# taz.de -- Die Wahrheit: Feuerwerk im Epochentunnel | |
> Von den Zwanzigern in die Zwanziger. In der Wahrheit-Silvestergeschichte | |
> geht Kommissar Gereon Rath auf Zeitreise. | |
Unter schier unglaublichen Umständen gelangte die Wahrheit-Redaktion in den | |
Besitz der einzigen nie veröffentlichen Folge der deutschen Erfolgsserie | |
„Babylon Berlin“. Warum die Geschichte um den in Berlin ermittelnden Kölner | |
Kommissar Gereon Rath bislang vor der Weltöffentlichkeit verborgen wurde, | |
wird jedem klar, der die brisante Story liest. | |
Kriminalkommissar Gereon Rath schmeckte Blut, als er wieder zu sich kam. Es | |
schmeckte so metallisch wie jene Schienen, die wie eine mehrgleisige | |
Handlung vor ihm lagen. Wo war er? Offenbar in einem U-Bahn-Tunnel. Was war | |
geschehen? Wohin hatte der räudige Ganove sich verdünnisiert? Mühsam | |
rappelte Rath sich auf, klopfte den Staub von seinem Mantel. Und erinnerte | |
sich. | |
Auf dem Weg zum Feuerwerk hatte er im Bahnhof Friedrichstraße den finsteren | |
Bolschewisten-Bolle entdeckt, kurz vor Mitternacht, rein zufällig, aus den | |
Augenwinkeln. Ihm war seine spiegelnde Glatze aufgefallen in einer Gruppe | |
junger Frauen mit Bubiköpfen und Sektgläsern. „Halt, stehen bleiben! | |
Polizei!“, hatte Rath gerufen. | |
Bolle hatte ihm einen irren Blick zugeworfen, die Faust gereckt und eine | |
seiner üblichen Parolen ausgestoßen: „Nieder mit einer Bürgerlichkeit, die | |
sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der | |
kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz | |
orientiert!“ | |
Dann hatte Bolle sich den Weg freigerempelt und war ins Gleisbett | |
gesprungen, rannte der ausfahrenden Bahn hinterher. Rath fluchend | |
hinterher, Richtung Kochstraße, immer den humpelnden Umriss von Bolle im | |
Blick, vor dem Licht am Ende des Tunnels. „Haltet den Mann fest!“, hatte | |
Rath noch gerufen: „Dies ist ein Polizeieinsatz!“ | |
Dann das kreischende Schnaufen der Bahn hinter ihm. Dunkelheit. Schmerz. | |
Nichts … | |
## Geballer auf der Kochstraße | |
Rath wuchtete sich aus dem Gleisbett auf den Bahnsteig. Keine Spur von | |
Bolschewisten-Bolle. Hilfe suchend näherte er sich einer jungen Frau, der | |
eigentümliche Kabel aus den Ohren hingen, und tippte ihr auf die Schulter. | |
Wie eine Furie fuhr sie herum und versuchte, ihn zurück auf die Schienen zu | |
stoßen: „Alter weißer Alman!“, keuchte sie, „geh weg, Digger!“ | |
Verwirrt zog Rath seine Dienstwaffe, eine halbautomatische Dreyse M1907, | |
aus dem Halfter und pustete die Orientalin aus ihren Schnabelschuhen. Die | |
Schüsse fielen zusammen mit dem Geballer des Feuerwerks oben auf der | |
Kochstraße. Niemand hatte sie gehört. Nur der Mann im Kiosk. Der Kiosk kam | |
Rath überraschend bunt vor. Rath trat näher und studierte die Titel. Sehr | |
interessant. | |
Nicht, dass er Pornografie guthieß. Aber er konnte sich auch nicht | |
besonders darüber aufregen. So war die Welt nun einmal, seit sie aus den | |
Fugen geraten war. 1919 hatte die Revolution alle moralischen Werte auf den | |
Kopf gestellt, 1923 die Inflation alle materiellen. Gab es nicht wichtigere | |
Dinge, um die die Polizei sich zu kümmern hatte? In der Mordkommission | |
hatte er gewusst, warum er bei der Polizei arbeitete. Aber bei der Sitte? | |
Wen kümmerten schon ein paar Schmuddelbilder mehr oder weniger? Den | |
Verkäufer jedenfalls nicht. | |
## Rolltreppen aus Kruppstahl | |
„Du Bulle?“, fragte der Mann zähneklappernd. „Ich Schupo“, bestätigte… | |
steckte die Dienstwaffe weg und tastete nach seinen Overstolz. | |
Was er stattdessen aus der Tasche zog, war eine flache E-Zigarette. Die | |
Ankunft der nächsten U6 wurde durch Leuchtzeichen angekündigt, die es in | |
der Friedrichstraße noch nicht gegeben hatte. Die Leuchtröhren über seinem | |
Kopf waren nicht mit Gas gefüllt. Auch hatte, wie ein Blick in den | |
Schaukasten zeigte, sich das Verkehrsnetz der „Gesellschaft für elektrische | |
Hoch- und Untergrundbahnen in Berlin“ deutlich erweitert. | |
Nachdenklich zog Rath an seiner E-Zigarette, genoss den Geschmack von | |
Absinth. Langsam wurde ihm klar, was hier gespielt wurde. Die Indizien | |
waren eindeutig. Er musste pünktlich zum Jahreswechsel in einen Zeittunnel | |
gelaufen sein, der sich zwischen Friedrichstraße und Kochstraße aufgetan | |
hatte. War nicht neulich erst in den Mitteilungsblättern des | |
Kaiser-Wilhelm-Instituts über die Möglichkeit von Zeitreisen informiert | |
worden? „Kolossal!“, murmelte Rath. Bisher hatte er solche Erörterungen als | |
Brimborium abgetan. Und nun war er selbst … in welchem Jahrzehnt | |
eigentlich? Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und nahm die | |
futuristische Rolltreppe aus Kruppstahl zur Oberfläche. Ganz klar, er war | |
in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts gelandet. | |
Alles beim Alten. Nachtschwärmer taumelten ihm entgegen, unverständliche | |
Lieder singend. Kokain, dachte Rath sofort, die sind auf Koks, die haben | |
sich vorhin auf dem Klo die Nase vollgezogen. Das kann ja heiter werden. | |
Die Kreuzung war voller Leute. Lichter stürzten auf ihn ein. Schüsse wurden | |
abgegeben, die Rath instinktiv erwiderte – bevor er die Waffe kleinlaut | |
wegsteckte. Es war ja Silvester. Er fühlte sich wie in einem Film von Fritz | |
Lang. Überall Werbung, hastende Menschen, futuristische Gefährte, Frauen | |
mit Glatzen und Metall im Gesicht. Zugleich wähnte er sich wie in einem | |
Fiebertraum. Was er jetzt brauchte, war ein Schluck vom guten Danziger | |
Goldwasser. Oder einen Cognac. Bestenfalls beides! | |
## Wandervogel auf dem Trittbrett | |
Mit wehendem Bart rauschte ihm ein junger Mann entgegen, auf einer Art | |
Trittbrett mit Lenker, vermutlich ein Lebensreformer oder verwirrter | |
Wandervogel. Mit einem geschickten Fausthieb streckte Rath den Gammler | |
nieder: „Das ist ein Einsatz der Polizei!“, erklärte er: „Ihr bizarres | |
Fahrzeug ist hiermit konfisziert!“ | |
Dann schwang er sich auf das Gerät und düste die Friedrichstraße hinauf. | |
Aus den Augenwinkeln erkannte er Faschisten-Fritz, hatte dafür aber jetzt | |
keine Zeit. Sollte sich doch Bolschewisten-Bolle darum kümmern. Was ging | |
ihn die Politik an? Die Welt, durch die er glitt, gab ihm genug große | |
Rätsel auf. | |
Die Stadt wirkte, als wäre sie von den Nationalsozialisten noch einmal kurz | |
aufgehübscht, danach von einem Flächenbombardement eingeebnet und | |
anschließend im Häuserkampf ausgeräuchert worden, bevor dann doch noch die | |
Bolschewisten ihren Staat errichtet hätten, gleich dort drüben, der dann | |
aber nach wenigen Jahrzehnten zusammengebrochen wäre, damit Miethaie und | |
andere Halunken die Kulissen von „Metropolis“ hätten aufstellen können. S… | |
genau so sah’s hier aus! | |
Rath spuckte auf den Boden, rieb sich die Schläfen und verlor die Kontrolle | |
über seinen E-Roller. Lang schlug er hin, direkt vorm Polizeipräsidium am | |
Alexanderplatz. Aus den Augenwinkeln erkannte er Demokratie-Didi. Was | |
machten all diese Leute immer in seinen Augenwinkeln? Und was war das für | |
ein gigantischer Spargel, der da über dem Platz aufragte? Etwa ein … | |
Tele-Spargel? | |
## Feuerwerk der Liebe | |
Rath schmunzelte über diesen Gedanken und dämmerte langsam weg, dem | |
nächsten überraschenden Handlungsstrang entgegen … – und wäre sicher wei… | |
nur ein gewöhnlicher Fernsehkommissar unter vielen geblieben, wenn nicht in | |
dieser Silvesternacht unter dem Feuerwerk der Raketen plötzlich ein | |
Feuerwerk der Liebe seine Funken geschlagen hätte. | |
Denn dort stand sie: Hildegard. Er wusste sofort: Sie war seine Flamme. Sie | |
würde ihm den Roller unter den Füßen weg ziehen. Endlich würde er „Babylon | |
Berlin“ für immer ver- und hinter sich lassen können. Das alte, falsche | |
Leben als Kriminaler – zu Asche, zu Staub. Er war angekommen in der wahren | |
Wirklichkeit. Ihm gehörte die Zukunft, zusammen mit Hildegard, im Ozean der | |
Zeit. | |
31 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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