# taz.de -- Neues Album von Angel Bat Dawid: Auf göttlicher Mission | |
> Die US-Musikerin Angel Bat Dawid legt mit „Requiem for Jazz“ ein | |
> kontroverses Konzeptalbum vor. Zu ihrem Ziel gehört auch die Ausrottung | |
> des Rassismus. | |
Bild: Hier lebt der Jazz noch: Energiebündel Angel Bat Dawid | |
Ein Requiem für den Jazz. Diese in der römisch-katholischen Kirche | |
liturgische Form der Totenmesse bildet das Korsett der Musik auf dem neuen | |
Album der in Chicago lebenden Komponistin, Klarinettistin und Sängerin | |
Angel Elmore alias Angel Bat Dawid. Sie hat eine 12-sätzige Suite als | |
Abgesang auf eine Etikettierung konzipiert, die mehr bedeutet als ein | |
musikalisches Genre. | |
Diese Musik war, so erklärt die 1979 als Tochter von Baptistenpredigern | |
geborene Künstlerin, nichts weniger als eine Überlebensstrategie für | |
Schwarze in den USA. Jazz sei tot, postuliert Elmore, jedenfalls das, was | |
dieser Begriff für sie beinhaltet: ein „weißes“ Konstrukt, das die | |
originäre Leistung Schwarzer Künstler:innen und ihre Urheberrechte nicht | |
anerkennt und damit sinnbildlich für Unterdrückung und Diskriminierung | |
steht. | |
Dass Jazz tot sei, war schon 1959 die Aussage des afroamerikanischen | |
Regisseurs Edward O. Bland in seinem 34-minütigen Schwarz-Weiß-Film „The | |
Cry of Jazz“. Verbunden mit Alltagsszenen aus dem Leben in der überwiegend | |
von Afroamerikaner:innen bewohnten South Side Chicagos, in der der | |
Filmemacher aufwuchs – Schriftsteller wie Ralph Ellison und Langston Hughes | |
waren regelmäßig zu Gast in seinem Elternhaus –, bedankt sich eine junge | |
weiße Frau beim Gastgeber, sie habe jetzt verstanden, dass Jazz Rock ’n’ | |
Roll sei, also „weiße“ Musik. | |
In der anschließenden Diskussion über Jazz als Schwarze Kunstform, erklärt | |
der Schwarze Protagonist Alex den Anwesenden, woher Jazz kam, vor allem von | |
wem, und was dessen einzelne Elemente, wie Akkorde und Akkordwechsel | |
(„chords“ and „changes“), über die Musik hinaus bedeuten: Jazz spiegel… | |
improvisierte Leben und das Problem der „ewigen Gegenwart“ und | |
„zukunftslosen Zukunft“ der Schwarzen Bevölkerung in diesem Land. | |
## Sun Ras Afrofuturismus | |
Den Soundtrack bildet die Musik des frühen [1][Sun Ra], damals noch unter | |
dem Künstlernamen Sonny Ray, dessen Musik der Film als Höhe- und Endpunkt | |
des Jazz nennt. Anlässlich des 60. Jubiläums des Films entwickelte Elmore | |
eine Auftragskomposition, die sie 2019 auf dem Hyde Park Jazz Festival in | |
Chicago vorstellte. In ihrer musikalischen Praxis bezieht sich Elmore auf | |
den Afrofuturismus Sun Ras, einer kulturellen Ästhetik, die die | |
afrikanische Diaspora und ihre transatlantische Geschichte mit einem | |
kosmischen und nicht zeitlinearen Verständnis von Wissenschaft betrachtet | |
und so eine Zukunftsvision jenseits der im Film postulierten „futureless | |
future“ formuliert. | |
Sun Ra sah eine mögliche „exterrestrische“ Zukunft, in der er, metaphorisch | |
und ähnlich dem biblischen Noah, einige Auserwählte in einem Raumschiff zu | |
dem Planeten Saturn führt, auf dem ein Leben ohne Diskriminierung und Krieg | |
möglich ist. Dass Sun Ra allerdings Frauen als Künstlerinnen nicht | |
besonders hochschätzte, berichtete die US-Pianistin und Komponistin Carla | |
Bley, die ihn mit Macho-Sprüchen in der Jazz Composers Guild erlebte. | |
Für Elmore ist die Musik und Philosophie Sun Ras das Leitbild. Neben ihrem | |
Septett Tha Brothahood leitet Dawid das Frauentrio Sistazz of the Nitty | |
Gritty, das bereits mit dem [2][Sun Ra Arkestra] in New York spielte. Auf | |
„Requiem for Jazz“ sind als „kosmische Gäste“ im letzten Satz der Lux | |
aeterna der mittlerweile 98-jährige Altsaxofonist Marshall Allen zu hören, | |
der seit dem Tod Sun Ras 1993 das Arkestra leitet, sowie der Schlagzeuger | |
Knoel Scott, der ebenfalls noch mit Sun Ra spielte. | |
Ihre Beiträge wurden Ende 2020 im „Arkestral Institute of Sun Ra“ in | |
Philadelphia aufgenommen und dazugemischt. Elmores auf dem Album zu | |
hörender Dank an Sun Ra: „Thank you for your music that you passed on to | |
me, I hear you!“, wird durch das spätere Overdubbing eines Altsaxofon-Solos | |
von Marshall Allen scheinbar bekräftigt. Musikalisch funktioniert es, das | |
Stück entwickelt einen hymnischen Sog, der Geigen und Stimmen zu einem | |
koronalen Finale zusammenfließen lässt. | |
## HipHop, Spirituals und Mozart | |
Dawids 15-köpfiges Orchester Tha ArkeStarzz ist ein | |
Mehrgenerationen-Ensemble, das aus Personal der Musikszene Chicagos | |
besteht: Darunter der Saxofonist Isaiah Collier, der 2022 mit seiner Band | |
The Chosen Few auch beim JazzFest Berlin auftrat. Dazu singt der | |
vierköpfige Chor Tha Choruzz, dessen Mitglieder auch beim Black Monument | |
Ensemble wirken, einzelne Dialoge aus „Cry of Jazz“. | |
Die von Dawid arrangierte, dirigierte und nachbearbeitete Musik verbindet | |
Elemente der „Great Black Music“ von Spirituals über Vocoder-verzerrten | |
Gesang und HipHop bis zu Neuer Musik, die an zeitgenössische Schwarze | |
Komponist:innen wie Jeffrey Mumford, George Lewis oder Pamela Z. | |
anknüpft und vor allem an die Kompositionen von Art Ensemble of | |
Chicago-Gründungsmitglied Roscoe Mitchell. | |
Dabei gelingt es Dawid, indem sie Stilanleihen aus Mozarts Requiem in | |
d-Moll (KV626) bezieht, tatsächlich, die als römisch-katholische Liturgie | |
konzipierte Suite in ein Gesamtkunstwerk aus sich kaleidoskopisch | |
ineinanderschiebenden Fragmenten afroamerikanischer Musikkultur zu | |
transformieren: Vom Introitus über das Kyrie eleison bis zum Lux aeterna. | |
Sie selbst vergleicht ihre Kompositionspraxis mit Mozart: Die Partitur sei | |
bereits fertig in ihrem Kopf und müsse nur noch aufgeschrieben werden. | |
## Für eine Welt ohne Rassismus | |
Das Album ist eine Anklage der für ihre Publikumsbeschimpfungen (eines | |
bürgerlichen weißen Publikums) bekannten Künstlerin. Gegen die Art und | |
Weise, wie in der Musikindustrie Schwarze Musiker:innen unter dem Label | |
„Jazz“ künstlerisch und kompositorisch an den Rand gedrängt wurden. | |
Der Chicago Tribune sagte sie 2021, [3][bei ihrem Auftritt auf dem Berliner | |
JazzFest 2020] habe sie „auf Schritt und Tritt Diskriminierung erlebt“ und | |
ihr Ziel sei es, mit allem, was sie tue, den Rassismus auszurotten. „Ich | |
war für einen göttlichen Zweck in Europa, um für die Abschaffung des | |
Rassismus zu kämpfen“. | |
Während sich viele Schwarze Künstler:innen, auch aus Chicago, von Bat | |
Dawids radikaler Praxis distanzieren, darunter [4][der Komponist und | |
renommierte Autor George E. Lewis,] der ebenfalls in der South Side | |
aufwuchs, kommt in der Coda des Albums ein weiches Element zum Vorschein. | |
Eine Erinnerung an Elmores jüngere Schwester Binti Zawadi, die zu Beginn | |
der Pandemie an einem Asthma-Anfall starb. Auch für sie sei dieses Requiem. | |
Und für eine bessere Zukunft. Im Film wie im Album heißt es am Schluss: | |
„Der Körper des Jazz ist tot. Aber sein Spirit lebt weiter.“ | |
4 Apr 2023 | |
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