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# taz.de -- Mozart in der Neuköllner Oper in Berlin: Küsse verpassen, Musik a…
> An der Neuköllner Oper in Berlin inszeniert Ulrike Schwab „Giovanni –
> eine Passion“ eigenwillig und mit großer Lust an der Kritik am
> Patriarchat.
Bild: Szene aus „Don Giovanni – eine Passion“ an der Neuköllner Oper in …
Unbeholfene Schritte durch Erde, verwirrte Blicke, leicht gestresstes
Gedrängel. Ein Spalier aus Menschen in prunkvollen weißen Gewändern, einige
halten Kerzen in den Händen. Befand man sich eben noch auf dem Weg in die
Oper, findet man sich plötzlich in einer Prozession wieder.
Ein paar Minuten später weiß man: Es ist die Szene einer Beerdigung, und so
unsicher, wie man in diese Totenfeier hineingestolpert ist, wohnt man ihr
die ersten Minuten bei. Wer wird hier überhaupt zu Grabe getragen?
„Giovanni. Eine Passion“ nennt die Neuköllner Oper ihre Adaption von
Mozarts oft gespielter Oper in Kollaboration mit dem Berliner Stegreif
Orchester. Versprochen wird damit ein eigener Blick auf das Werk aus dem
18. Jahrhundert. Passion, das ist im Christentum der Leidensweg Jesu
Christi und der Begriff für Leidenschaft, Hingabe, Schmerz. Alles Wörter,
die man mit Lorenzo Da Pontes und Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don
Giovanni“ assoziieren kann. Die titelgebende Figur ist ein Charmeur und
Frauenheld. Ein Betrüger, Schurke, Herzensbrecher, der verlobte Frauen
verführt und einen Mord leugnet.
„Warum ist unser Weltbild so verdreht, dass man Giovanni immer alles
verzeiht?“, fragte sich Regisseurin Ulrike Schwab im Entstehungsprozess der
Inszenierung. „Was hat dieses Patriarchat angerichtet?“ Wie es sich für Don
Giovanni ziemt, weiß der im Stück alle Verantwortung von sich zu weisen:
„Die Frauen sind ganz versessen aufs Verzeihen“ statuiert er und beschwert
sich, dass er nichts dafür könne, dass die Frauen so schön seien. Es wäre
schade, wäre all das nur für die Fortpflanzung bestimmt.
## Einer von vielen
Ein starkes Bild – der lamentierende Don Giovanni auf der einen, stolz
aufgereihte, wütende, verzweifelte Frauen auf der anderen Seite. Ist Don
Giovanni in dieser Oper zwangsläufig der alles entscheidende Dreh- und
Angelpunkt? In der Berliner Inszenierung mit über zwanzig talentierten
Menschen auf einer kleinen Bühne ist Don Giovanni einer von vielen.
Auf der Suche nach der Widersprüchlichkeit der Figur wird er doppelt
besetzt, in vielen Szenen verschwindet er ganz aus dem Blick der
Zuschauenden. Das ist einer der genialen Kniffe dieser Adaption. Keineswegs
schmälert es die künstlerische Leistung der Don-Giovanni-Darsteller. Doch
das Ensemble schafft es, dass an diesem Abend alle Spielenden nahezu
hierarchiefrei die Stars sind – ob an der Violine, am Kontrabass oder in
den gesungenen Soli.
Wer dabei die Sänger*innen der Neuköllner Oper und wer die
Instrumentalist*innen des Stegreif Orchesters sind, das Juri de Marco
leitet, lässt sich schwer auseinanderhalten. Die Musiker*innen des jungen
Improvisationsorchesters fungieren in „Giovanni. Eine Passion“ als Chor und
Schauspielende, setzen ihre Instrumente mal komödiantisch, mal voll Pathos
ein – und zeigen deutlich ihre Spielfreude an den Stücken Mozarts.
## Dem Kontrabassist auf die Hände schauen
Die überträgt sich auf das Publikum. Bei jedem Crescendo erzittert man
zwangsläufig. Natürlich weil die Musik großartig ist, aber auch weil der
Kontrabassist nur wenige Zentimeter vor der eigenen Nase spielt. Es ist ein
großes Privileg, den Spielenden so intensiv in die Gesichter schauen zu
können, den Musiker*innen auf die Hände, den Sänger*innen auf die
Kehlen. Und fühlt man sich, mitten auf der Bühne sitzend, in den ersten
Minuten noch deplatziert, wünscht man sich später, Musiker*innen würden
häufiger nicht im dunklen Orchestergraben verschwinden. Selten ist die
Leidenschaft für Musik, die Virtuosität der einzelnen Stücke so nah
erlebbar.
Dabei entspannt es beim Zuschauen enorm, wenn man sich früh damit abfindet,
dass man nicht alles auf der Bühne mitbekommen kann. Linst man während
eines Solos kurz auf die deutsche Übersetzung des italienischen Textes,
verpasst man vermutlich gerade einen innigen Kuss zweier Männer in engem
Korsett. Nicht nur die Kostümierung spricht sich von geschlechtlichen
Konventionen frei.
Wer auf der Bühne steht und was dabei verhandelt wird, ist der Neuköllner
Oper wichtig. Im Hinblick auf Paritäten setzt sie sich für mehr Frauen im
Musiktheater ein. „Wir suchen uns schon seit Langem diverse Themen aus und
spielen nicht nur die alten Stoffe, in denen am Ende alle Frauen sterben
und die Männer die tollen Partien singen“, sagt Laura Hörold,
Geschäftsführerin der Neuköllner Oper.
Im nächsten Jahr wollen sie eine [1][Frauen-Besetzungsquote von mindestens
50 Prozent] in der Leitung von Regie, Text und Komposition erreichen. Doch
Parität in der Besetzung klappe nicht immer, besonders was Komponistinnen
angehe: „Da ist im Bereich der Nachwuchsförderung viel gefragt, denn in
unserem Genre gibt es nicht so viele Komponistinnen“, sagt Hörold. Eine
Möglichkeit, damit umzugehen, ist das Hinterfragen der Stücke, in denen
Männer die großen Helden spielen. In „Giovanni. Eine Passion“ wird das
genutzt.
## Kleines Medley der Eroberungen
Der Mann, der Frauen verführt, der sich übergriffig verhält, wird in
manchen Szenen beweihräuchert, in vielen anderen problematisiert. Das kann
komödiantisch sein, etwa wenn die feixende Männerrunde Bilanz der eroberten
Frauen von Don Giovanni zieht – 640 Frauen in Italien, 230 in Deutschland,
100 in Frankreich, 91 in der Türkei, Prinzessinnen und Bäuerinnen, alles
dabei – und dies – „Volare – oho! Cantare – ohohoho“ – in ein kle…
Medley ausartet.
An anderer Stelle wird der Charakter Don Giovannis eindringlich und
beängstigend dargestellt. Etwa wenn Frauen wie Puppen zu Boden fallen, die
Glieder im Tanz mit dem über sie gebeugten Mann nur marionettenhaft zucken.
Es ist ein Wagnis, die italienischen Opernparts durch verschiedene
Sprachen, Musikgenres oder popkulturelle Referenzen aufzubrechen, den
belanglos wirkenden Text eines Popsongs zur Charmeoffensive zu nutzen,
einen sexuellen Übergriff in Social-Media-Manier zu verhöhnen und so die
Frage nach Frauensolidarität aufzuwerfen.
Dem Ensemble der Neuköllner Oper und dem Stegreif Orchester gelingt diese
Verquickung, ohne Mozarts Werk abzuschwächen oder an Glaubwürdigkeit zu
verlieren. Vielmehr schaffen sie gelungene Irritationsmomente und holen
das Publikum immer wieder aus der eigenen Wohlfühlzone raus.
Trotz Schwere und Trauer ist das Stück im Gesamtblick ekstatisch und
unfassbar sexy – in der Musik, im Tanz, im Gesang, in den Bildern. Zwar
wird der Schluss mit goldenem Penis und pinker Schleife, der dann weiße
Watte von der Bühne regnen lässt, der Inszenierung bis dahin nicht gerecht.
Aber erneut ist es ein Brechen mit Sehgewohnheiten, wenn die großartigen
Sänger*innen und Musiker*innen keine Scheu vor alberner Ablenkung zeigen
und für die Kraft ihrer Kunst kein den Atem anhaltendes Publikum brauchen.
Chapeau vor so wenig Eitelkeit bei so viel Können.
12 Oct 2019
## LINKS
[1] /Auftakt-des-Berliner-Theatertreffens/!5589455
## AUTOREN
Linda Gerner
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