# taz.de -- Romanverfilmung „Der Überläufer“: Als Lehrfilm geeignet | |
> Mit dem Zweiteiler gelingt der ARD eine kluge und packende | |
> Romanverfilmung. Da verzeiht man sogar kleinere logische Schnitzer. | |
Bild: Die Schauspieler Jannis Niewöhner und Sebastian Urzendowsky bei den Dreh… | |
Wer hätte das gedacht, vor 20 oder 30 Jahren, dass der bereits als | |
altbacken und betulich abgetane Siegfried Lenz noch einmal der | |
wahrscheinlich meistverfilmte deutsche Schriftsteller aller Zeiten werden | |
würde? Dass er es auf seine posthumen Tage noch auf mehr Adaptionen als | |
seine beiden immerhin Nobelpreis-bewehrten Gruppe-47-Kollegen Günter Grass | |
und Heinrich Böll bringen würde? Zusammengerechnet, wohlgemerkt. | |
Da war es nur eine Frage der Zeit, bis es auch „Der Überläufer“ in der | |
bebilderten Variante geben würde. Der zweite Roman [1][des 2014 | |
verstorbenen Lenz] stand schließlich 2016 für ein paar Wochen auf Platz | |
eins der Spiegel-Bestsellerliste. Kein Rätsel, sondern ein Coup von Lenz’ | |
Verlag. Und eine Art – sehr späte – Wiedergutmachung. Hoffmann und Campe | |
hatte den Roman 1951 nicht publizieren wollen und Lenz es dabei bewenden | |
lassen. Ein „Überläufer, Deserteur, Verräter, Kameradenschwein“, wie es | |
jetzt in dem Film einmal heißt, war dem Publikum sechs Jahre nach dem | |
verlorenen Krieg nicht zuzumuten. Die Jahre gingen ins Land, [2][Richard | |
von Weizsäcker hielt seine Rede vom 8. Mai 1985], und aus der Niederlage | |
wurde eine Befreiung. Das Land war ein anderes geworden, das Publikum auch. | |
Es ist also von Anfang an klar, dass der Gefreite Walter Proska desertieren | |
wird, der Titel verrät es. Bis dahin verbringt er in der zweiteiligen | |
Filmfassung rund 90 Minuten mit sechs weiteren Wehrmachtssoldaten | |
(darunter: Rainer Bock, Florian Lukas, Bjarne Mädel, Sebastian Urzendowsky) | |
in sumpfigem Wald und liefert sich Scharmützel mit polnischen Partisanen. | |
Und einer Partisanin: Walter und Wanda, es ist Liebe auf den ersten Blick. | |
Der Regisseur und Drehbuchautor (zusammen mit Bernd Lange) Florian | |
Gallenberger („John Rabe“) hat die vermeintlich unmögliche Verbindung in | |
einem Interview mit seiner eigenen Familiengeschichte begründet und damit, | |
dass, wer nicht wisse, ob er den nächsten Tag noch erleben würde, die | |
Dinge, die er eben machen wolle, lieber schneller mache als gar nicht. Zur | |
Sicherheit hat Gallenberger die Liebenden außerdem mit zwei ausnehmend | |
attraktiven Darstellern – Jannis Niewöhner („Beat“) und Małgorzata | |
Mikołajczak – besetzt. | |
## Der richtige Ton | |
Wir wissen zwar nicht, wie die schöne Partisanin zu ihren schmucken | |
Bikinistreifen gekommen sein könnte – aber wenn Walter und Wanda sich ihr | |
Bett im Kornfeld bereiten, haben sich alle Fragen nach der Plausibilität | |
erledigt. Da sorgt es auch nur für eine kurze Irritation, wenn Walter | |
zwischendurch, unwissentlich, versteht sich, Wandas kleinen Bruder | |
erschießt. Wie er später auch noch seinen eigenen Schwager erschießt, | |
wiederum unwissentlich. Da hat er längst die Seiten gewechselt, zu den | |
Russen. „Ist es nicht wahnsinnig, dass du jetzt gegen die Deutschen | |
kämpfst?“, fragt Wanda. Und Walter antwortet mit einer Gegenfrage: „Ist es | |
nicht wahnsinnig, dass du ein Student bist, und plötzlich drückt dir jemand | |
ein Gewehr in die Hand und schickt dich in ein Land, in dem du noch nie | |
warst, damit du dort die Leute totschießt?“ | |
Die Geschichten von Siegfried Lenz sind moralisch und sie haben eine | |
Botschaft, in diesem Fall eine pazifistisch-humanistische. Regisseur | |
Florian Gallenberger trifft, trotz einiger Klischees, den richtigen Ton. | |
Wie wenig selbstverständlich das ist, konnte man erst vor wenigen Wochen an | |
der von der ARD – auch im Umgang mit unserer Nazi-Vergangenheit – | |
vergeigten anderen Literaturverfilmung [3][„Unsere wunderbaren Jahre“] | |
sehen. | |
Ganz zu schweigen von Philipp Kadelbachs [4][„Unsere Mütter, unsere Väter�… | |
(2013). Der Dreiteiler hatte den polnischen Partisanen Antisemitismus | |
unterstellt und damit in Polen für Ärger gesorgt. Nun hat Gallenberger dem | |
Polish Film Institute keinen Grund gegeben, seine Adaption des Stoffs von | |
Siegfried Lenz nicht fördernd zu begleiten. Sein „Überläufer“ ist | |
angemessen kritisch und kann bedenkenlos als Lehrmittel in jeder achten | |
Schulklasse verwendet werden. | |
1998 hat der Bundestag das auch Deserteure rehabilitierende Gesetz zur | |
Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile beschlossen, [5][2009 | |
Urteile wegen „Kriegsverrats“ ohne jede Einzelfallprüfung aufgehoben]. Was | |
zu sagen – oder zu schreiben – 1951 nicht opportun war, ist 2020 nichts | |
anderes als sozialadäquat. | |
8 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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