# taz.de -- Parlamentswahl in Italien: Reaktionäre Rolle rückwärts | |
> Die Mehrheit der Italiener*innen hat linksliberal gewählt, dennoch | |
> werden die erstarkten Rechtsnationalisten künftig das Land regieren. Ein | |
> Desaster mit Ansage. | |
Bild: Wahlsieg der Rechtsradikalen: Giorgia Meloni, Chefin der Fratelli d'Itali… | |
Es ist ein Treppenwitz. 50 Prozent der Italiener*innen stimmen für ein | |
offenes Land, offen für Minderheiten, offen gegenüber Europa und der Welt. | |
Sie stimmen für Listen, die die Rechte der LGBTIQ-Community respektieren, | |
die bei Migration nicht reflexartig an Abwehr denken, sondern an | |
Staatsbürgerschaft für in Italien großgewordene Kinder von Einwanderern, | |
die Italien fest in Europa verankert sehen und auf die weitere Stärkung der | |
EU setzen. | |
Mit 44 Prozent dagegen muss sich das andere Lager begnügen: das Lager, in | |
dem zwei hart rechtspopulistische Parteien mit einer stockreaktionären | |
Agenda dominieren, in der kein Platz für Minderheitenrechte ist, kein Platz | |
für als Bedrohung gebrandmarkte Flüchtlinge und Migrant*innen, kein Platz | |
für ein zusammenwachsendes Europa, kein Platz auch für entschlossene | |
Antworten auf die Klimakrise, weil allein die Imperative „Gott, Vaterland, | |
Familie“ und „Italien zuerst!“ zählen sollen. | |
Doch – und damit sind wir beim Treppenwitz – jene Minderheit wird in | |
Zukunft den Ton in Italien angeben. Wegen einer Besonderheit des | |
italienischen Wahlrechts darf sie sich über rund 60 Prozent der Sitze in | |
beiden Häusern des Parlaments freuen. Sie wird die Regierung stellen, und | |
sie wird mit höchster Wahrscheinlichkeit die [1][Rechtsradikale Giorgia | |
Meloni] zur Ministerpräsidentin machen – eine Frau, die nie den klaren | |
Bruch mit dem Mussolini-Faschismus vollziehen wollte und die auch heute | |
noch den 25. April für ein das Land „spaltendes Fest“ hält. An dem Tag wi… | |
der Befreiung Italiens von Nazis und Faschisten im Jahr 1945 gedacht. | |
Dieses selbstverschuldete Desaster der Mitte-Links-Kräfte erfolgte | |
gleichsam mit Ansage, war er doch ein sehenden Auges verübter politischer | |
Kollektivselbstmord. Gewöhnlich gilt, dass nur der Erfolg viele Väter hat – | |
in Italien jedoch hat der krachende Misserfolg des Lagers links der Mitte | |
gleich mehrere Väter. Das Wahlrecht ließ keinen Zweifel: Wer gespalten | |
antritt gegen einen geeinten Block auf der anderen Seite, hat keine Chance. | |
## Versagen des Mitte-Links-Lagers | |
[2][Dabei hatte die Partito Democratico (PD) seit 2019 auf die Schaffung | |
eines „campo largo“ hingearbeitet], eines „breiten Felds“ aller gegen d… | |
Rechte stehenden Parteien. Doch als die Fünf Sterne unter Giuseppe Conte im | |
Juli von der Regierung des Ministerpräsidenten Mario Draghi abrückten, | |
beerdigte der PD-Vorsitzende Enrico Letta das anvisierte Bündnis von einem | |
Tag auf den anderen. | |
Einen Plan B jedoch hatte er nicht, und sein Versuch, mit dem Slogan „die | |
oder wir“ die Wahl zum Duell zwischen sich und Meloni, zwischen den | |
Postfaschisten der Fratelli d’Italia und der PD zu stilisieren, scheiterte | |
kläglich. Mit 19 Prozent fuhr die PD ein hinter allen Erwartungen | |
zurückbleibendes Ergebnis ein. | |
Einen Plan B hatte dagegen Giuseppe Conte, hatten die Fünf Sterne. Ihnen | |
ging es um das nackte Überleben der Partei, deren finaler Niedergang | |
drohte. Dieses Parteikalkül ging mit dem Resultat von 15 Prozent auf. Dafür | |
jedoch waren die Fünf Sterne bereit, ihrerseits einen Beitrag zum Sieg der | |
Rechten zu leisten. | |
## Glückwunschtelegramme von Orbán und Le Pen | |
Einen Plan B hatten auch Matteo Renzi und Carlo Calenda mit der | |
Listenverbindung ihrer kleinen, auf Macron-Kurs segelnden Mitteparteien | |
Azione und Italia Viva. Die beiden Ego-Shooter wollten vorneweg die Fünf | |
Sterne zerstören und die PD schwächen, sie träumten davon, bei unsicheren | |
Mehrheitsverhältnissen im Parlament zum Zünglein an der Waage zu werden und | |
so Mario Draghi wieder ins Amt des Regierungschefs zu heben. Dieser Plan | |
scheiterte kläglich; allerdings bedurfte es keiner höheren Mathematik, um | |
seine Realitätsferne zu begreifen. | |
Den Schaden hat jetzt allerdings nicht nur das Mitte-Links-Lager, sondern | |
Italien – wenigstens jenes weltoffene Italien, dem immer noch die Mehrheit | |
der Bürger*innen anhängt. [3][Ihnen steht eine reaktionäre Rolle | |
rückwärts ins Haus]. Und Europa muss sich darauf einstellen, dass Italien | |
in den nächsten Jahren als Integrationsmotor ausfällt. Nicht umsonst kamen | |
die ersten Glückwunschtelegramme an Meloni von Viktor Orbán, von der AfD, | |
von Marine Le Pen und der spanischen Vox. | |
26 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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