# taz.de -- Musikerin Ilgen-Nur über Hass im Netz: „Ich blockiere täglich M… | |
> Berlins neue Indie-Hoffnung Ilgen-Nur will Teenagerinnen inspirieren, | |
> regt sich über Cis-Frauen-Feminismus auf und fühlt sich von Hatern | |
> bestätigt. | |
Bild: Nimmt kein Blatt vor den Mund: Ilgen-Nur | |
taz: Ilgen-Nur, Sie stellen Ihre eigene Unsicherheit immer wieder offensiv | |
in Ihren Songs zur Schau. Sehen Sie das als Wagnis? | |
Ilgen-Nur: Als Komponistin führe ich ein offenes Tagebuch. Das ist | |
befreiend, aber das kann einem auch Angst machen: Ich muss immer aufpassen, | |
nicht zu viel preiszugeben. Andererseits ist mir wichtig, dass die | |
HörerInnen meine [1][Perspektive] verstehen. Es gibt viel zu viel | |
oberflächliche Popmusik! Ich möchte auch in Interviews offen über Gender, | |
Politik und Identität reden. Ich selbst wusste früher nicht, dass ich das, | |
was ich mache, machen kann, weil es kein Vorbild gab, das so aussah wie | |
ich. Wenn ich heute mit meiner Gitarre nur drei Teenagerinnen inspiriere, | |
die mir nach dem Konzert sagen, dass sie mich cool finden, habe ich meinen | |
Job schon erledigt. | |
Wären Sie gerne ein Vorbild? | |
Das wäre schon cool, aber wenn, dann nur mit all den emotionalen | |
Schieflagen. Ich bin ja erst 23 und habe manchmal keinen Plan. Aber man | |
kann sich das nicht aussuchen. Wenn ich ein Vorbild sein soll, muss ich | |
versuchen, so realistisch rüberzukommen wie möglich. | |
Ihr deutsch-türkischer Hintergrund war bislang nie Thema in den Songs, | |
oder? | |
Nein, aber es kann schon sein, dass ich das noch mal zu Musik verarbeite. | |
Aber: Ich will einfach meinen Job ausüben, ohne explizit über meine Wurzeln | |
reden zu müssen. Die Leute werden es noch merken: Es gibt auch queere | |
türkische Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind. | |
Wie ergeht es Ihnen an Ihrem neuen Wohnort Berlin-Neukölln? | |
Das ist endlich der Ort, an dem ich meine Identität wiederfinden kann. Ich | |
kann mit den Leuten Deutsch reden, aber auch Türkisch, wenn ich Lust habe. | |
Das ging in Hamburg-Eimsbüttel nicht. Wenn man mit meinem Background | |
aufwächst, fühlt man konstant den Schmerz, nicht dazuzugehören. Alle in | |
meiner Situation kennen das. In Neukölln kann ich türkisch essen, aber auch | |
um die Ecke in den Probenraum gehen. | |
Bei unserem letzten Gespräch sagten Sie, Sie verstehen sich als Feministin. | |
Seitdem hat sich viel verändert, Stichwort: [2][#MeToo]. | |
Ich finde es wichtig, dass sich junge Menschen mit Feminismus beschäftigen, | |
wie oberflächlich das teilweise passiert, regt mich allerdings auf. Ich | |
habe Freundinnen, die nicht binär sind, die trans sind oder Sexarbeit | |
machen – ich weiß, wovon ich rede. Ich habe das Gefühl, dass der derzeitige | |
Feminismus sehr westlich und weiß geprägt ist. Neulich las ich von einer | |
Künstlerin, die ihre Beinbehaarung zelebrierte. Niemand würde sich dafür | |
interessieren. Und ich dachte mir nur: Schön für dich, aber du bist auch | |
eine schlanke weiße Frau mit drei blonden Beinhaaren – natürlich | |
interessiert das niemand! Cis-Frauen-Feminismus regt mich auf. | |
Welche Art von Feminismus schwebt Ihnen denn alternativ vor? | |
Ich wünsche mir, dass es künftig über das „Girl Power“-T-Shirt bei H&M | |
hinausgeht. Generell sind Indie-Rock-Konzerte problematisch. People of | |
Color fühlen sich da zu selten wohl, weil die Typen immer voll auf | |
Maskulinität setzen. Deshalb freue ich mich umso mehr über US-Künstlerinnen | |
wie [3][Mitski] und Snail Mail. Deutschland braucht halt noch zehn Jahre | |
länger. Aber (formt mit beiden Händen Victory-Zeichen) – ich bin hier und | |
ich versuch’s! | |
Ihr Debütalbum „Power Nap“ ist mit alten Freunden wie dem Trümmer-Sänger | |
Paul Pötsch an der Gitarre aufgenommen. Was hat sich seit Ihrer vor zwei | |
Jahren veröffentlichten EP verändert? | |
Mein Gitarrenspiel ist besser geworden und ich kann besser komponieren. Ich | |
habe auch kapiert, dass ich mit meiner Stimme experimentieren kann. Ich | |
weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich angefangen habe, zu rauchen, aber | |
ich fühle mich mit dem Klang meiner Stimme nun wohl. Mein Sound hört sich | |
jetzt erwachsener an. | |
Ich finde es sympathisch, dass Sie mit dem Album-Titel dem Nickerchen ein | |
Denkmal gesetzt haben. Wie kam es dazu? | |
Gegenfrage: Kennen Sie das, diese 15-Minuten-Powernaps? Bei mir | |
funktionieren sie nicht, bei mir dauert ein Powernap mindestens anderthalb | |
Stunden. Das unterbricht den Tag so schön. Früh aufstehen, sich um 14 Uhr | |
mal kurz hinlegen und dann bis 4 Uhr nachts wach bleiben. Wie geil! Man | |
sieht’s ja auch an meinem Vampirteint. Aber nachts kommen nicht unbedingt | |
die besseren Ideen. Songs kann man nicht erzwingen. | |
Im Song „In my Head“ singen Sie über Treffen mit Internetbekanntschaften, | |
kennen Sie sich da gut aus? | |
Hallo, wir haben 2019. Ich lerne mittlerweile die meisten neuen Freunde | |
über Instagram kennen. Tinder benutze ich mittlerweile nicht mehr, das ist | |
mir zu stressig. Aber für die Loners, die zu schüchtern sind, jemanden | |
anzusprechen, sind Flirt-Plattformen genau das Richtige. Man folgt sich | |
gegenseitig und schaut, was der andere macht. Man schreibt sich, und wenn | |
es cool ist, trifft man sich. Dann gibt es viel, worüber man reden kann, | |
weil man sich das Leben des anderen schon angeschaut hat. | |
Ist das nicht total oberflächlich und fake? | |
Natürlich ist das eine Inszenierung! Mir sagen die Leute immer, dass meine | |
echte Persona cooler ist als meine Internet-Persona. Auf Fotos lächle ich | |
nie. So bin ich im echten Leben überhaupt nicht. | |
Auf Instagram posten Sie Musikbezogenes, aber auch private Fotos. Bekommen | |
Sie deshalb gehässige Nachrichten? | |
Klar. Ich blockiere jeden Tag fünf Männer. Wenn mir jemand dumm kommt – und | |
tschüß! Ich wundere mich immer, warum sich Menschen die Zeit nehmen, andere | |
Leute fertigzumachen. Das ist schwer zu ignorieren. Auf Twitter bin ich | |
allerdings mittlerweile nicht mehr. Je mehr Follower man hat, desto mehr | |
Schweine sind darunter. Da kommentiert jemand: „[4][Geile Musik], aber | |
warum lässt du deine Achselhaare wachsen?“ Was hat Musik mit meiner | |
Körperbehaarung zu tun? | |
Füttern solche Erfahrungen Ihre Kunst? | |
Hater bestärken mich. Fick sie, ich mach eh, was ich will. Als ob mich | |
gehässige Twitterbotschaften davon abbringen, Musik zu veröffentlichen! | |
8 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=yeonbiVqU5k | |
[2] /Schwerpunkt-metoo/!t5455381 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=KUfkfJfsKrc | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=0F46hImK_cI | |
## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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