# taz.de -- Palästinensisch-israelischer Konflikt: Der Elefant im Raum | |
> Das Wort „Frieden“ ist aus dem israelischen Diskurs verschwunden, | |
> schreibt unsere Korrespondentin. Ein Essay über die Sprachlosigkeit. | |
Bild: Spuren des palästinensisch-israelischen Konflikts: Eine Wohngegend in Na… | |
TEL AVIV taz | Einen Essay über die Friedensbewegung in Israel sollte ich | |
schreiben. Selten war meine Ratlosigkeit angesichts einer Artikelanfrage | |
größer. Über Frieden spricht man nicht in Israel, ich auch nicht. Dabei | |
zerreißt mir der [1][palästinensisch-israelische Konflikt] das Herz, | |
seitdem ich vor rund zehn Jahren wegen einer Recherche für meine | |
Doktorarbeit nach Jerusalem gekommen bin, in Ramallah Deutsch unterrichtet | |
habe und mich in Tel Aviv in meinen jetzigen Partner verliebt habe. Und | |
nicht zuletzt, seitdem ich tagtäglich darüber berichte. Wenn ich aber mit | |
der Nase darauf gestoßen werden, sehe ich ihn als Außenstehende eben doch, | |
den Elefanten im Raum, den die meisten Israelis heute selbst dann | |
ignorieren, wenn er ihnen ins Ohr trompetet. | |
Wo in den neunziger Jahren der ersehnte Frieden mit den | |
Palästinenser*innen Zehntausende Menschen auf die Straße brachte und | |
Friedenslieder in den Straßen ertönten, herrscht heute, rund 30 Jahre | |
später, vor allem eins: Schweigen. | |
Am 1. November wird in Israel gewählt. Zum fünften Mal innerhalb von | |
zweieinhalb Jahren geht es darum, ob Benjamin Netanjahu alias „King Bibi“ | |
zurück an die Macht kommt. Mehr als 100 Palästinenser*innen sind in | |
den letzten Monaten vom israelischen Militär im Westjordanland getötet | |
worden. Vor zwei Wochen wurden innerhalb von wenigen Tagen zwei israelische | |
Soldat*innen von Palästinensern getötet. Israelis wie | |
Palästinenser*innen machen sich Sorgen, dass die dritte Intifada | |
bevorsteht. Einige glauben, sie sei schon da. | |
Doch von einem Versuch, sich mit den Palästinenser*innen zu einigen, | |
keine Rede – nirgends. Das Wort „Frieden“ ist aus dem israelischen Diskurs | |
verschwunden. | |
## Als Arafat und Rabin die Hände schüttelten | |
Wie schreibt man über etwas, das fort ist? Ich könnte die Seite weiß | |
lassen. Oder aber die Trauer und den Zynismus ergründen, die das Wort | |
Frieden haben verschwinden lassen. Auch wenn ich dafür in Kauf nehmen muss, | |
für naiv gehalten zu werden – weil: „Wo lebst du denn?“ | |
Fragt man Israelis nach Frieden, gehen sie – nach dem ersten Schock und | |
einigen zynischen Kommentaren – ausnahmslos zurück in die 1990er Jahre. Die | |
Hoffnung war groß, als Jassir Arafat und Jitzhak Rabin 1993 vor dem Weißen | |
Haus die Hände schüttelten. Doch dann schoss auf der Friedenskundgebung am | |
4. November 1995 der rechtsreligiöse Fanatiker Jigal Amir, Gegner des | |
Friedensprozesses, auf Rabin. Er starb im Krankenhaus. | |
Mit schwarzem Edding schrieb mein damals zwanzigjähriger Partner auf den | |
weißen Boden auf dem Platz der Könige Israels, heute Rabin-Platz, ein Zitat | |
aus dem Doors-Klassiker: „This is the end.“ Eine Antibesatzungsaktivistin, | |
damals Teenagerin, sah ihre Eltern gemeinsam vor dem Fernseher weinen. Und | |
einer der unermüdlichsten Friedensaktivisten, Buma Inbar, hatte gerade | |
seinen Sohn als Soldat im Libanon verloren und wollte Rabin an diesem Abend | |
einen Brief überreichen. Darin die dringende Bitte, dass er, sein Sohn, der | |
letzte gewesen sein möge, der dem Konflikt zum Opfer gefallen sein möge. | |
Rabin hatte noch auf der Kundgebung, etwas schüchtern und schief, die Hymne | |
der Friedensbewegung mitgesungen, Shir LaShaom – das Lied auf den Frieden. | |
Kurze Zeit später fand man in seiner Brusttasche ein blutgetränktes Blatt | |
mit dem Liedtext. „Frieden im Nahen Osten braucht Anführer, die bereit sein | |
müssen, ermordet zu werden“, sagte Yossi Beilin, einer der Architekten des | |
Oslo-Friedensprozesses, einmal zu mir in einem Interview. Ich, die ich in | |
friedlichen Zeiten in Deutschland aufgewachsen bin, verstehe diesen Satz | |
intellektuell. Aber was er wirklich bedeutet, das kann ich nach wie vor nur | |
erahnen. Bis heute hat sich das Land nicht von diesem Ereignis erholt. | |
## Das Friedenslied wurde nun leiser gesungen | |
Bei den Neuwahlen im Mai 1996 wurde der [2][Likud-Anführer Benjamin | |
Netanjahu], der jahrelang gegen den Friedensprozess und Rabin gehetzt | |
hatte, Ministerpräsident. Sein Programm: Siedlungen bauen, den | |
Friedensprozess austrocknen. Das Shir LaShalom, das Lied auf den Frieden, | |
wurde von nun an leiser gesungen. | |
Und dann, im Jahr 2000, ging auch die Hoffnung verloren. Der gemäßigte Ehud | |
Barak kam von einer Verhandlungsrunde mit Arafat in Camp David zurück. | |
Angeblich hatte Israel all die Zugeständnisse gemacht, die seine Führung | |
hätte machen können. Doch die Verhandlungen waren gescheitert, und Barak | |
prägte einen Satz, der den friedensbewegten Israelis jegliche Hoffnung | |
nahm: „Wir haben keinen Partner.“ | |
Die zweite Intifada, die Selbstmordanschläge, in denen | |
Palästinenser*innen Busse und Restaurants in die Luft jagten, | |
traumatisierten die Gesellschaft. Die Traumatisierung ist an der Oberfläche | |
oft nicht sichtbar, doch wenig dürfte die israelische Gesellschaft seit | |
ihrer Gründung 1948 nachhaltiger verändert haben als dieses Ausmaß an | |
Gewalt. | |
„Die derzeitige Herausforderung ist, die Menschen dazu zu bringen, wieder | |
daran zu glauben, dass Frieden möglich ist“, sagt Dov Khenin von der | |
jüdisch-arabisch-kommunistischen Partei Partei Chadasch. Die meisten | |
Wähler*innen der Partei sind palästinensische Israelis. Khenin wiederum | |
ist einer der wenigen jüdischen Israelis, die für diese Partei in der | |
Knesset gesessen haben – und er ist der vielleicht unerschütterlichste | |
Optimist Israels. | |
## Wiederbelebungsversuche des Friedensprozesses | |
Khenin glaubt, dass die Oslo-Abkommen an sich, trotz einiger Probleme, gut | |
gewesen seien. Doch kratzten einige Linke schon früh am Image der | |
Verhandlungen in Oslo Mitte der neunziger Jahre: Das Friedensabkommen habe | |
Sollbruchstellen gehabt, glauben sie. Nicht wegen der Kritik von rechts, | |
die den Friedensprozess als Betrug an Israel verstanden, mit zu vielen | |
Zugeständnissen an die Palästinenser*innen. Sondern weil es ein fauler | |
Frieden war, der verkauft werden sollte. | |
Das Oslo-Friedensabkommen, so argumentieren sie, habe die palästinensische | |
Autonomiebehörde zum langen Arm der Besatzung gemacht. Israel habe sich | |
wirtschaftliche Vorteile dadurch versprochen, einen Teil der bürokratischen | |
Verantwortung über das Westjordanland in palästinensische Hände zu geben. | |
Währenddessen schuf der [3][fortschreitende Siedlungsbau] Tatsachen. Ein | |
Frieden auf Augenhöhe mit den Palästinenser:innen sei das nie | |
gewesen. | |
Es gab ein paar Wiederbelebungsversuche des Friedensprozesses, keiner von | |
ihnen zeigte Wirkung. Sie zementierten nur die Nutzlosigkeit, die das Wort | |
Frieden mittlerweile erfüllte – in allen Lagern. | |
Im rechten herrscht heute der Glaube, dass man den Konflikt verwalten kann. | |
Ab und zu gibt es ein paar israelische Opfer, ab und zu eine | |
„Militäroperation“ in Gaza, aber im Großen und Ganzen spürt man wenig von | |
dem Konflikt, während man in Tel Aviv Cappuccino trinkt. „HaMaaracha ben | |
HaMilchamot“ – „die Kampagne zwischen den Kriegen“ lautet ein feststehe… | |
Begriff im Hebräischen. Er beschreibt die Aktionen des Geheimdienstes und | |
des israelischen Militärs zwischen den Kriegen, mit denen der nächste Krieg | |
mit feindlichen Ländern hinausgezögert werden soll. Aber ist Frieden nicht | |
mehr als eine kurze Abwesenheit von Krieg? Ist Frieden nicht mehr, als sich | |
den größten Teil der Zeit bequem in der Abwesenheit von Krieg einzurichten, | |
während Palästinenser*innen durch die Trennungspolitik für | |
israelische Augen unsichtbar gemacht werden? | |
## Diejenigen, die das Wort „Frieden“ wiederbeleben | |
Kassandrarufe warnen, dass die Situation jederzeit explodieren könnte: | |
„Niemand ist so gefährlich, wie ein verzweifelter Gegner“, sagen die | |
warnenden Stimmen. Nun, da es im Westjordanland brodelt, könnte die | |
Richtigkeit dessen einmal mehr sichtbar werden. | |
Unter Linken gibt es heute kaum noch welche, die sich | |
„Friedensaktivist*innen“ nennen, eher „Kritiker*innen der Besatzung“. S… | |
von Frieden sprechen sie von „gemeinsamem Kampf“ und „Übergangsjustiz“. | |
Gemeinsam haben diese Begriffe, dass sie die Unterdrückung der | |
Palästinenser*innen in den Vordergrund stellen und – anders etwa als | |
beim Oslo-Friedensprozess – nicht von gleichgestellten Partnern ausgehen. | |
Zunehmend wird der Konflikt zwischen Israel und Palästinenser*innen | |
unter Linken auch als Kolonialismus gelesen. Es ist ein Wort, das es schwer | |
macht, gleichzeitig von Frieden zu sprechen. „Auch den Algeriern hat ja | |
niemand gesagt, dass sie endlich mit Frankreich Frieden schließen sollten“, | |
sagte einmal ein Freund und israelischer Aktivist zu mir. | |
Doch noch gibt es sie, diejenigen, die das Wort „Frieden“ wiederbeleben | |
wollen. Eingedenk aller Kritik. So wie Eilat Maoz, die vielleicht – wie sie | |
selber lachend sagt – einzige Person in Israel, die zugibt, über das Thema | |
Frieden noch ernsthaft nachzudenken. | |
## Auf Augenhöhe mit den Palästinenser*innen | |
Die 38-jährige Anthropologin und Aktivistin aus Haifa kann eloquent von | |
Walter Benjamin zum Urvater der Kolonialismuskritik, Frantz Fanon, springen | |
und von dort weiter zu Karl Marx. Doch fragt man sie nach Frieden, | |
verstummt sie kurz: „Meines Erachtens ist der Wunsch nach Frieden etwas | |
sehr Grundlegendes“, sagt sie dann. Genau deswegen möchte sie das Wort | |
Frieden wiederbeleben. „Auch wenn man auf den Konflikt durch die Brille des | |
Kolonialismus blickt“, sagt Maoz: „Der Plan für die Linke kann nicht sein, | |
die Kolonisatoren rauszuschmeißen, sondern Kolonialismus hinter uns zu | |
lassen.“ Das Ziel könnte ein Prozess sein, der nicht die Fehler von Oslo | |
wiederholt, der auf Augenhöhe mit den Palästinenser*innen passiert, | |
gewissermaßen „von unten“. | |
Und dann gibt es noch Roni Keidar, die in ihrem Zuhause an der Grenze zum | |
Gazastreifen gemeinsam mit den Palästinenser*innen auf der anderen | |
Seite der Grenze gegen die Besatzung kämpft und möglicherweise niemals | |
aufgegeben hat, sich als Friedensaktivistin zu bezeichnen: „Viele sagen, | |
ich sei eine Träumerin. Aber das bin ich nicht. Wer denkt, dieser Konflikt | |
von zwei Gruppen um das gleiche Land ließe sich mit Gewalt lösen, der | |
träumt. Wer glaubt, die Besatzung ließe sich verwalten – der ist ein | |
Träumer. Ich mit meinem Glauben an Frieden, ich bin die Realistin.“ Und | |
ich, als Außenstehende, habe dem nichts hinzuzufügen. | |
28 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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Jair Lapid | |
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