# taz.de -- Debatte Referendum in Italien: Ein riesiges Missverständnis | |
> Matteo Renzis Referendum wird überschätzt. Not tut nicht eine | |
> Verfassungsreform, sondern eine Politik gegen die Missstände im Land. | |
Bild: Nein, auch das Kolosseum stürzt nicht ein, wenn Renzi die Abstimmung ver… | |
Von zehn jungen Italienern sind vier arbeitslos; das reale | |
Bruttoinlandsprodukt (BIP) bewegt sich gerade so auf dem Niveau von vor 15 | |
Jahren; die Neueinschreibungen an den Universitäten haben sich zwischen | |
2004 und 2015 um 20 Prozent verringert; gemessen am BIP, liegen die | |
Ausgaben für Forschung und Innovation bei weniger als der Hälfte von denen | |
in Deutschland und Österreich und bei einem Drittel der Ausgaben in | |
Schweden; der Sekundäranalphabetismus nimmt zu; das Land deindustrialisiert | |
sich; die Korruption frisst nach vorsichtigen Schätzungen 60 Milliarden | |
Euro im Jahr, die Steuerhinterziehung nimmt sich noch mal 90 Milliarden. | |
Und erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt die Lebenserwartung | |
der Italiener nicht zu, sondern ab. | |
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich das politische System seit mehr als | |
einem Jahr mit einer Verfassungsreform, über welche die Italiener am | |
Sonntag in einem Referendum abstimmen werden. Keines der eingangs | |
aufgezeigten dramatischen Probleme wird von dieser Reform angegangen. Auch | |
ist nicht vorstellbar, dass die Veränderung des Charakters einer der beiden | |
Parlamentskammern (denn eben darum geht es unter anderem in dem Referendum) | |
an der schlechten Regierung und am wirtschaftlichen Niedergang Italiens | |
irgendetwas ändern könnte. | |
Und doch wird dieses Referendum in den ausländischen Medien – mit der | |
bemerkenswerten Ausnahme der britischen Wochenzeitung The Economist – als | |
entscheidend angesehen, in seiner Bedeutung gleichauf mit der Abstimmung | |
über den Brexit oder mit den französischen Präsidentschaftswahlen im | |
nächsten Jahr. | |
Doch am Sonntag stehen sich nicht ein Votum „für das bestehende System“ und | |
für ein „populistisches“ gegenüber. Wenn das Nein bei dem Referendum siegt | |
– dann ändert sich erst mal gar nichts. Die Italiener stimmen nicht über | |
den Italexit ab, auch wenn die Panikkampagne der Finanzindustrie via Wall | |
Street Journal und Financial Times die Katastrophe ausruft: Austritt aus | |
dem Euro, Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems et cetera. Dass | |
man mit solchen Warnungen vor der Apokalypse einen Wahlausgang beeinflussen | |
könnte, hat sich schon beim Brexit als Irrtum erwiesen. Wie der Economist | |
sagte: „Die Italiener dürfen sich nicht erpressen lassen.“ | |
## Zauberwort „Vereinfachen“ | |
Das große Missverstehen Italiens im Ausland hat eine lange Tradition. | |
Nehmen wir den nicht tot zu kriegenden Gemeinplatz, das italienische | |
politische System sei instabil. Dieses Stereotyp werde dadurch belegt, dass | |
Italien seit seiner Gründung der Republik 1946 bis zum Jahr 1994 52 | |
Regierungen erlebt hat – wo doch die Wahrheit ist, dass in all diesen | |
Regierungen immer dieselbe Partei den Ton angegeben hat, die Democrazia | |
Christiana (DC)! Und auch das Personal dieser Ersten Republik bis zur Wahl | |
Berlusconis 1994 bestand aus denselben Personen, die nur die Amtssessel | |
tauschten. Allein acht Regierungen wurden von Alcide De Gasperi geleitet, | |
während Aldo Moro, Giulio Andreotti und Mariano Rumor jeweils fünf vorsaßen | |
und Amintore Fanfani vier. | |
Aus dieser Perspektive muss man sagen: Kein anderes Land in Europa verfügt | |
über ein so stabiles politisches System wie Italien. In keinem anderen | |
westlichen Land – mit Ausnahme Japans – hat eine einzige Partei während des | |
gesamten Kalten Kriegs die Macht nicht aus der Hand gegeben. | |
Ein anderes Zauberwort des Nichtverstehens ist das „Vereinfachen“, ganz so, | |
als neige die Demokratie von Haus aus zu Ineffizienz. Das Konzept geht | |
zurück auf den berühmten Bericht „The Crisis of Democracy: On the | |
Governability of Democracies“ von Samuel Huntington – genau: der mit dem | |
„Kampf der Kulturen“– im Auftrag des privaten Thinktanks Trilaterale | |
Kommission. | |
Ihm zugrunde liegt eine militärische Vision von funktionierender | |
Gesellschaft, eine Art Utopie der Disziplinierung, nach der die Völker der | |
Welt alle wie die fleißigen und fügsamen Bewohner von Singapur werden | |
sollen. So gesehen, wäre die Reform der italienischen Verfassung ein | |
Faktor, der das politische System Italiens vereinfacht, indem Gesetze | |
deutlich zügiger verabschiedet werden. | |
Man will aber nicht wahrhaben, dass Italien mit ebendiesem politischen | |
System die Phase seines höchsten Wirtschaftswachstums erlebt hat, den Boom | |
der 1950er und 1960er Jahre, dem die angeblich übergroße | |
„Demokratiehaltigkeit“ des politischen Systems nichts anhaben konnte. | |
## Legislativer Exzess | |
Es ist vielmehr so, dass das italienische Parlament zu viele Gesetze | |
verabschiedet – ein legislativer Exzess, der den Bürger zu einem | |
beständigen Slalom zwischen einander oft widersprechenden Vorschriften | |
zwingt und der den Justizapparat weitgehend lahmgelegt hat. Ein | |
Zivilprozess über drei Instanzen dauert im Durchschnitt acht Jahre und | |
sieben Monate, Italien nimmt den 157. von 183 vergebenen Plätzen in der | |
Rangfolge der Länder mit dem ineffektivsten Justizsystem ein – Togo, die | |
Komoren, Indonesien und Kosovo sind vor uns. | |
Wenn die Dinge so stehen, dann fragt man sich, warum sich die aktuelle | |
Regierung unter Matteo Renzi in den zwei Jahren ihrer Amtszeit auf die | |
Verfassungs- und Wahlrechtsreform fokussiert und die Lebensfragen der | |
Nation vernachlässigt hat. Seit Renzi regiert, ist der Kampf gegen die | |
Steuerkriminalität von der politischen Agenda verschwunden, ganz wie zu | |
Zeiten Silvio Berlusconis. Und das passt auch genau in unseren | |
Zusammenhang: Die im Referendum vorgeschlagene praktische Abschaffung des | |
Senats, der Zweiten Kammer des italienischen Parlaments, hätte nämlich | |
zusammen mit der Reform des Wahlrechts bei einer Wahlbeteiligung von 65 | |
Prozent diese Folge: Die Partei, die 17 bis 20 Prozent der Stimmen der | |
Wahlberechtigten auf sich vereint, erhielte 54 Prozent der Parlamentssitze. | |
Einer der Gründe, die einen zum Nein drängen, ist, dass eine | |
„populistische“ Partei in diesem Szenario nur 25 bis 30 Prozent der | |
abgegebenen Stimmen auf sich vereinen müsste, um eine fast absolute Macht | |
ausüben zu können. Und wie der Economist schrieb: Von starken Führern hat | |
Italien nun wirklich eher zu viele als zu wenige gehabt. | |
A. d. Italienischen von Ambros Waibel | |
3 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Marco d'Eramo | |
Marco D’Eramo | |
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