| # taz.de -- Neuer Thriller von Stephen King: Der junge Geisterseher | |
| > Die Toten lügen nicht: In dem Thriller „Später“ von Stephen King muss | |
| > sich ein Junge unter den gestorbenen Menschen bewähren und kämpfen. | |
| Bild: Kinderschreck A. Pennywise, Spielzeug nach einer Stephen-King-Figur | |
| Stephen King ist – neben vielem anderen – ein engagierter und effektiver | |
| Coming-of-Age-Schriftsteller. [1][King-Klassiker wie „It“], „The Shining�… | |
| „Dr. Sleep“, „Low Men in Yellow Coats“ schildern das mythisch Böse aus… | |
| Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Aus dem Blickwinkel einer | |
| Lebensphase also, in der die Angelegenheiten der Erwachsenenwelt oft genug | |
| auch ohne die Anwesenheit von Geistern und Monstern unverständlich und | |
| unheimlich erscheint. Und die okkulten Fähigkeiten des Geistersehens, der | |
| Telekinese, der Prophetie und des Exorzismus werden in seinem Werk | |
| durchgehend Kindern zugesprochen – oder Erwachsenen, die im Grunde Kinder | |
| geblieben sind. | |
| Auch Jamie Conklin, der Held des neuen – in der Technik einer | |
| Netflix-Exposition auf Fortsetzung angelegten – Romans „Später“, besitzt | |
| eine dieser dämonischen Gaben. Er kann gestorbene Menschen sehen und mit | |
| ihnen reden. | |
| King bedient sich zur Ausarbeitung dieser sehr unheimlichen Vorstellung bei | |
| dem schwedischen Mystiker Emanuel Swedenborg, der mitten im Zeitalter der | |
| Spätaufklärung (das freilich auch eins der Geisterseher war) postulierte, | |
| dass das „Leben der [im Jenseits, S. W.] neu angekommenen Geister ihrem | |
| Leben in der natürlichen Welt nicht unähnlich ist, und sie nichts vom | |
| Zustand ihres Lebens nach dem Tode wissen, sie sich aber doch darüber | |
| wundern, dass sie ganz wie in der Welt einen Leib und alle Sinne besitzen“. | |
| Unter anderem können die Toten nicht lügen. Sie halten sich, ein wenig | |
| gleichgültig, aber durchaus gesprächsbereit, eine Weile lang am Ort ihres | |
| Todes auf, den meisten unsichtbar. Aber besonders Begabte, Jamie Conklin | |
| zum Beispiel, können sie sehen, hören und befragen. Was dessen Erfinder die | |
| vielfältigsten Ansatzpunkte für halb unheimliche, halb kriminalistische | |
| Handlungsansätze bietet. | |
| ## Geheimnisse einer Polizistin | |
| Jamies Mutter nämlich ist nicht nur eine literarische Agentin, deren | |
| gewinnbringendster Autor gerade gestorben ist, sie ist auch liiert mit Liz, | |
| einer Polizistin, die sich in illegale Drogengeschäfte und die | |
| dazugehörigen Folgedelikte, Morde und Todesfälle verwickelt hat. | |
| Was Stephen King aus dieser mehrsträngigen Exposition macht, ist wie immer | |
| fulminant, darf hier jedoch nicht im Detail verraten werden. Nur so viel: | |
| Eine weitere Tiefendimension in Bereiche okkulten Wissens neben dem | |
| Swedenborgismus gewinnt „Später“ dadurch, dass auch der tibetische | |
| Buddhismus und seine schamanistisch-dämonologischen Riten und Mythen zu | |
| Momenten der Handlung gemacht werden. Jamie nämlich bekommt es nicht nur | |
| mit gelangweilt die Wahrheit aussprechenden toten Schriftstellern und der | |
| kriminellen Liebhaberin seiner Mutter zu tun, sondern auch mit einem | |
| veritablen Dämon, der sich im Astralkörper eines sehr bösen toten Mannes | |
| versteckt hat. | |
| Dieser Tote heißt Kenneth Therriault und ist ein Serienmörder, der sich | |
| nach Vorbereitung einer finalen Großexplosion selber in die Luft gesprengt | |
| hat. Ort und Zeitpunkt des posthumen Anschlags zu enthüllen, zwingt die | |
| kriminelle Polizistin den kleinen Jamie, sehr gegen seinen Willen und sehr | |
| zu seinem Schaden. Denn der im Geist jenes Massenmörders versteckte Dämon | |
| beschließt, ihn nicht mehr in Ruhe zu lassen. Therriaults Geist erscheint | |
| Jamie von nun an überall. Eine Lage, in der logischerweise nur noch die | |
| Geisteswissenschaften helfen können, nämlich in Gestalt des emeritierten | |
| Professors Martin Burkett, eines Nachbarn. | |
| Aufgrund seiner ethnologisch-religionshistorischen Eingeweihtheit weist | |
| der 80-jährige Professor den jungen Geisterseher auf das Chüd-Ritual des | |
| tibetischen Buddhismus hin, durch welches böse Geister bekämpft werden | |
| können. Und mit dessen Hilfe Jamie seinen dämonischen Quälgeist auch eine | |
| Weile auf Distanz hält. Er wird allerdings, darauf kann jetzt schon | |
| gewettet werden, in den Fortsetzungen des Romans (der auf Cliffhanger-Art | |
| endet) noch eine tragende Rolle spielen. | |
| ## Viele Bälle in der Luft | |
| Wie Stephen King es schafft, die disparaten Bälle dieses Spiels – | |
| Ethnologie, okkulte Theologie, Kriminologie, Literaturgeschichte, | |
| Splatterikonografie, ödipale Psychologie und Bullshit – in der Luft zu | |
| halten, ohne dass unsere willing suspension of disbelief erlahmt und alles | |
| zu Boden purzelt, ist auch in seinem neuen Roman wieder ein Kunststück, das | |
| die Leserin mit derselben Atemlosigkeit verfolgt, die uns Darbietungen | |
| eines Hochseilartisten abfordern. | |
| Das zentrale Geheimnis besteht wie immer in der Sympathie des Lesers für | |
| die Hauptfigur. King versteht sie durch eine Vertrautheit mit kindlicher | |
| Psychologie aufzubauen, die erkennbar eigener autobiografischer Erfahrung | |
| entstammt. Hier liegt der identifikatorische Wärmepol des Buchs, dessen | |
| Autor der Sohn einer alleinerziehenden Mutter gewesen ist. Auch der | |
| literarische Hochseilartist Stephen King ist ein Erwachsener, der sich | |
| seine Kindheit bewahrt hat. Nicht zuletzt aber ist „Später“ ein sehr | |
| plausibler New-York-Roman. Die Geografie und Psychogeografie der großen | |
| Stadt und ihres Umlands spielen auf gelingende Weise mit. | |
| Stephen Kings Bücher tendierten seit „The Dark Tower“ zur Fortsetzung und | |
| zur Erzeugung großflächiger und mythenförmiger Erzähluniversen. Nach der | |
| „Bill-Hodges-Trilogie“, die sich [2][im letzten großen Roman „Der | |
| Outsider“] nach dem literarischen Ableben der Hauptfigur sozusagen posthum | |
| verzweigte, ist „Später“ ein neuer Auftakt. Wir constant readers können u… | |
| auf Beiträge zu einem neuen Zyklus in den nächsten Jahren freuen. Wie es ja | |
| zu den vielfältig tröstenden Gewissheiten unseres Leselebens seit | |
| Jahrzehnten gehört, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit | |
| bald wieder ein Roman von Stephen King herauskommen wird. | |
| 22 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stephan Wackwitz | |
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