| # taz.de -- Die Wahrheit: Das verdammte Helfer-Syndrom | |
| > Die Coronakrise wirft ungekannte Probleme auf. Wie widersteht man dem | |
| > Drang, vermeintlich Bedürftigen Hilfe aufzunötigen? | |
| Schräg gegenüber wohnt eine alte Dame. Vorausgesetzt, ich stehe früh genug | |
| auf, kann ich aus meiner Wohnung direkt in ihr Schlafzimmer schauen. Jeden | |
| Morgen zieht sie den Vorhang beiseite, öffnet das Fenster und hängt ihre | |
| Bettwäsche an die frische Luft. Meistens schaut sie dann noch eine Weile | |
| hinaus, auf ihre Kissen gestützt und mit Lockenwicklern im Haar, aber mit | |
| Haltung. Sie ist nicht einfach eine alte Frau. Sie ist noch eine richtige | |
| Dame. Manchmal winkt sie durchaus huldvoll, dann winke ich fröhlich zurück. | |
| Seit ich sie neulich auf der Straße mit ihren Einkäufen im Gepäckrollator | |
| gesehen habe, mache ich mir Sorgen um die Nachbarin. Sie ist alleine, sie | |
| ist betagt, die personifizierte Risikogruppe, und sollte nicht draußen | |
| sein. Nach wenigen Tagen in Quarantäne habe ich die Gegenseite dessen | |
| kennengelernt, was man Hilfsbedürfnis nennt. Ich brauche keine Hilfe, habe | |
| aber das starke Bedürfnis, den Bedürftigen zu helfen. Aber wie? | |
| Wer „den Laden am Laufen“ hält, bekommt von mir ohnehin seit Jahren viel | |
| Trinkgeld, so gießkannenmäßig. Das ist der Bäckereifachverkäuferin schon | |
| peinlich, dem Kassierer im Getränkemarkt auch. Mehrfach habe ich nun | |
| versucht, der Schwiegermutter das Skypen aufzuschwatzen. Wegen Einsamkeit | |
| und so, dann könnte sie ihre Enkelinnen sehen. Ihre beharrliche Antwort: | |
| „Ach nein, da telefoniere ich lieber! Am Ende sehe ich völlig zerzauselt | |
| aus, das will ich nicht.“ Recht hat sie. | |
| Nun also die Nachbarin. Wie könnte ich ihren krisenhaften Einsamkeitsalltag | |
| erleichtern? Am Morgen steht sie wieder am Fenster, winkt huldvoll, ich | |
| winke aufgeregt zurück. Sie lächelt und schließt die Vorhänge. | |
| In den folgenden Tage kaufe ich weiter überflüssige Bücher in meiner | |
| stillgelegten Buchhandlung. Schaue mir publikumslose Konzerte im Internet | |
| an, die mich nicht interessieren. Verfolge virtuelle Lesungen, obwohl | |
| Lesungen schon in der echten Welt völlig blödsinnig sind. Ich will einfach | |
| helfen. Lasse mir zum dritten Mal in zwei Wochen die Haare schneiden, der | |
| Friseur kennt den Namen der Nachbarin. Ich werfe ihr eine Notiz mit meiner | |
| Nummer in den Briefkasten: „Wenn ich helfen kann, rufen sie an!“, und warte | |
| weiter. | |
| Endlich klingelt das Telefon, die Nachbarin ist dran: „Sind Sie der Mann | |
| von gegenüber? Der immer so freundlich winkt? Habe Ihren Brief gefunden und | |
| wollte mich bedanken. Es tut gut zu wissen, dass notfalls Leute da sind. | |
| Ich habe aber einen Notdienst, der sich um alles kümmert. Ich bin 94 Jahre | |
| alt, da kann es sowieso bald vorbei sein. Ständig rufen meine Urenkel an, | |
| man kommt zu gar nichts mehr. | |
| Sind Sie der Nachbar von gegenüber? Ich bin 94 Jahre alt. Kann es sein, | |
| dass Sie abgenommen haben? Als Sie eingezogen sind, waren Sie viel dicker. | |
| Ich habe mich schon gefragt, ob das ein neuer Mann ist. Oder sind Sie | |
| krank? Sie klingen so matt. Wenn ich helfen kann, rufen Sie einfach an!“ | |
| 31 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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