| # taz.de -- G20-Musical in der Neuköllner Oper: Schmerzen am Herzen und der We… | |
| > In Berlin arbeitet die UdK den Gipfel mit Musiktheater auf. Das ist | |
| > unterhaltsam, aber oft zu schablonenartig und klischeebeladen. | |
| Bild: Szenenbild aus „Welcome to Hell“ | |
| Barrikaden brennen. Das SEK steht bereit. In Sichtweite der Straßenkämpfe | |
| am Schulterblatt kaufen ein paar Jugendliche Döner. Jemand schreit | |
| „Anticapitalista!“. Das Musical „Welcome to Hell“, eine Koproduktion der | |
| Neuköllner Oper und des Studiengangs „Musical“ der Berliner Universität d… | |
| Künste, versucht, die Tage des G20-Gipfels in Hamburg aufzuarbeiten. Das | |
| Gipfelhappening dient dabei als Projektionsfläche für persönliche | |
| Zerrissenheit und zwischenmenschliche Konflikte, aber auch als zugespitztes | |
| Bild des gesellschaftlichen Status Quo. | |
| Drei Charaktere verkörpern diesen Zustand am offensivsten: Ein | |
| verängstigter Polizist, ein Autonomer und ein französischer Teilnehmer des | |
| offiziellen Gipfels. Alle drei verlassen ihre vorurteilsbeladenen | |
| Charakterhüllen kaum. Vor allem der überzeichnete Autonome Andi ist Prisma | |
| der Klischees des Musicals. | |
| Andi stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Seine Eltern überweisen ihm | |
| monatlich 2000 Euro, er klaut trotzdem Sixpacks im Getränkemarkt – des | |
| Punkseins wegen. Er beherrscht linksradikales Basisvokabular und könnte ob | |
| der Ungerechtigkeiten der Gesellschaft die ganze Zeit nur um sich schlagen. | |
| So wie er für selbstreferenzielle, letztlich also sinnlose Militanz steht, | |
| repräsentieren die anderen ganz unmissverständlich Polizeigewalt und | |
| globale Ungerechtigkeit. | |
| ## Angenehme Ambivalenz | |
| Es sind die Charaktere dazwischen, die interessanter, da authentischer und | |
| realistischer erscheinen. Figuren, an deren Erleben man die Tage des | |
| G20-Gipfels oder eben jeden Tag der Vereinzelung in der | |
| spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft nachempfinden kann. | |
| Eine junge Frau namens Sabine, die es wegen einer Angststörung nicht | |
| schafft, ihre Einzimmerwohnung zu verlassen. Eine | |
| verschwörungstheorieaffine Bloggerin, die das Weltgeschehen ausschließlich | |
| online verfolgt und per Vlog kommentiert. Oder die gelangweilte Teenagerin | |
| Mina aus dem Schleswig-Holsteinischen Husum, die ihre Mutter anlügt, um zum | |
| Gipfel fahren zu können, „weil gerade alle in Hamburg sind“. | |
| Die Supermarktkassiererin Krissy muss eigentlich in der Schule sitzen, | |
| während sie im Supermarkt Bierflaschen scannt. Sie ist schwanger, möchte | |
| das Kind aber nicht, weil ihr Freund sie schlägt. Sie will endlich ihr | |
| Abitur schaffen, bangt aber um ihren prekären Job. Am Ende schließt sie | |
| sich denen auf der Straße an. | |
| Die Wege aller Figuren kreuzen sich an den Tagen des Gipfels, in der | |
| Sternschanze, auf St. Pauli, in der Davidwache. Sie schreien sich an. | |
| Verstehen sich nicht. Dann helfen sie einander. Zwischen Freundschaft und | |
| Feindschaft, Empathie und Hass geht es immer wieder um eine Frage: Was an | |
| meiner Misere ist gesellschaftlich bedingt? Was habe ich einfach selbst | |
| verbockt? | |
| ## „Sex sells“ gilt auch für G20 | |
| Schwer nachvollziehbar sind die zahlreichen und irgendwann unüberschaubaren | |
| sexuellen Begegnungen. Klar, Liebe gehört zum Musical. Sex wohl auch. Und | |
| man kann nicht den Kapitalismus und das Patriarchat kritisieren, ohne über | |
| Begehren zu sprechen. Wenn am Ende aber alle mit allen geschlafen haben, | |
| wird das zur beliebigen Schablone. | |
| Als der Gipfel endlich endet, singen die Charaktere zusammen: „Welcome to | |
| Hell! Welcome to Hell! Wir alle sind die Hölle!“ Ein Musical, wie GZSZ. Nur | |
| eben auf politisch. Ein bisschen Herzschmerz, ein bisschen Weltschmerz, ein | |
| bisschen Gesang und Tanz. | |
| 16 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt G20 in Hamburg | |
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| Jacob Appelbaum | |
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