# taz.de -- Krise der Demokratie: „Wir stehen vor einem Rätsel“ | |
> Sorgenvoll blickt der israelische Philosoph Yuval Kremnitzer auf das | |
> weltweite Erstarken des Autoritarismus. Schnelle Antworten gebe es nicht. | |
Bild: Die Sehnsucht nach dem „starken Mann“ ist groß: Anhänger:innen von … | |
taz am wochenende: Herr Kremnitzer, der Wahlsieg der rechtsextremen | |
Fratelli d’Italia macht vielen Angst. Am 1. November wird in Israel | |
gewählt, hier sind die Sorgen groß, dass [1][Benjamin Netanjahu an die | |
Macht zurückkehrt]. Ist der Rechtsruck ein globales Phänomen? | |
Yuval Kremnitzer: Natürlich muss man den lokalen Kontext berücksichtigen. | |
Israel kann man in vielerlei Hinsicht nicht mit Europa vergleichen – der | |
palästinensisch-israelische Konflikt ist nur das offensichtlichste | |
Beispiel. Doch gerade deshalb ist es so verblüffend, dass es an so vielen | |
Orten der Welt so starke Ähnlichkeiten gibt: Der Antiliberalismus breitet | |
sich aus. Es handelt sich – etwa in den USA, in Ungarn, in Russland – um | |
antiliberale Demokratien, denen allerdings eine einheitliche Ideologie | |
fehlt. Donald Trump, Viktor Orbán, Wladimir Putin sind sich ideologisch im | |
eigentlichen Sinne nicht nahe. Aber was ihr leeres politisches Programm | |
aussagt, ist, dass diese „formalistische Verfahrensdemokratie“, in der wir | |
leben, elitär, ungerecht und irgendwie einschränkend sei. Sie verletzen | |
ungeschriebene Regeln jenes Systems und sie sind gerade aufgrund dieser | |
Regelverletzungen attraktiv für so viele Wähler:innen. Das Gleiche gilt für | |
Giorgia Meloni in Italien. Und ebenso für Benjamin Netanjahu. | |
Sie begannen rund um die US-Wahlen, bei denen [2][Donald Trump zum | |
Präsident wurde], das Thema „Neuer Autoritarismus“ zu erforschen. | |
Ja, ich hatte beobachtet, wie Trump an die Macht kam, und sah, dass viele | |
progressive Liberale und radikale Linke nicht besorgt waren. Sie hielten | |
ihn für einen Clown und dachten, er habe keine Chance. Aber ich fühlte mich | |
sofort an Netanjahu erinnert. Bevor Netanjahu zu „König Bibi“ wurde, wurde | |
er von seinen Anhänger:innen liebevoll „Magier“ genannt. Im Grunde | |
genommen sagt man damit: Ich unterstütze dich, weil du ein Lügner bist, | |
weil du alle zum Narren hältst. | |
In Israel fragt sich nun das ganze Land, Bibi-Gegner:innen wie | |
-Befürworter:innen: [3][Was wird passieren, wenn Netanjahu wieder | |
Ministerpräsident wird]? | |
Das ist wirklich schwer zu sagen. Gerade weil ich glaube, dass diese neuen | |
Rechten, zu denen Netanjahu genauso zählt wie Trump, Orbán und Meloni, | |
keine substanzielle Vision einer Gesellschaft haben. Sie sind ein bisschen | |
wie der Schläger, der seinen Freunden zuruft: „Haltet mich besser fest!“ | |
Die Basisbotschaft des neuen Autoritarismus ist: „Wenn unsere Hände nur | |
frei wären, so könnten wir all die albernen Dinge wie Menschenrechte und | |
Rechtsstaatlichkeit loswerden. Wir hätten weniger Begrenzungen.“ Sie werden | |
alles tun, um die Justiz zu schwächen. Aber was passiert danach? Das ist | |
nicht klar. | |
Netanjahu verfolgt keine eindeutigen politischen Ziele? | |
Netanjahu bedient für gewöhnlich die Themen, die ihm Popularität | |
verschaffen können. Was eint die 61 Mandate, die er haben könnte? In seinem | |
Bündnis gibt es die Ultraorthodoxen, die noch nie zionistisch waren. Dann | |
gibt es die ultrazionistischen Siedler, die am offensten rassistische Hetze | |
betreiben. Und diejenigen, die für Netanjahu sind, weil die sogenannten | |
Eliten gegen ihn zu sein scheinen. Das Einzige, was all diese Leute | |
gemeinsam haben, ist, dass sie die liberale Demokratie aushöhlen wollen. | |
Aber keiner lenkt das Boot in eine bestimmte Richtung. | |
Man sollte meinen, je klarer Netanjahu als Kleinkrimineller auffliegt – er | |
steht ja in drei Bestechungsfällen vor Gericht –, desto mehr | |
Wähler:innen wenden sich von ihm ab. | |
Ja, aber das Gegenteil ist der Fall. Viele nehmen ihn dabei umso mehr als | |
„einen von uns“ wahr – als einen, der von den „Eliten“ verfolgt wird. | |
Wie kann das sein? | |
Der neue Autoritarismus verkleidet sich als antiautoritär. Das | |
Establishment wird als korrupt dargestellt, als würde es nur der höchsten | |
Ebene der Gesellschaft dienen. So werden die Autoritären zu vermeintlichen | |
Repräsentant:innen der einfachen Leute. | |
Itamar Ben-Gvir, dem wohl rassistischsten Politiker in Netanjahus | |
rechtsreligiösem Block, wurde für den Fall eines Wahlsiegs schon ein | |
Ministerposten zugesagt. Würde der das Boot nicht doch in eine ganz | |
bestimmte Richtung lenken? | |
Würde Ben-Gvir Justizminister werden, wäre das eine Katastrophe. Wir | |
könnten mit einer immer aggressiveren Rhetorik rechnen und der | |
kontinuierlichen „Normalisierung“ von Ideen, die bis vor Kurzem noch | |
außerhalb der gesellschaftlichen und politischen Norm standen. [4][Ben-Gvir | |
fordert zum Beispiel den Entzug der Staatsbürgerschaft für jeden, der | |
irgendwie mit Terrorismus in Verbindung gebracht wird.] Verfolgt er das | |
Projekt eines faschistischen Israels? Hat er überhaupt ein neues Modell für | |
die Gesellschaft? Nicht dass ich ihn dazu verleiten will, aber es sieht | |
einfach nicht so aus. | |
Was unterscheidet ihn von einem Faschisten des 20. Jahrhunderts? | |
Ein Hardcore-Nazi hat eine Vision von der Welt, in der die Anwesenheit der | |
Juden nicht funktionieren würde. Das ist der Grund, warum die Nazis, auch | |
als sie im Begriff waren, den Krieg zu verlieren, Ressourcen einsetzten, um | |
Juden zu vernichten. Ben-Gvir nun ist nah dran, die vollkommene | |
rassistische Theorie gegenüber Palästinenser:innen offen | |
auszusprechen, aber er sagt es immer in Bezug auf Sicherheit und den | |
inneren Feind. Natürlich, seine Hetze kann in gewisser Weise | |
völkermörderische Politiken rechtfertigen. Aber eine große Vision wie bei | |
den Nazis im 20. Jahrhundert, diese Idee, dass wir einen „neuen Menschen“ | |
erschaffen werden, das sehen wir bei ihm nicht. | |
Ist das nicht fast erleichternd? | |
Ein Teil unseres Unvermögens zu verstehen, was gerade vor sich geht, | |
besteht gerade darin, [5][dass wir immer wieder dieses seltsame Déjà-vu aus | |
dem 20. Jahrhundert haben]. Die Leute sagen: Der Faschismus ist wieder da. | |
Und dann schauen wir uns um: Wo sind die Braunhemden? Wo ist die Schließung | |
des Parlaments? Diese Vergleiche greifen aber nicht. Die Tatsache, dass | |
Meloni jetzt an der Spitze Italiens steht, bedeutet nicht Mussolini. | |
In Deutschland gibt es einige Kommentatoren, die sagen, [6][es wird in | |
Italien schon nicht so schlimm werden]. | |
Ja, und das scheint mir fatal. In gewissem Sinne sind wir Zeugen der | |
Wiederkehr vieler alarmierender Merkmale des politischen Schreckens des 20. | |
Jahrhunderts, die von Analytiker:innen wie Hannah Arendt und Theodor | |
W. Adorno beobachtet wurden. Allerdings eben ohne die „große Vision“ der | |
Geschichte. Dies gibt einigen von uns leider ein gutes Gefühl. | |
Was sollte uns – stattdessen – eher beunruhigen? | |
Ich würde sagen: Die Dinge können schlimmer werden, auf eine Art und Weise, | |
die aus der Vergangenheit bekannt ist – und sie können auf eine neue, | |
unvorhergesehene Art und Weise schlimmer werden. Wir leben bereits in einer | |
Welt, in der viele Demokratien auf die eine oder andere Art den | |
Ausnahmezustand als normale Sache eingeführt haben, nicht um die Verfassung | |
abzuschaffen, sondern um sie zu umgehen, wann immer es nötig erscheint. Die | |
klassische Idee, dass man eine Genehmigung braucht, um in den | |
Ausnahmezustand zu kommen, ist vorbei. Wir warten in unseren Köpfen auf den | |
Moment, in dem irgendeine führerähnliche Figur sagt: „Okay, keine liberale | |
Demokratie mehr, jetzt habe ich das Sagen.“ So wie wir es in Russland | |
sehen, das sich von einer Form von Autoritarismus gerade zu etwas | |
entwickelt, das dem Totalitarismus näherkommt. | |
Wir müssen also [7][nicht mit einer Neuauflage des Faschismus] nach Bauart | |
des 20. Jahrhunderts rechnen? | |
Selbst wenn es nur weiter um eine Erodierung der liberalen Demokratie geht, | |
ist das immer noch eine Gefahr. Wir würden mehr und mehr faschistoide Dinge | |
in unserer Gesellschaft haben, ohne dass wir unbedingt unsere minimalen | |
Grundfreiheiten aufgeben müssten. Wir hier in Israel etwa könnten uns | |
weiterhin, wie jetzt, in einem Café unterhalten, während die liberale | |
Demokratie zerlegt wird – während, wie vor einigen Monaten geschehen, sechs | |
palästinensische NGOs kriminalisiert werden oder während ein | |
Nationalstaatsgesetz wie das von 2018 erlassen wird, das die | |
Diskriminierung palästinensischer Israelis legalisiert. Es fällt uns | |
bislang schwer, uns die neue Form vorzustellen, in der die Grenzen zwischen | |
Gesetzlosigkeit und Rechtsstaatlichkeit vor unseren Augen verschwimmen. | |
Die Linke scheint dem machtlos gegenüberzustehen, weltweit genauso wie in | |
Israel. | |
Die Linke ist ja in ihrer Essenz universalistisch: Alle Menschen sollten | |
gleich sein. Mit dem Kommunismus hatten wir eine universalistische Idee. | |
Aber als der eiserne Vorhang fiel, wurde es schwer, sich noch mit dem | |
politischen Programm des Kommunismus zu identifizieren. Wir waren auf einen | |
Woody-Allen-Witz zurückgeworfen. Da sagt eine alte jüdische Frau in einem | |
Restaurant zu einer anderen: „Oh, das Essen hier ist so schlecht.“ Und die | |
andere sagt: „Ja, und es gibt so wenig davon.“ Das ist seit Jahren die | |
Haltung der Linken gegenüber der liberalen Demokratie: Die liberale | |
Demokratie ist so schlecht – und es gibt so wenig davon. Wenn man kein | |
anderes Gericht anbietet, keine Alternative, bleibt nur diese | |
widersprüchliche Einstellung übrig. Davon ist die Linke schon seit Langem | |
gelähmt. | |
Kein Ausweg? | |
Antiliberale Demokratien funktionieren so, dass sie uns an allem zweifeln | |
lassen: „Vertraue nicht auf das, was die Behörden dir sagen. Stell deine | |
eigenen Nachforschungen an.“ Wir, die Linken, sind der Aufklärung | |
verpflichtet und der Maxime: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu | |
bedienen.“ Wie also gehen wir mit dieser Situation um? Wie erklären wir | |
uns, warum die eigene Skepsis plötzlich problematisch ist? Oder so | |
formuliert: Die Linke hat lange die Position des Kindes übernommen, das den | |
König für nackt erklärt. Wir Linken erwarten, dass so kritisches Denken | |
funktioniert, dass es die Macht entlarvt und sie ohnmächtig macht. Aber was | |
tun wir, wenn der König selbst erklärt, er sei nackt, und jeder ihn dafür | |
zu mögen scheint? | |
Ja, was kann die Linke da tun? | |
In erster Linie müssen wir ehrlich damit umgehen, dass wir vor diesem | |
großen Rätsel stehen: Wie gehen wir mit dieser veränderten Situation um? | |
Wir leben in einer Zeit, in der sich dramatische Veränderungen abspielen, | |
Klimawandel, Digitalisierung. Die Linke ist es gewohnt, die Antworten zu | |
haben. Aber wir haben sie gerade nicht. Vielleicht haben wir die Fragen. | |
Und das ist nicht wenig. | |
31 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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