# taz.de -- Neues Album mit Jazz und HipHop aus Köln: Die Freiheit umarmen | |
> Der Kölner Rapper Retrogott trifft auf die Jazzband Perfektomat. Das | |
> Album „Zeit Hat Uns“ ist vielschichtig und hat einen eigenen Groove. | |
Bild: Der Bassist Joscha Oetz und der Rapper Kurt Tallert alias Retrogott | |
„Die Nächstenliebe kann lieblos / Und das Einkaufszentrum oder das / | |
Außengelände des Accessment-Centers / Können genauso gut Friedhöfe sein …… | |
– Dem Reimen von Kurt Tallert zu folgen heißt eine lyrische Kletterpartie | |
im Hochgebirge zu vollziehen. Während man die Gipfel aus Referenzen und | |
philosophischen Gedankenspielen besteigt, drohen immer wieder | |
Diskursabbrüche. Tallert, den man eher unter seinem Rap-Pseudonym Retrogott | |
kennt, gilt schon seit Mitte der nuller Jahre als führender Wortakrobat im | |
hiesigen HipHop-Zirkus. | |
Statt dicker Hose und sozialer Brennpunkt-Fanfiction schickt er aus dem | |
Kölner Süden bereits seit den Anfangstagen poetisch-philosophische | |
Reimeskapaden der Extraklasse. Schon lange hat der 1986 geborene Künstler, | |
meist in Begleitung seines Instrumentals bastelnden Sparringpartners Hulk | |
Hodn, im deutschsprachigen HipHop einen festen Platz erklommen. Dafür | |
brauchte es weder Alphamännchen noch körperliche Gewalt oder unnötige | |
Beleidigungen auf Pennälerniveau. Das Gegenteil ist der Fall: Habituell | |
spazieren die Lyrics von Retrogott am Uni-Campus umher. | |
Orts- und Ärawechsel: 1968 steht eine Gruppe Afroamerikaner an den | |
Straßenecken in Harlem und textet die Nachbarschaft als | |
Bürgerrechtsbewegungs-Community-Board in Musikform zu. The Last Poets | |
nannten sich die zwischenzeitlich acht jungen Leute, die inzwischen auf | |
Triogröße geschrumpft sind. Ihr Proto-Rap, die flowende Verkündung von | |
Unrecht und Black Power, brachte sie ins Plattenregal – aber ebenso auf die | |
Observationslisten von FBI und CIA. Darüber hinaus inspirierten die Last | |
Poets etliche Generationen an HipHop-Heads, über Umwege dann auch die | |
hiesigen. | |
Das wird auf „Zeit hat uns“, dem Album, das Retrogott mit der Gruppe | |
Perfektomat nun realisiert hat, mehr als offensichtlich. Bei den Poets gab | |
den Takt einst die Trommel der Beat-Literatur vor; bei Perfektomat | |
geschieht das durch Frontmann Joscha Oetz. | |
Oetz ist Teil der Kölner Jazz- und Improvisationsszene, die über die | |
letzten 30 Jahre sich vor allen Dingen durch ihre Nähe zu Avantgarde- und | |
Freejazzformen ausgezeichnet hat. Der 1971 geborene Kontrabassist spielt | |
derweil nicht nur in verschiedenen Konstellationen, sondern lehrt den Jazz | |
auch: als künstlerischer Leiter der Offenen Jazz Haus Schule, bezüglich | |
Musikvermittlung Vorbild in Köln. | |
## Ungewohnt swingendes Metrum | |
Die musikalischen Vorbilder für das Projekt sind zahlreich. Tallert und | |
Oetz kommen mit ihrer Aufzählung kaum hinterher: „Miles Davis, Steve | |
Coleman, [1][Gil Scott-Heron], Ornette Coleman …“ Immer Jazz und HipHop | |
zugleich – aber das Beste aus beiden Welten? | |
Jedenfalls sind hochkomplexe, assoziativ entstandene Philosophieexperimente | |
mit Bezügen zur späten Beatszene zu hören. Ebenso zur politischen Lyrik, zu | |
den Ursprüngen von Rap sowieso. So hört man auf Tracks wie dem kritischen | |
Anti-Rechts-der-Mitte-Song „Nationalkulturalismus“ nicht einfach | |
HipHop-Lyrics, sondern eher Sprechgesang vom Rapper Retrogott. | |
Das musikalische Grundgerüst liefert derweil nicht nur Oetz am Bass, | |
sondern auch der Rest der Band Perfektomat. Besonders toll: [2][Laura | |
Robles. Die Peruanerin gibt mit ihrer Percussion aus Cajon und Congas] ein | |
bisweilen ungewohnt swingendes Metrum vor; eine Begebenheit, an die sich | |
Tallert erst gewöhnen musste: Statt Viervierteltakt gibt es | |
afro-peruanische Synkopen. | |
Dazu immer wird immer wieder ausgeschwärmt hin zu Afro-Beats und High-Life, | |
meistens durch Gitarren oder Saxofon ins Spiel gebracht. Afrika, | |
Südamerika, Harlem, Köln: Oetz bringt für dieses vielschichtige und | |
multidimensionale Konstrukt einen längst vergessenen Begriff aus der | |
Jazz-Geschichte ins Spiel. Die einst vom Freejazz-Vordenker Ornette Coleman | |
eingeführte Vokabel „harmolodic“ bezeichnet eben eine Spielweise, die sich | |
nicht mehr an Genregrenzen abarbeitet, sondern die Freiheit umarmt. | |
Viele Facetten, bisweilen etwas zu verkopft, nie unterkomplex und trotzdem | |
groovy. Ob das nun eher etwas für HipHopper oder doch für Jazzer ist, kann | |
uns folglich egal sein. | |
27 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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