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# taz.de -- Wahl in Italien: Italien hat Angst
> Die wahren Probleme werden im italienischen Wahlkampf nicht besprochen:
> Weder die Klimakrise, noch die Mafia oder die Armut im Land.
Bild: Parteigänger der postfaschistischen Fratelli d'Italia nach einer Wahlkam…
In seinen letzten Lebensjahren war ich mit dem Schriftsteller Peter O.
Chotjewitz (1934–2010) befreundet. Wir waren uns nicht in allem einig, aber
wir redeten und lachten gern, hatten also eine tiefe Abneigung gegen
deutsche Miesepetrigkeit und führten das nicht zuletzt auf unsere
Italienerfahrung zurück. Chotjewitz war mir auch da weit voraus.
Er hatte lange in Rom gelebt und mit seiner Frau Renate die Stücke des
Literaturnobelpreisträgers Dario Fo und dessen Lebensgefährtin Franca Rame
übersetzt. Und wahrscheinlich, erzählte er mir, wäre er für immer am Tiber
geblieben, wenn nicht seine Söhne ihn gebeten hätten, nach Deutschland
zurückzuziehen: Es sei den Kindern schlicht zu heiß geworden in einem
Moloch, den man nur für ein paar Wochen Urlaub gegen ein Strandhäuschen
tauschen kann und in dem man die restlichen langen Sommermonate elend
schwitzt. Als guter Vater gab Chotjewitz nach und zog zurück zu Nebel und
Kühle.
## Verheerende Waldbrände
Das war in den frühen 1970er Jahren, ungefähr zu der Zeit, als der Club of
Rome sein erstes Manifest vorlegte, in dem von den absoluten
Wachstumsgrenzen der Erde die Rede war. Fünfzig Jahre später erleben wir,
was das konkret bedeutet: Selbst unsere nördlichen Sommer fühlen sich
zunehmend unangenehm, ja unheimlich an.
Würde man da nicht vermuten, dass nie gesehene Tiefststände des Po,
absterbende Olivenbäume in Umbrien, verheerende Waldbrände in Kalabrien,
auf den tödlich heißen Feldern Apuliens elend krepierende migrantische
Erntearbeiter, tropische Krankheiten übertragende Parasiten in Venetien und
verheerende Überschwemmungen in den Marken nun gerade in einem Land mit
einem so verletzlichen Landschaftsbild wie Italien zumindest im Wahlkampf
für Aufregung sorgen?
## Klimakrise, welche Klimakrise?
Wenn ich die Berichte und Posts meiner italienischen Bekannten durchsehe,
findet sich davon fast nichts. 42 Grad am Abend in Syrakus, schrieb einer
nach dem Besuch im antiken Theater, und dann nur: „Ganz schön heiß.“ Als
ich im vorigen Jahr für eine Nachrichtensendung der RAI die deutschen
Wahlergebnisse kommentierte, schmiss mich die Moderatorin aus der Sendung,
als ich auf die größte Herausforderung für uns alle zu sprechen kam, die
Klimakatastrophe.
Es ist, als bestätige sich das Bonmot von Fellinis Drehbuchautor Ennio
Flaiano: „Die Italiener lieben die Hölle: Alle sind nackt und es ist schön
warm.“ Die Schriftstellerin Francesca Melandri beantwortet die von ihr in
einem Facebook-Post gestellte Frage, wie man einem Deutschen oder Franzosen
den aktuellen italienischen Wahlkampf erklären solle auf Nachfrage dann
auch selbst so: „Die wichtigen Dinge dieses Wahlkampfs, ja dieses heutigen
Italiens sind die, über die nicht gesprochen wird.“
## Die italienischen Medien versagen
Italien ist schön, macht aber viel Arbeit, möchte man mit Karl Valentin
sagen. Das Land, das sich dem Fremden so zugänglich zeigt, das eine
wunderbar melodische, zumindest in den Grundlagen nicht schwer zu
erlernende Sprache hat, ist auch Heimat Dutzender Dialekte und
Regionalsprachen sowie der „misteri italiani“, der ungezählten ungeklärten
Morde, Anschläge und Affären. Die italienischen Medien helfen bei der
Orientierung nur bedingt. Sie bilden genussvoll politische Volten,
Hinterzimmerverhandlungen, Skandale und Fauxpas („gaffe“) ab; was aber nun
eigentlich inhaltlich von der Politik als wichtig erachtet und beschlossen
wird, lässt sich ihnen nur unter großen Mühen entnehmen.
Eine gewisse Biegsamkeit zeigen auch Italiens Volksvertreter:innen. In der
mit der Wahl am kommenden Sonntag endenden gut vierjährigen
Legislaturperiode hat ein Drittel der Abgeordneten die Fraktion gewechselt,
knapp hundert sogar mehrmals. Mit dem gewählten Personal der letzten
Parlamentswahl vom März 2018 wurden drei Regierungen gebildet: Conte 1
(Cinque Stelle und Lega), benannt nach Premier Giuseppe Conte von der
5-Sterne-Bewegung, der nun auch Spitzenkandidat seiner Formation ist; Conte
2 (Cinque Stelle–M5S, Demokratische Partei–PD, und Italia Viva vom
Ex-Premier und Ex-PD-Vorsitzenden Matteo Renzi); und schließlich die
Regierung Nationaler Einheit unter Mario Draghi – hier fehlte im
wesentlichen nur die Partei Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni, die nun
als unvorbelastete Favoritin für das Amt der Premierministerin gilt.
[1][Sie wäre die erste Frau an der Spitze einer italienischen Regierung].
## Die lange Ära der Democrazia Christiana
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht angebracht, mit dem Vorurteil
aufzuräumen, das italienische politische System sei wegen der häufigen
Kabinettswechsel besonders instabil. Von den ersten Wahlen 1946 bis zu
ihrer Auflösung 1994 war immer ein und dieselbe Partei führend an der Macht
beteiligt, die Democrazia Christiana. So viel Stabilität gab es in keinem
anderen westlichen Land. Seit 1994 wurden in Italien auch nicht deutlich
mehr nationale Wahlen abgehalten als etwa in Deutschland.
Was Italien wesentlich von der Bundesrepublik, aber nicht etwa von
Frankreich unterscheidet, ist die Tatsache, dass es seit Jahren eine
Mehrheit populistischer Parteien gibt, die dann im Kabinett Conte 1 auch
zusammenarbeiteten. „Es wird keinen Marsch auf Rom geben, die Populisten
sind schon in Rom“, hat der Schriftsteller Antonio Scurati, dessen dritter
Teil einer monumentalen Romanreihe über den faschistischen Diktator Benito
Mussolini gerade in Italien erschienen ist, [2][die Lage im taz-Gespräch
zusammengefasst].
## Die Trümmer der Kommunistischen Partei
Und die Linken? Die sozialdemokratische PD unter Ex-Premier Enrico Letta,
der seine Karriere, wie könnte es anders sein, bei der Democrazia
Christiana begann, ist in die Rolle einer proeuropäischen,
prowestlichen Staatspartei getreten. Was ihr fehlt, um diese Rolle
ausfüllen zu können, sind Mehrheiten im Volk und ein Staat, der wirklich
von ihr vertreten werden möchte. Damit geht es ihr nicht anders als ihrem
Vorläufer, der Kommunistischen Partei (PCI), die für alles stand, was in
Italien gut und anständig war. Ihre Trümmer fliegen immer noch durch den
politischen Orbit, von der Lega über die M5S bis zu linksradikalen
Splittergruppen, die sich derzeit vor allem mit der „Nato-Aggression gegen
Russland“ beschäftigen, also politisch noch unter Wagenknechtniveau
unterwegs sind.
Es gehörte dabei schon immer zu den Eigenheiten der italienischen Linken,
sich weniger mit den Opfern der Mafia zu Hause als mit dem Leid etwa der
Palästinenser zu beschäftigen. Spricht man mit solch klassischen
Revolutionären, so geht es meist nicht unter einem ausführlichen,
einleitenden Gramsci-Zitat. Bevor es irgendwie konkret werden könnte, ist
man schon entnervt und geht erst mal zusammen einen Espresso trinken – was
dann meist erstaunlich nett ist.
## Die mafiöse Bourgeoisie kommt wieder
Niemand sollte sich dabei erlauben, den Mut eines Abgeordneten wie Sandro
Ruotolo (PD) kleinzureden. Der bekannte Journalist hat seinen Wahlkreis im
Umland Neapels und erhielt vor wenigen Tagen Todesdrohungen der Camorra:
„Wenn du so weitermachst, geht es dir wie deiner Kusine – sei sehr
vorsichtig.“ Silvia Ruotolo wurde 1997 bei einer Schießerei zwischen
Mafia-Clans in Neapel ermordet. Sie hatte ihren fünfjährigen Sohn an der
Hand, vom Balkon aus musste ihre zehnjährige Tochter das Geschehen
mitansehen.
Von solchen Aufregern abgesehen, gehört auch das Thema Mafia zu denen, über
die in diesem Wahlkampf kaum gesprochen wird, ein paar Fachjournalisten
ausgenommen, die schon nach den Kommunalwahlen auf Sizilien im Sommer die
Rückkehr einer „mafiösen Bourgeoisie“ gekommen sahen.
## Eine Phase der Angst
Aber solche Skandalisierungen bringen keine Mehrheiten, genauso wenig wie
das Werben für ein modernes Einbürgerungsrecht, die Anklage gegen die
grassierende Armut im Land oder eine Debatte über eine sinnvolle Verwendung
der Mittel aus dem europäischen Aufbauplan – warum auch: Ist es doch
diversen Politikern des Rechtsbündnisses wichtiger zu verhindern, dass eine
Folge der Zeichentrickserie „Peppa Pig“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
ausgestrahlt wird, in der ein Mädchen zwei Mütter hat anstatt der von
Giorgia Meloni gepriesenen Mamma-Babbo-Kombination, wie Gott, der Duce und
das Vaterland sie wünschen.
Italien hat schlechte Laune, nicht erst seit diesen Wahlen. Ob eine
Wahlsiegerin Giorgia Meloni zusammen mit dem Altkriminellen Silvio
Berlusconi und dem auch in der eigenen Partei angezählten Lega-Chef Matteo
Salvini daran etwas ändern werden, ist eher zu bezweifeln. Schriftsteller
Angelo Scurati sieht Italien in einer „Phase der Angst“, und die war noch
nie ein guter Ratgeber.
Schon möglich, dass alles wieder dem Prinzip aus Giuseppe Tomasi di
Lampedusas klassischem Roman „Der Leopard“ folgt, demzufolge sich alles
ändern muss, damit alles gleich bleibt. Nur eines ist anders, ob es die
Menschen im wahrscheinlich schönsten Land der Welt nun wahrhaben wollen
oder nicht: Es wird noch heißer werden.
24 Sep 2022
## LINKS
[1] /Politologin-ueber-Giorgia-Meloni/!5879216
[2] /Faschismus-im-Roman/!5662974
## AUTOREN
Ambros Waibel
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