| # taz.de -- Rechte in Israel: Kaum was übrig | |
| > Israels Regierungschef Jair Lapid setzt zionistisches Streben fort, doch | |
| > sein Pragmatismus prallt auf gegnerische Kräfte. | |
| Bild: Jair Lapids politische Ansichten bleiben recht nebulös | |
| Der jüdische Denker Gershom (Gerhard) Scholem schrieb 1926 in einem Brief | |
| an Franz Rosenzweig eine Art wütende Prophezeiung hinsichtlich der | |
| Verweltlichung der hebräischen Sprache. „… muß denn dann nicht die | |
| religiöse Gewalt dieser Sprache eines Tages ausbrechen? Und welches | |
| Geschlecht wird dieser Ausbruch finden? Wir leben ja in dieser Sprache über | |
| einem Abgrund, fast alle mit der Sicherheit des Blinden, aber werden wir | |
| nicht, wir oder die nach uns kommen, hineinstürzen, wenn wir sehen werden.“ | |
| Scholems Voraussage betraf nicht unbedingt nur die Sprache. [1][Der | |
| Zionismus] war in seinen Anfängen ein Versuch, die Juden auf den Pfad der | |
| Säkularisierung und Modernisierung zu führen. Scholem und andere nannten | |
| das „Rückkehr zur Geschichte“. Die ersten Zionisten waren in der Regel | |
| Pragmatiker, Rationalisten und Macher. Sie versuchten, die Vision auf die | |
| moderne politische Welt zu übertragen. | |
| Israels heutiger Regierungschef Jair Lapid setzt auf vielerlei Weise dieses | |
| Streben fort. Er ist komplett weltlich, aber doch bereit, sich mit den | |
| Orthodoxen zusammenzusetzen, um eine Koalition zu bilden. Seine politischen | |
| Ansichten bleiben recht nebulös. Einerseits ist er liberal, andererseits | |
| hat er kein sonderliches Problem, sich selbst als Nationalisten zu | |
| inszenieren, wenn ihm das für seinen Wahlkampf als sinnvoll erscheint. Er | |
| [2][strebt einen Kompromiss mit den Palästinensern und regionalen Frieden | |
| an], gibt sich aber schon seit Jahren demonstrativ als politischer Falke – | |
| einzig aus elektoralen Erwägungen. Vor vielen Jahren, als Lapid noch | |
| Journalist und Autor war, schrieb er das Drehbuch zu der Fernsehserie | |
| „Kriegszimmer“, die vor Pragmatismus regelrecht strotzt. Lapid ist | |
| gewissermaßen der natürliche Erbe von Politikern wie dem Zionistenführer | |
| Chaim Weizmann, nur dass er dessen Feierlichkeit und Würde durch die eigene | |
| Tel Aviver Coolness ersetzte. | |
| Lapids Pragmatismus prallt auf gegnerische Kräfte in der israelischen | |
| Gesellschaft, die wie ein zu lange stehen gelassener Hefeteig in monströse | |
| Ausmaße aufgehen. Benjamin Netanjahu, Lapids Gegenkandidat, der im Übrigen | |
| auch mal ein Liberaler war, erkennt diese Kräfte und macht sie sich zu | |
| eigen. So pilgerte er zu Rabbi Zvi Thau – noch so ein deutscher Jude – und | |
| einer der gefährlichsten, düstersten Rabbiner, deren Einfluss auf die | |
| religiöse Öffentlichkeit ständig wächst. Er propagiert die | |
| Konversionstherapie für Homosexuelle, und ginge es nach ihm, würde Israel | |
| zum Gottesstaat. All das stört Netanjahu wenig. Er möchte Rabbi Thau zu | |
| seinem Partner machen und ist zu nahezu allen Zugeständnissen bereit. In | |
| dieser Hinsicht ist auch Netanjahu Pragmatiker. Aber Netanjahus | |
| Pragmatismus ist komplett zynisch. Er markiert das Ende des Zionismus als | |
| Bewegung des weltlichen Nationalismus und im Prinzip das Ende des | |
| israelischen Lebens, wie wir es kennen. | |
| Der Vormarsch der rechten Radikalen in Israel ist deutlich vergleichbar mit | |
| den Entwicklungen in Polen. Wie in Polen ist die pragmatische säkulare | |
| Rechte auch in Israel durch die Annäherung an die religiösen | |
| Fundamentalisten nahezu verschwunden. Eine weltliche Rechte existiert kaum | |
| noch in Israel, wobei ihr Untergang nicht erst jetzt beginnt. Für die | |
| frühere Justizministerin Ajelet Schaked – rechts bis in die Knochen und | |
| komplett weltlich –, die mit eigener Partei antritt, ist das ein Problem. | |
| Sie wird die Einzugsquote kaum schaffen, wenn in gut zwei Wochen gewählt | |
| wird. Netanjahu kapiert das, deshalb wendet er sich der Büchse der Pandora | |
| zu, über die schon Scholem schrieb, den antiken Geistern der jüdischen | |
| Religion, den Fanatikern und Rassisten. | |
| Aus dem Hebräischen: Susanne Knaul | |
| 15 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neue-Biografie-ueber-Theodor-Herzl/!5857110 | |
| [2] /Israel-fordert-Drohung-an-Iran/!5883423 | |
| ## AUTOREN | |
| Hagai Dagan | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Fernsicht | |
| Jair Lapid | |
| Benjamin Netanjahu | |
| Israel | |
| Israel | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Israel | |
| Verhältnis Iran - Israel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Krise der Demokratie: „Wir stehen vor einem Rätsel“ | |
| Sorgenvoll blickt der israelische Philosoph Yuval Kremnitzer auf das | |
| weltweite Erstarken des Autoritarismus. Schnelle Antworten gebe es nicht. | |
| Palästinensisch-israelischer Konflikt: Der Elefant im Raum | |
| Das Wort „Frieden“ ist aus dem israelischen Diskurs verschwunden, schreibt | |
| unsere Korrespondentin. Ein Essay über die Sprachlosigkeit. | |
| Israelisch-libanesische Seegrenze: Ein Gewinn für beide Seiten | |
| Die libanesisch-israelische Einigung über die maritime Grenze sorgt für | |
| mehr Stabilität in der Region. Wäre da nur nicht Benjamin Netanjahu. | |
| Israel fordert Drohung an Iran: Lapid zeigt bei UN Härte | |
| Israels Ministerpräsident will Iran im Fall atomarer Bewaffnung militärisch | |
| drohen. Im Nahostkonflikt hält er die Zwei-Staaten-Lösung aufrecht. |