| # taz.de -- New Museum in New York: Genitalien aus Textil | |
| > Vor 40 Jahren gründete Marcia Tucker das New Museum. Zum Jubiläum setzt | |
| > sich die Kunst mit Transsexualität und Identität auseinander. | |
| Bild: Abstrakte Räume | |
| Überquert man im Südosten Manhattans die Bowery, bekommt man noch immer | |
| einen guten Eindruck davon, wie heruntergekommen diese Gegend vor einigen | |
| Jahren gewesen sein muss. Bauarbeiten an jeder Ecke sprechen aber für einen | |
| Wandel. Ausgelöst wurde er nicht zuletzt durch den Umzug des New Museum aus | |
| SoHo in die Bowery im Jahr 2007. | |
| Das Risiko, in eine gefährliche und weit von jeglicher Gentrifizierung | |
| entfernte Nachbarschaft zu ziehen, passte, wie seine Direktorin Lisa | |
| Phillips meint, sehr gut zum Konzept des New Museum. Das wurde anlässlich | |
| seines 40. Jubiläums besonders deutlich, noch immer ist sein Auftritt jung | |
| und unbeschwert: „Wir sind nicht an eine Sammlung gebunden. Deshalb bleiben | |
| wir ein Labor für Experimente in der Kunst“, sagt Phillips. | |
| Die aktuelle Ausstellung „Trigger: Gender as a Tool and a Weapon“ führt die | |
| Debatte über Sexualität, Transsexualität und Identität fort. Schon 1982 gab | |
| es die erste Ausstellung „Extended Sensibilities“ zum Thema. Jetzt gibt das | |
| Museum der Ausstellung Raum auf drei Etagen. Gezeigt wird etwa Tschabalala | |
| Self, eine Künstlerin, die erst 1990 geboren wurde. Ihre Gemälde auf | |
| Leinwand mit Stoffdetails sind beeindruckende Momentaufnahmen von | |
| weiblichen schwarzen Personen in der heutigen Popkultur. Die Körperteile | |
| und großen Genitalien darin sind aus Textil. Deshalb erinnern die | |
| abgebildeten Frauen von Weitem an ein grobes Patchwork. Self beschäftigt | |
| sich in ihren Werken mit schwarzer Identität und Sexualität. Die | |
| Ausstellung hätte der Gründerin des alternativen Museums, Marcia Tucker, | |
| sicherlich gefallen. | |
| Die Kunsthistorikerin und Kuratorin gründete 1977 das New Museum. Bevor das | |
| Museum im selben Jahr in einen kleinen Galerieraum in Greenwich Village und | |
| 1983 nach SoHo zog, zeigte Tucker im Projektraum C Space in Tribeca ihre | |
| erste Ausstellung „Memory“, die das persönliche und kollektive Gedächtnis | |
| reflektierte – und ein Überdenken der Funktionen des Museums forderte. | |
| Nach Jahren kuratorischer Arbeit am Whitney Museum of American Art wollte | |
| Tucker das klassische Museumskonzept mit experimentellen Ausstellungen | |
| sowie jungen und weiblichen Künstlerinnen verändern. | |
| In den Anfangsjahren arbeitete Tucker eng mit dem Kunstkritiker, Autor und | |
| Kurator Brian Wallis zusammen. Er attestiert seiner ehemaligen Chefin ein | |
| neugieriges, offenes und experimentierfreudiges Wesen. Von 1982 bis 1987 | |
| bereicherte er das Programm am New Museum mit seinem Wissen über die | |
| postmoderne Galeriekunst. Seine Chefin verfolgte hingegen Außenseiter, die | |
| ihrer Meinung nach nicht genug Anerkennung in der Kunstwelt bekamen. | |
| Tuckers Wesen zeigte sich auch in den Arbeitsstrukturen: Wallis erzählt, | |
| dass sie jeden Mitarbeiter einmal durch alle Jobs laufen ließ – so wusste | |
| jeder im Team, was es bedeutet, ein Museumswächter zu sein. Anfangs | |
| überlegte sie sogar, allen das gleiche Gehalt zu zahlen. Im Gespräch | |
| beschreibt Wallis die Arbeitsatmosphäre: „Das New Museum war ganz klar | |
| Marcias persönliches Projekt, und sie war der Fokus, aber nie in einer | |
| dominierenden Art und Weise. Wir hatten wöchentliche Meetings, in denen | |
| jeder seine Meinung sagen konnte – das artete manchmal in richtige | |
| Streitgespräche aus. Marcia bestand aber nie auf ihren Standpunkt, sondern | |
| war immer offen für andere Ansichten.“ | |
| Zahlreiche Ausstellungen resultierten aus Vorschlägen, die Wallis damals | |
| machte. So realisierte er im Winter 1984 die großen Projektionen seines | |
| Freunds Krzysztof Wodiczko auf der Fassade des Museumsgebäudes in SoHo. | |
| Wallis beobachtete die Arbeit des polnisch-amerikanischen Künstlers und | |
| Aktivisten für Obdachlose schon lange Zeit, fand aber erst im New Museum | |
| einen passenden Ort für dessen Werk. | |
| Viele weitere Ausstellungen zeigten Künstler, deren gesellschaftskritisches | |
| Werk keine Plattform fand. Mit „Cornered“ adressierte Adrian Piper 1988 den | |
| Rassismus in den USA – von anderen Institutionen wurde sie nach eigenen | |
| Aussagen deshalb boykottiert. Auch Hans Haacke zeigte 1986/87 mit „Hans | |
| Haacke: Unfinished Business“ eine umstrittene Soloshow. Sie sollte | |
| eigentlich 1971 im Solomon R. Guggenheim Museum in New York stattfinden. | |
| Doch das Guggenheim sagte die geplante Ausstellung ab, weil Haacke dessen | |
| Verbindungen zu dubiosen Figuren der New Yorker Immobilienszene öffentlich | |
| gemacht hatte. | |
| Als Marcia Tucker sich 1999 aus Altersgründen von ihrer Arbeit im Museum | |
| löste, wurde Lisa Phillips ihre Nachfolgerin. Als junge Praktikantin am | |
| Whitney Museum arbeitet Phillips erstmals mit ihrem Idol zusammen: „Ich | |
| habe sie immer für ihren unabhängigen Geist bewundert“, sagt sie über | |
| Tucker. Phillips ist es wichtig, Tuckers Idee noch viele Dekaden | |
| weiterzuführen. Die Leiterin ist rückblickend besonders stolz auf die erste | |
| Retrospektive des kontroversen amerikanischen Künstlers Paul McCarthy, die | |
| sie 2001 im New Museum zeigte. Auch die von Tucker initiierten thematischen | |
| Gruppenausstellungen führt sie nicht nur mit der aktuellen genderbezogenen | |
| Ausstellung fort. | |
| Das New Museum, dessen Eingangshalle den Namen „The Marcia Tucker Hall“ | |
| trägt, wird in der Bowery bleiben, allerdings wie Phillips im Gespräch | |
| verrät, ist eine große Erweiterung der Ausstellungsflächen geplant. Bei so | |
| viel Vorhaben sollte sich Phillips aber Tuckers letzten Rat an ihre | |
| Nachfolgerin besonders zu Herzen nehmen: „Lass das Museum ja nicht deine | |
| Gesundheit gefährden.“ | |
| 21 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Lorina Speder | |
| ## TAGS | |
| Gender | |
| Ausstellung | |
| Gender | |
| Transgender | |
| New York | |
| Bildende Kunst | |
| Intersexualität | |
| Medienkunst | |
| Gesellschaftskritik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Rem Koolhaas im Guggenheim Museum: Liegt die Zukunft auf dem Land? | |
| Die Ausstellung „Countryside, The Future“ im New Yorker stellt Fragen nach | |
| der Zukunft der Architektur und sucht die Antworten im ländlichen Raum. | |
| Konzeptkünstler über die USA: „Nicht mein Präsident“ | |
| Der US-Konzeptkünstler Hans Haacke erklärt, warum er immer wieder aneckt, | |
| weshalb seine Kunst politisch sein muss und was er von Donald Trump hält. | |
| Intersexualität im Spitzensport: Welches Geschlecht? | |
| Athleten, die sich einer klaren geschlechtlichen Zuordnung entziehen, | |
| werden diskriminiert. Das muss sich ändern. Nur wie? | |
| Kunst zwischen Geschlechtern: Sex ist nur der Anfang | |
| „Wild – Transgender and the Communities of Desire“ ist ein fordernder | |
| Einblick in die immer noch provozierende Ästhetik einer Verweigerung: nicht | |
| nur Mann oder nur Frau sein zu wollen | |
| Wenig Verständnis für Transpersonen: Hier gibt es nichts zu sehen | |
| Die Musikerin Anohni will nicht mehr in Deutschland auftreten. Grund dafür | |
| ist eine transfeindliche Rezension von „Zeit Online“, sagt sie. |