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# taz.de -- Neue Staffel „Babylon Berlin“: Ein Schweif des gestrigen Zaubers
> Die 3. Staffel „Babylon Berlin“ macht Glanz und Elend in Berlin zwischen
> den Kriegen greifbar. Der Trick: Re-Import des Weimarer Kinos aus
> Hollywood.
Bild: Tanz den Vulkan: Szene aus der 3. Staffel „Babylon Berlin“
„Ton ab“, ruft einer aus dem Hintergrund. Die Schauspielerin Betty Winter,
dargestellt von der polnischen Jazzsängerin Natalia Mateo, reißt eine Faust
in die Luft. „Wir sind ein Schweif des gestrigen Zaubers“, singt sie. Im
Hintergrund fliegen dank großer Trampoline androgyne Tänzerinnen mit
Glitzerkappen durch die Luft. Die Kulissen erinnern an die zersplitterten,
kubistischen Gemälde eines Franz Marc oder Ernst Ludwig Kirchner. Aber auch
das abstrakte Dekor des expressionistischen Films „Das Cabinet des Dr.
Caligari“ von Robert Wiene aus dem Jahr 1920 wird zitiert.
Der Zuschauer befindet sich in der vierten Szene der neuen Staffel von
„Babylon Berlin“, die am 24. Januar auf dem Pay-TV-Sender Sky anläuft.
Betty Winter wird gleich von einer riesigen Filmleuchte erschlagen werden,
und Gereon Rath, der Kölner Kriminalkommissar in Berlin, wird ermitteln.
Die neue Staffel von „Babylon Berlin“ der Regisseure Tom Tykwer, Achim von
Borries und Henk Handloegten basiert nicht mehr wie in den ersten beiden
Staffeln, die im Herbst 2017 anliefen, auf Volker Kutschers Kriminalroman
„Der nasse Fisch“, sondern auf dessen Nachfolger „Der stumme Tod“. Es i…
1929, das Jahr, in dem auch in Deutschland die Weltwirtschaftskrise begann.
Die Goldenen Zwanziger sind selbst in Berlin, der schnellsten und freisten
Stadt der Welt, vorbei. Es ist auch das Jahr, in dem die zweite Große
Koalition der Weimarer Republik zerbricht, das Parlament geschwächt wird
und Reichswehr und Schwerindustrie verstärkt nach Wegen sucht, eine
Regierung ohne und gegen die Sozialdemokratie zu etablieren. Die
Erfolgsgeschichte der Nazis nimmt Fahrt auf.
Immer mehr Menschen fällt es zunehmend schwerer, ihre Sorgen und Ängste
einfach wegzutanzen und wegzufeiern. Für all das findet die Serie starke
Bilder und Metaphern, die nicht immer historisch korrekt, dafür aber umso
suggestiver sind.
## Die Blütezeit des modernen Films
Die Tanzszene spielt im historischen Filmstudio Babelsberg und wurde im
selben Studio, wie es heute ist, gedreht. Sie funktioniert wie ein
raffiniertes Fundament für die neue Staffel. Während sich nämlich die
Krimiserie um Gereon Rath in den ersten beiden Staffeln eher stilistisch
und in eleganten Andeutungen auf das Kino der Weimarer Zeit bezieht,
erzählt die dritte Staffel ganz direkt von der Berliner Traumfabrik.
Die Weimarer Zeit war die Blütezeit des modernen Films. Nirgendwo sonst in
Europa gab es so viele Kinos wie in Deutschland, zwischen 1918 und 1930
wuchs ihre Zahl von 2.300 auf 5.000 an. Mitte der zwanziger Jahre gingen
täglich etwa zwei Millionen Menschen in die Kinos, also fast sieben Mal
mehr als heute. Die in Babelsberg ansässige Universum-Film AG (UFA)
produzierte mehr Filme als alle anderen europäischen Staaten zusammen, sie
war nach Hollywood die zweitgrößte Filmfabrik der Welt. Weltweit schielten
Filmschaffende nach Deutschland: Nirgendwo sonst wird im Film derart
experimentierfreudig von den neuen Freiheiten der Mobilität und Urbanität
erzählt, werden Geschlechterrollen hinterfragt und Erkenntnisse der
Psychoanalyse verhandelt. Und nirgendwo sonst reflektiert der Film, der
selbst im Umbruch ist, auch den aufkommenden Terror und die Panik davor.
Betty Winter singt in ihrem schönen Schlager nicht nur von Herz und
Schmerz, sondern auch davon, wie es ist, „in keiner Welt“ mehr „geborgen�…
zu sein. Der Tonfilm löst gerade den Stummfilm ab, die Filmindustrie ist im
Umbruch. Es gibt einen berühmten Brief von Paramount an die reale Marlene
Dietrich, der heute im Filmmuseum am Potsdamer Platz hängt: „Kommen Sie
bitte, Schiffspassage zwei Personen, erste Klasse ist gebucht. Sie bekommen
360 Dollar die Woche, später 2000.“
Auch die fiktive Betty Winter hat vor ihrem Tod ein Jobangebot aus Amerika
erhalten. Doch ihr Mann, Tristan Rot, wird man später erfahren, ist
dagegen. Rot, eine hübsche Anspielung, heißt mit bürgerlichem Namen Plumpe,
genau wie Friedrich Wilhelm Murnau, neben Robert Wiene der andere Star des
expressionistischen Kinos.
## Teuerste deutsche TV-Produktion
Rot ist ein Mann der alten Schule. Obwohl das Zeitalter der Dekadenz vorbei
ist, zeigt die Serie eine orgiastische schwarze Messe, wie sie damals
modern war, bei Rot zu Hause. Sie erinnert an „Eyes Wide Shut“, Stanley
Kubricks Verfilmung von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“. Am Set agiert
der so exaltierte wie queere Tristan Rot, sehr schön dargestellt vom
deutsch-rumänischen Theater- und Filmschauspieler Sabin Tambrea, übrigens
noch immer so übertrieben pantomimisch wie beim Stummfilm. Aber mehr darf
an dieser Stelle wirklich nicht verraten werden.
Die Serie ist mit einem Budget von 40 Millionen Euro für die ersten
Staffeln und angeblich etwa weiteren 30 für die dritte die teuerste
deutsche Fernsehproduktion, die es je gab. Mit durchschnittlich 570.000
deutschen Zuschauern pro Folge und dem Verkauf in 90 Länder weltweit ist
sie aber auch die erfolgreichste. Dafür muss natürlich auch die dritte
Staffel sorgen und ist darum in weiten Teilen auch eine schön anzusehende
Feier von luxuriöser Mode, prachtvollen Interieurs, von Ausschweifung,
Laster und Kriminalität.
Aber auch aufgrund der stärkeren Bezüge auf das Weimarer Kino wirkt
„Babylon Berlin“ gleichzeitig immer mehr wie eine ernste Warnung ans
kulturelle Gedächtnis der Deutschen, die in ihrem Land noch immer leben wie
auf einer letzten Insel der Demokratie und Freiheit. Was wissen wir schon
heute noch über die Filme der Weimarer Republik, die so viel über ihre Zeit
berichten, allerdings in derart verrauschten und langsamen Bildern, dass
sie bei der Masse der von Hollywood verdorbenen Kinogänger nicht mehr
funktionieren? Was wissen wir überhaupt noch über diese Zeit, über die kein
Zeuge mehr berichten kann?
Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Jan Assmann hat darauf
hingewiesen, dass wir oft eine „Konjunktur des Gedächtnisthemas“ erleben,
wenn die „lebendige Erinnerung“ vom Untergang bedroht ist. Hinzu kommt,
dass die Zeiten auch in Berlin härter werden, Stichworte sind Verdrängung
und Erosion sozialer Gewissheiten.
## Boom der Goldenen Zwanziger
All das ist Erklärung genug für den Boom der Goldenen Zwanziger in Berlins
gegenwärtiger Selbstvermarktung. Die Zwanzigerjahre-Revue im
Admiralspalast, das Cabaret-Musical im Tipi am Kanzleramt, Absinth-,
Charleston- und Electroswing-Partys: „Babylon Berlin lässt den
Berlin-Mythos der Zwanzigerjahre lebendig werden. Diese Zeit prägt Berlin
bis heute – und mit der Serie von Tom Tykwer bekommt sie ein
internationales Publikum“, sagt Burkhard Kieker, Geschäftsführer von
visitBerlin.
Ja, „Babylon Berlin“ ist Hype und Kommerz pur, aber es ist eben auch mehr.
Es ist zum Beispiel auch Gereon Rath. Rath, das wissen wir bereits aus den
ersten beiden Staffeln, ist ein Mann, der wie viele seiner Zeit im Ersten
Weltkrieg war, unter einer Kriegsneurose leidet und zittert. Doch seine
Verstrickungen sind auch familiärer Art: Er hat einen Bruder und, so
erfahren wir am Ende, er hat ihn auf dem Schlachtfeld im Stich gelassen.
Als er nach Hause kam, ließen ihn die Eltern spüren, dass sie lieber den
anderen Sohn zurück bekommen hätten. Mal wirkt Rath verschlossen bis hart,
mal angeschlagen bis kaputt. Er ist die schillerndste Figur in „Babylon
Berlin“, er verkörpert einen völlig neuen Typ Mann. Und wird als Figur nur
übertroffen von Charlotte Ritter aus einem Berliner Hinterhof, die sich und
ihre Familie mit Prostitution ernährt, aber „zur Mord“ will, wie sie sagt.
Mit Beginn der dritten Staffel scheint Gereon Rath geheilt. Noch vor der
eingangs beschriebenen Mordszene geht er ins Bad, schaut auf seine Hände,
die nicht mehr zittern, greift nach dem Etui mit den Opiumampullen, die wir
aus den ersten Staffeln kennen – und stellt es zurück. Auch Charlotte
scheint gefestigt. In Szene drei rammt sie einem Mann den Ellbogen in den
Magen, der sie im Bus auf dem Weg zur Arbeit sexuell belästigt. Ihre großen
Schritte zum Polizeipräsidium lassen keinen Zweifel daran, wie sie
inzwischen ausschließlich ihre Brötchen verdient. Die Brüchigkeiten im
Innenleben der Helden scheinen einigermaßen gebannt.
Allerdings ist auch das nicht ganz sicher. Gereons Bruder Anno ist nicht
tot, er behandelt jetzt als Doktor Schmidt Kriegsneurosen, und zwar mit den
Methoden des Analysegesprächs und der Hypnose, die der Militärarzt und
Freud-Schüler Ernst Simmel einführte. Aber die Sitzungen, die Rath bei
seinem Bruder nimmt: Sind sie real? Sind sie geträumt?
## Neue Wirklichkeit schaffen
In einem Katalogtext zu einer Ausstellung über das „Kino der Moderne“, die
letztes Jahr im Museum für Film und Fernsehen der Deutschen Kinemathek zu
sehen war, hat die Kuratorin Kristina Jaspers auf die Bedeutung der
Psychoanalyse für den Weimarer Film hingewiesen. Immer wieder tauche nach
dem Ersten Weltkrieg die Kriegsneurose auf, wahnhafte Traumsequenzen würden
experimentell ins Bild gesetzt. Im Gespräch weist Jaspers auf die
dokumentierende Rolle der Kinemathek bei den Dreharbeiten von „Babylon
Berlin“ hin, etwa beim Aufbau der Neuen Berliner Straße durch Uli Hanisch,
den Szenenbildner der Serie. Ohne „Babylon Berlin“ hätte sich das
Filmstudio Babelsberg ein Straßenensemble in dieser gigantischen
Größenordnung kaum leisten können.
Wiederholt fallen bei Jaspers Worte wie Kondensation, Verdichtung und
Übertreibung. Was sie sagen will: Nicht die detailgenaue Rekonstruktion
steht bei „Babylon Berlin“ im Vordergrund, sondern das atmosphärische
Erfassen eines Zeitbildes. In einer Episode der ersten Staffeln sieht
Charlotte Ritter einen Film, der erst im Jahr darauf in die Kinos kam.
Gereon Rath tanzt zu einem Schlager, den es noch nicht gab. Da wird
einerseits an Originalschauplätzen gedreht wie im Kino Delphi in Weißensee
oder neuerdings im Viktoriapark, aber Hanisch hat in seiner Straße auch ein
Kaufhaus nach Neubauplänen der jüdischen Besitzer gebaut, die sie wegen der
Nazis nicht mehr realisieren konnten. Aber damit ist nichts verloren, im
Gegenteil.
Bei „Babylon Berlin“ geht es nicht darum, die Wirklichkeit zu imitieren,
sondern darum, eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Der Zuschauer soll in
ein starkes Gefühl von Angst, Lust und Bedrohung hinein gezogen werden.
Oder wie es die amerikanische Germanistin Sara Hall in einem Essay
formuliert: „Diese Serie legt ihre Künstlichkeit offen auf den Tisch.“ Für
sie ist der Film ein Pastiche, ein Werk also, das ähnlich wie Filme von
Quentin Tarantino offen seine Epigonalität deklariert und damit ohne jede
Nostalgie etwas völlig Neues schafft.
„Babylon Berlin“ modernisiert einfach alle Berlinbilder, die der deutsche
Film vor hundert Jahren generiert hat. Nicht nur die erwähnten
albtraumhaften Caligari-Bilder. Sondern auch das schäbige Milieu in den
Berliner Hinterhöfen, wie sie G. W. Pabsts „Die freudlose Gasse“ zeigte.
Das aufmüpfige Proletariat in Phil Jutzis „Mutter Krausens Fahrt ins Glück�…
oder Slatan Dudows „Kuhle Wampe“. „Wenn man die Serie beispielsweise mit
einem Spielfilm wie ‚Asphalt‘ von Joe May aus dem Jahr 1929 vergleicht,
wird deutlich, wie nah ‚Babylon Berlin‘ am Zeitgeist der Zwanziger Jahre
ist: Die belebten Straßen, der beschleunigte Verkehr, die leuchtenden
Kinopaläste spiegeln eine Begeisterung für den urbanen Raum“, sagt Kristina
Jaspers.
Insofern handelt es sich bei „Babylon Berlin“ auch um eine Art
Rückübersetzung. Denn fast alle Regisseure des Weimarer Kinos suchten
spätestens bei der Machtergreifung der Nazis das Weite. Die meisten von
ihnen gingen nach Amerika und prägten beispielsweise den Film noir mit.
Ohne den Weimarer Film wäre Hollywood vielleicht auch nicht so dark, so
schillernd und so schnell geworden, wie es heute trotz allem noch manchmal
ist.
„Babylon Berlin“ reimportiert das Weimarer Kino zurück nach Deutschland,
und seine Weiterentwicklung in Hollywood bringt er dabei auch gleich mit.
Und das ist ein Twist, der den drei Regisseuren wirklich gelungen ist.
19 Jan 2020
## AUTOREN
Susanne Messmer
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