# taz.de -- Neue HBO-Serie „The Outsider“: Ein unmöglicher Mord | |
> Die Serie „The Outsider“ ist die Verfilmung eines Stephen-King-Romans. | |
> Drehbuchautor Richard Price macht daraus eine Milieustudie der | |
> US-Unterschicht. | |
Bild: Weder in der Mehrheitsgesellschaft noch in ihrer Seele zu Hause: Holly Gi… | |
Ein Junge wird bestialisch ermordet, buchstäblich: Sein Körper ist | |
verwüstet, mit Bissspuren, wie von einem wilden Tier angefallen. Die | |
Polizei ermittelt, das Ganze erweist sich rasch als glasklarer Fall, auch | |
wenn der Mann, den Zeugen in der Nähe des Tatorts sahen, der Mann, dessen | |
DNA-Spuren sich an der Leiche finden, bislang ein mehr als unbescholtener | |
Bürger des (fiktiven) Städtchens Cherokee im US-Südstaat Georgia ist. | |
Sein Name ist Terry Maitland (gespielt von Jason Bateman), er war | |
Baseball-Coach des Jugendteams der Stadt, geliebter Ehemann, Vater zweier | |
Töchter. Die Sache ist so unerklärlich wie eindeutig, und zwar so | |
eindeutig, dass der ermittelnde [1][Polizist Ralph Anderson (Ben | |
Mendelsohn)] den so dringend Verdächtigen vor den Augen des Publikums | |
während eines Baseball-Spiels verhaften lässt. Sein Ruf und der seiner | |
Familie ist damit zerstört. | |
Dann aber leugnet Maitland entschieden, behauptet, er sei zur Tatzeit gar | |
nicht in Cherokee gewesen. Es finden sich Zeugen, die das bestätigen, es | |
findet sich sogar eine Videoaufzeichnung der Konferenz, auf der er sich zum | |
Zeitpunkt des Mordes befand: Tatsächlich ist er darauf zu sehen, bei einem | |
Vortrag stellt er sogar eine Frage. | |
Das kann also nicht sein: Terry Maitland ist eindeutig schuldig, außer dass | |
er eindeutig unschuldig ist. Ein gefundenes Fressen für den engagierten und | |
brillant-aggressiven Rechtsanwalt Howard Salomon (Bill Camp), der keine | |
Mühe hat, die Anschuldigungen in der Luft zu zerreißen. | |
Der Staatsanwalt ist, wie auch Anderson, ratlos. Das alles kann nicht mit | |
rechten Dingen zugehen. Und das tut es auch nicht. „The Outsider“ ist eine | |
Serie in zehn knapp einstündigen Folgen nach einem gleichnamigen Roman von | |
Stephen King, der vor zwei Jahren erschien. Für die Verfilmung in | |
Serienform hat HBO nun aber einen Showrunner und alleinigen Autor von | |
sieben Folgen gewonnen, der seinerseits ein exzellenter Romanautor ist, | |
exzellenter noch als Stephen King, wenn auch bei weitem nicht so berühmt | |
und erfolgreich: Richard Price. | |
## Sozialbau-Hochhäuser mit Nichtprivilegierten | |
In Romanen wie „The Wanderers“, „Clockers“ oder „Lush Life“ hat er … | |
siebziger Jahren mit extremer sprachlicher Genauigkeit und als | |
Milieurealist das Leben vor allem in den abgehängten, von den | |
Mittelschichten gefürchteten und gemiedenen Bezirken der US-amerikanischen | |
Großstädte, in den sogenannten projects beschrieben, jenen | |
Sozialbau-Hochhäusern also, in die Nichtprivilegierte, oft schwarze Bürger, | |
gepfercht werden, mit vernachlässigter Infrastruktur, die Straßen von Gangs | |
kontrolliert, die sich die Drogenverkaufsareale aufgeteilt haben. | |
„Clockers“, der zum großen Teil in diesem Milieu spielt, und zwar in einer | |
fiktiven Stadt in New Jersey, ist Price’ bestes Buch und einer der großen | |
Romane der neunziger Jahre, mit einem Sprachsound, der einerseits der | |
Wirklichkeit sehr genau abgelauscht ist, ihn andererseits mit trockenem | |
Witz und großem Gespür für die Rhythmen und Arrhythmien des mündlichen | |
Sprechens in eine ganz eigene literarische Form überführt. | |
Wer „Clockers“ gelesen hatte – das Buch wurde von Spike Lee eher medioker | |
verfilmt –, erlebte bei „The Wire“, der Serie von David Simon, ein Déjà… | |
besser gesagt: Déjà-entendu. Das Gegen- und Miteinander von Gangs und | |
Polizei, die Codes und Slangs von Cops und Gangs, das kannte zwar auch | |
Simon als Reporter der Baltimore Sun selbst sehr genau, aber er hatte von | |
Price’ Romanen, wie er stets zugab, sehr viel gelernt. Nur konsequent, dass | |
er ihn in den späteren Staffeln als Autor ins Drehbuchkollektiv holte, auch | |
bei der von David Simon mit George Pelecanos entwickelten Serie „The Deuce“ | |
über das „Golden Age of Porn“ im New York der siebziger und achtziger Jahre | |
war er dabei. | |
## Düster-existenzialistische Weltsicht | |
Offensichtlich kam Price so auf den Geschmack. Gemeinsam mit Steve Zaillian | |
(„Schindlers Liste“, „The Irishman“ und vieles andere) schrieb er die | |
exzellente Mini-Serie „The Night of“, in der davon erzählt wird, wie ein | |
pakistanisch-amerikanischer Student in die Mühlen von Polizei, Justiz und | |
Gefängnis gerät. | |
Was nun „The Outsider“ mit Price’ bisherigen Büchern und Serien verbinde… | |
ist die Konzentration auf Polizei, Anwälte und Verbrechen, auch die eher | |
düster-existenzialistische Weltsicht. Die Verbindung des Forensischen mit | |
dem Übersinnlichen ist aber werkimmanent ebenso verblüffend und neu wie | |
die Verortung in einer südamerikanischen Kleinstadt. | |
Das Übersinnliche, oder auch einfach, entsprechend Stephen Kings üblichen | |
Obsessionen: das Böse, mit dem es Ralph Anderson und seine Kollegen in | |
Gestalt der mordenden Doppelgänger zu tun haben, bleibt bis zum Schluss in | |
vielen Hinsichten, in Herkunft, Motiv, aber auch den Regeln, nach denen es | |
seine Gestalt annimmt und wandelt und mit Menschen als seinen Wirtstieren | |
umgeht, eher vage. Umso genauer ist auf der anderen Seite die Zeichnung der | |
Figuren, die vom Bösen tangiert sind, oder mehr als tangiert. | |
## Existenz des Übersinnlichen | |
Die Serie folgt etwa Glory Maitland (Julianne Nicholson), der Witwe des | |
vermeintlichen Täters, die als nun alleinerziehende Mutter um die | |
Wiederherstellung von dessen Ruf kämpft, sich aber ebenso gegen den Glauben | |
an die Existenz des Übersinnlichen wehrt wie Ralph Anderson selbst. Auch er | |
und seine Frau Jeannie (Mare Winningham) sind traumatisiert, haben vor | |
wenigen Jahren ihren Teenager-Sohn durch ein Unglück verloren, um die | |
Beziehung gekämpft und zu einer sehr fragilen Form von Normalität | |
zurückgefunden. | |
Zu den Protagonisten gehört auch der sehr aggressiv-instabile Cop Jack | |
(Marc Menchaca), der sich bald als Bindeglied zwischen Gut und Böse | |
erweist. Und dazu gehört: [2][Holly Gibney (Cynthia Erivo)]. | |
Holly ist African-American, lebt in Chicago und ist in gewisser Weise die | |
Titelfigur: selbst weder in der Mehrheitsgesellschaft noch in der eigenen | |
Seele zu Hause, mit Fähigkeiten, die ihrerseits ans Übersinnliche grenzen. | |
Sie folgt als eine von draußen, wenn auch vom Pol des aufklärend Guten, dem | |
Dunklen ins Dunkle, mit allen durchaus nicht unproblematischen | |
Implikationen, die diese Angleichung der „Outsider“-Eigenschaften, die | |
Identifikation von Außenseitertum, African-American-Hintergrund, | |
Weiblichkeit mit dem ganz Anderen hat. | |
Erivo spielt das allerdings grandios, wild entschlossen und fragil | |
zugleich, immer wieder von sich selbst überrascht und rational ohne Ende. | |
## Die Vernünftigen fallen vom Unglauben ab | |
Das ist vielleicht der entscheidende Twist der Konstruktion: So vage das | |
Böse in seiner Gestalt ist, seine Existenz wird vor allem für jene | |
unabweisbar, die auf forensischer Logik und detektivischer Rationalität | |
beharren. Unvernünftig ist, wer leugnet, was ist, auch wenn es nicht sein | |
kann. „The Outsider“ ist so auch ein Drama der Konversion: Die Vernünftigen | |
fallen vom Unglauben ab. Da ist es gut, dass Price das alles virtuos erdet, | |
im Handwerk der Ermittlung zum einen, in präziser zwischenmenschlicher | |
Psychologie zum anderen. | |
Vor allem aber ist „The Outsider“ von Anbeginn in Moll und Schwere gesetzt. | |
Alles ist Tod und Verlust, Überforderung durch das Weiterlebenmüssen. | |
Nichts wird den Figuren erspart, traumatisiert sind sie alle, das ungeheure | |
Gewicht der Welt liegt auf dieser Welt. Und dann wird alles noch düsterer, | |
schwerer. | |
Schwer auszuhalten, aber „The Outsider“ ist so stark geschrieben, gespielt, | |
inszeniert, dass die Plausibilisierung auf der Ebene des | |
Figurenpsychologisch-Atmosphärischen vollauf gelingt. | |
18 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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