagt“
„Ein Preisdeckel für Gas wäre ein starkes Symbol“, sagt Luciano Gambaro v…
[4][Consorzio Promovetro Murano], dem das Herkunftslabel Vetro Artistico
Murano zu verdanken ist. „Die EU hat wieder mal versagt und keine Einigung
zustande gebracht.“ Gambaro führt einen kleinen Betrieb, ein Teilhaber,
sieben Angestellte und einen von drei Öfen in Betrieb. Einen Monat halte er
noch durch, sagt Gambaro. Der Festpreis für die Glasindustrie, der früher
jährlich neu ausgehandelt wurde, sei aufgehoben, ab Oktober sollen die
Firmen ihre Zahlungen monatlich im Voraus begleichen – oder eine feste
Abnahmemenge garantieren. Wer kann das schon im Moment?
„Wir haben bereits im vergangenen Oktober Alarm geschlagen“, erklärt
Gambaro. Auch Sand und andere benötigte Rohstoffe zur Glasherstellung seien
vielfach teurer geworden. Die Region Venetien bewilligte im Dezember 2021
einen Hilfsfonds von 3 Millionen; die Gelder sind aufgebraucht. Im Frühjahr
stellte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung einmalig 5
Millionen Euro für Murano bereit. „Die bürokratischen Hürden sind enorm“,
sagt Gambaro. Sein Kollege Cristiano Ferro als Vertreter der Confindustria
Vetro kann sie genau beziffern: nur 10 Prozent der Hilfsgelder seien bisher
bei den antragstellenden Firmen eingegangen.
Ferro weiß von Firmen, die in der falschen Gewissheit, sie bekämen einen
Teil der Rechnungsbeträge rückerstattet, die Summen vorfinanziert hätten.
Nun sitzen sie vor kalten Öfen – und warten, wie alle gerade warten. Die
Situation erschwerend kommt hinzu, dass ab dem 1. Juli die EU-Regelung für
die „De-minimis-Beihilfen“ wieder in Kraft getreten ist, wonach Betriebe
aus Gründen drohender Wettbewerbsverzerrung nicht mehr als 200.000 Euro in
einem Zeitraum von drei Jahren als Hilfsgelder bekommen dürfen. „Die sind
im Nu erreicht“, sagt Ferro.
Die in Rom noch amtierende Regierung Draghi hat zusätzlich zu dem im Januar
beschlossenen Maßnahmenpaket von 33 Milliarden Euro vor ein paar Wochen ein
Hilfspaket von 14 Milliarden Euro zur Unterstützung von in Not geratenen
Familien und Unternehmen verabschiedet. Betriebe können so ein Viertel
ihrer Energiekosten erlassen bekommen, erklärt Ferro. „Draghi macht, was er
kann“, lobt Ferro den scheidenden Ministerpräsidenten. Doch am 25.
September wird in Italien gewählt und „alle Parteien versprechen alles“,
auch den Gaspreisdeckel, für den sich schon die amtierende Regierung auf
EU-Ebene vergeblich eingesetzt hat.
Gibt es Alternativen zu Gas? Luciano Gambaro hat früher mit Wasserstoff als
Energieträger experimentiert, das Ergebnis sei unzureichend gewesen. „Es
wird noch 15 Jahre dauern, bis das gut machbar ist.“ Gambaro stammt aus
einer Glasbläserdynastie. Er verweist auf ein Foto im Flur, das seinen
Großvater als Vertreter Italiens bei der Expo 1934 in Chicago zeigt. Die
elektrischen Öfen, die manche Betriebe einsetzen, funktionierten nicht gut,
sagt Gambaro. Bei Muranoglas kommt es schließlich auf die Konsistenz, die
Elastizität des Glases und die Intensität der Farben an. „Das ist eine
Frage der Qualität“, sagt Gambaro. „Alle Materialien sind auf Methan
ausgerichtet.“
## Uralte Traditionen und uralte Öfen
Roberto Beltrami, Inhaber von [5][Waveglass Murano], geht mit der
Problematik anders um – offensiver. Er hält drei von fünf Öfen am Laufen
und hat in den letzten Jahren zwei alte durch neue, effizientere ersetzt.
Eine Investition, die rund 70 Prozent Energieersparnis bringe. Bezogen hat
Beltrami den neuen Ofen aus den USA, wo er einige Jahre lebte. „Die
Denkweise hier ist nicht sehr aufgeschlossen“, sagt der 32-Jährige in
schwarzem T-Shirt, schwarzer kurzer Hose in seinem Büro. „Sie haben uralte
Traditionen und uralte Öfen.“ Es klingt ebenso großspurig wie verächtlich
und gründet doch auf Erfahrung. „Alle leben hier wie vor 30 Jahren, aber
die Welt draußen hat sich verändert.“
Sie beschert neue Techniken, neue Technologien. Doch ein neuer Ofen reicht
nicht. „Man muss wissen, wie er funktioniert, und seine Arbeitsweise
anpassen“, sagt Beltrami, dem sein Physikstudium viel geholfen hat. „Die
Arbeitsweise ist anders, das Resultat das gleiche.“ Wie zum Beweis bringt
ein Assistent eine Karaffe Wasser und zwei hausgemachte Muranogläser für
die Gäste.
2010 ist Beltrami nach Murano gekommen. Gelernt hat er bei Pino Signoretto,
einem bekannten Glasmeister. Etwa 20 Jahre Erfahrung braucht ein
Glasbläser, um Meister genannt zu werden; einen offiziellen Titel oder
Ausbildungsweg gibt es nicht. 2017 hat sich Beltrami, gebürtig aus Brescia,
selbständig gemacht. Er ist Außenseiter geblieben. „Ich habe es aufgegeben,
Arbeiter von der Insel zu suchen.“ Die meisten jungen Leute gehen weg; wer
geblieben ist, hat schon einen Job, im Familienbetrieb, oder macht seinen
eigenen Laden auf.
Nach der Stunde kollektiver Mittagspause demonstriert Beltrami mit seiner
Glasbläserpfeife, die in Wahrheit ein langes Blasrohr ist, seine Kunst. Aus
den Lautsprechern erklingt Musik, hinter einer Absperrung stehen
Zuschauer:innen und schauen dem vierköpfigen Team bei ihren
Arbeitsschritten zu. Schnell, präzise, akrobatisch. „Es ist mehr Sport als
Handwerk“, sagt Beltrami, er schwitzt. Die Handreichungen sind abgestimmt,
müssen sitzen. Glasblasen ist Teamarbeit. Gesprochen wird ein Mix aus
Englisch und Italienisch.
Mehrere Blasrohre stehen vorbereitet an einen der großen Öfen gelehnt. Die
Spitze der Stange mit der Rohmasse wird im glühenden Ofen erhitzt. Die
Temperatur beträgt zwischen 1.100 und 1.400 Grad. Das Rohr wird gedreht und
gerollt, in Farbpartikeln gewälzt, geschwenkt und wieder erhitzt,
zwischendurch auf einer Bronzeplatte abgekühlt; dann kommt ein kurzer
Moment, in dem Beltrami in das Rohr bläst und die Masse am Ende der Stange
Farbe und Form annimmt. Zangen, Utensilien zum Schleifen und Bearbeiten
liegen bereit, seit Jahrhunderten unverändertes Werkzeug.
Später wird die Blase in eine Form gepresst, als Letztes erhält sie die
Signatur des Hauses eingeprägt. Das erhitzte Glas verträgt keine knalligen
Temperaturschwankungen, es ist ein ständiger Wechsel von Erwärmen und
Abkühlen. Danach kommt das fertige Glas in einen kleinen Ofen zum
Auskühlen.
Die Gläser zählen zur Standardproduktion, unaufwendig und nicht so teuer.
Aber schon zweimal hat Beltrami in diesem Jahr seine Preise erhöhen müssen,
zuletzt im August um 35 Prozent. „Mein Ziel ist es, eine neue Generation
von Glasbläser:innen heranzubilden“, sagt Beltrami. Er fängt im Oktober
damit an, dann kommen vier Praktikantinnen.
## Von Männern geprägt – aber das ändert sich gerade
Denn Murano ist nicht nur patriarchalisch geprägt, auch das Handwerk selbst
befand sich stets in Männerhand. „Nur Perlen waren eine weibliche Domäne“,
erklärt Susanna Sent, die mit ihrer Schwester Marina ein eigenes
Unternehmen führt. Beide Großväter besaßen Glasfabriken. „Dort arbeiteten
60 Männer in Tag- und Nachtschichten und stellten Gebrauchsgegenstände her:
Gläser, Schüsseln.“ Diese reine Männerwelt zu betreten sei für ein Kind
oder eine junge Frau undenkbar gewesen, sagt Chiara Sent.
Die Zeit der Massenproduktion ist vorbei, inzwischen firmiert Muranoglas im
Luxussegment. [6][Susanna und Marina Sent] trennten sich 1994 geschäftlich
von der Familie, durchaus erfolgreich; ihre Entwürfe finden sich
mittlerweile im Shop des Museum of Modern Art in New York. „Wir haben mit
der Vergangenheit gebrochen, aber in Respekt vor der Tradition“, sagt
Susanna Sent.
Der riesige weiße Showroom ihrer Boutique auf Murano verströmt sanfte
Eleganz, das Gegenteil der vollgestopften Souvenirläden auf den Straßen.
Ein großer Brennofen passt hier nicht ins Design. Die Sent-Schwestern
machen ausschließlich Verarbeitung und Veredelung von Muranoglas, das sie
vorgefertigt von Effetre Murano beziehen. Im ersten Stock ihrer
Niederlassung hängen gläserne Gewänder, die bei näherer Betrachtung aus
vielen transparenten Glaskugeln gefertigt sind. Es sind eher Stücke für
eine Theaterbühne oder Ausstellungshalle, so fließend, zerbrechlich und
hart, wie nur Glas sein kann.
„Wir haben keinen hohen Gasverbrauch“, erklärt Susanna Sent. „Wir arbeit…
mit kleinen Elektroöfen und für den Schmuck mit dem Gasbrenner, der
verbraucht weniger.“ Trotzdem sei die Lage schwierig, weil die Materialien
rar würden. Manchmal entwerfen die Sents auch große Objekte und Skulpturen,
die sie zusammen mit Glasmeistern in deren Werkstätten ausführen. Wenn die
Krise vorbei ist. Sind Sie optimistisch, Susanna? – „Ich bin müde.“
Ein Generationenwechsel steht an, und es ist sicher kein Zufall, dass
Jüngere, Außenstehende den Neuanfang gewagt haben. Sie können besser
verkaufen, sie verfügen über eine Werbestrategie, so wie der
Zwei-Frauen-Betrieb El Cocal, der sich in „Vetraie Ribelli“ – Rebellische
Glasmacherinnen – umbenannt hat. Mit der Coronapandemie haben sie vor zwei
Jahren ihr Atelier auf Murano aufgemacht, mit der Gaskrise haben sie –
symbolisch am 8. März – wieder zugemacht, nachdem sie eine
Dreimonatsrechnung von 53.000 Euro erhalten haben. Das Schild zu ihrem
Atelier am Fondamento Venier haben sie bereits abgenommen, drinnen denken
sie derweil über neue Strategien nach, während die Hündin Afa um ihre Beine
strolcht.
## Nur nicht aufgeben
Aufgeben wollen Mariana Olioboni, 32, und Chiara Lee Taiarol, 35, nicht.
Bei der Glasweek sind sie präsent, laden Publikum in ihr Studio. Taiarol
will zeigen, dass sich mit dem Gasbrenner sogar Gläser herstellen lassen,
bislang wurde damit traditionell Schmuck modelliert. „So zu arbeiten ist
schöner, aber auch anspruchsvoller“, sagt sie, während sie sich über die
Gasflamme beugt. Muranoglas brauche Leichtigkeit, sei sehr empfindlich. „Es
vergibt einem nichts, wenn man sich vertut. Man muss immer präsent sein,
immer präzise. Die Gasflamme ist ein 1.100 Grad heißer Direktstrahl. Ein
Trinkglas damit auf den Punkt zu bringen ist schwierig.“
Während sie redet, fabriziert sie einen zarten Kelch an einem langen Stil.
„Man verfällt dem Glasmachen oder nicht“, sagt sie. „Es ist wunderschön
anzusehen. Man muss sich fokussieren. Mir hat es das Leben gerettet. Und
Mariana auch.“
Die beiden Frauen haben sich an der Oberschule kennengelernt. Taiarol,
Halbamerikanerin, musste nach ihrer Ausbildung in Seattle, dem Zentrum
US-amerikanischer Glaskunst, lange suchen, um das Metier dort zu lernen, wo
sie es sich wünschte. „Ich fühle mich Murano sehr verbunden. Mir gefallen
die alten Traditionen. Trotzdem müssen wir weitergehen, etwas Neues
anfangen“, sagt sie. „Der einzige Weg ist: die Kunst mit dem Glas zu
verbinden.“
Kunst, das hieß, sich von Marco Signoretto, Glasmeister aus Murano, bekannt
für seine Lichtinstallationen, anlernen zu lassen; Kunst, das hieß, im
Studio von Adriano Berengo, einem in Murano ansässigen Impresario und
Galeristen, mitzuarbeiten. Als Taiarol während der Pandemie arbeitslos
wurde, entschied sie sich, etwas Eigenes aufzumachen; ihre Partnerin
Mariana Oloboni stieg mit ein
Wie kann es jetzt weitergehen? „Wir überlegen“, sagt Taiarol, „das Ateli…
ganz aufzugeben.“ Workshops anbieten, Öfen anmieten. „Die Idee ist, Murano
nach Italien zu tragen.“ Was dann von Murano bleibt?
Die Jüngeren wie Taiarol, Oliboni oder Beltrami nehmen für sich in
Anspruch, innovativ zu sein. Ob sie das auf dem künstlerischen Gebiet auch
sind, wird sich zeigen. Sie stehen am Anfang ihrer Laufbahn. Doch sie
bewegen etwas, das über die Gaskrise hinausweist. „Es ändert sich“, sagt
Chiara. „Es gibt eine neue Generation. Wir sind zwar wenige, aber es gibt
uns.“
## Murano droht der Übertourismus
Bisher lebte man auf Murano vom Glas und nahm die Touristenscharen
billigend in Kauf. Sie kauften Souvenirs, buchten Werkstattbesuche,
konsumierten in den Cafés. Der Hauptanteil des Umsatzes ging in den Export,
vor allem in die USA. Doch dort, wo in den letzten Jahren Glasmanufakturen
in Murano zugemacht haben, sind bereits zwei noble Hotels eingezogen.
Sollten noch mehr Betriebe schließen, droht der Insel, was auch Venedigs
Substanz zerstört, nicht die bauliche, sondern die menschliche: ein
Übertourismus, der die Einheimischen vertreibt.
Die Glaskunst von Murano spielt auf verschiedenen Plätzen, in verschiedenen
Ligen. Während auf der Insel die kleineren Firmen um ihre Existenz bangen,
kann man in der Basilika San Giorgio Maggiore in Venedig eine Ausstellung
des exilierten chinesischen Künstlers [7][Ai Weiwei] besichtigen. Betitelt
nach Dantes „Göttlicher Komödie“, wird die Klosteranlage mit Bildern aus
Lego und Skulpturen aus Holz und Glas bespielt. Ein neun Meter langer
Kandelaber aus schwarzem Muranoglas hängt von der Kirchendecke, in 2.000
Einzelteile zerbrochen. Er zeugt von der Morbidität des Lebens – und davon,
dass Muranoglas weiterhin eine Zukunft hat.
22 Sep 2022
## LINKS
[1] https://hallo-venedig.com/murano/
[2] https://www.effetremurano.com/
[3] https://www.theveniceglassweek.com/
[4] https://www.promovetro.com/en/
[5] https://wavemuranoglass.com/
[6] https://www.inspirock.com/italy/murano/marina-e-susanna-sent-a189041753
[7] https://artinwords.de/venedig-abbazia-di-san-giorgio-maggiore-ai-weiwei-la-…
## AUTOREN
Sabine Seifert
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