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# taz.de -- Milde Strafen für Überfall in Ballstädt: Und sie grinsen
> Rechtsextreme verübten 2014 einen brutalen Angriff im thüringischen
> Ballstädt – und kommen nun mit Bewährungsstrafen davon. Die Opfer sind
> empört.
Bild: Enttäuscht vom Urteil: Demonstrierende am Montag vor dem Verhandlungssaa…
ERFURT taz | Es ist ein Rundumschlag, zu dem Richterin Sabine Rathemacher
am Montagvormittag ausholt, eine frontale Attacke auf die
NebenklageanwältInnen, auf Teile von Politik und Medien. Man habe in diesem
Prozess „einen Angriff auf die Gewaltenteilung in nie da gewesenem Umfang“
erlebt, ja einen „Angriff auf die Demokratie“, kritisiert Rathemacher. Es
habe eine mediale Vorverurteilung stattgefunden, eine „völlig falsche
Wahrnehmung“ der Rolle des Gerichts, eine Stimmungsmache seitens der
Nebenklage. „Viele haben ihren inneren Kompass verloren“, so die Richterin.
Auf den Gesichtern der Neonazis und ihrer AnwältInnen breitet sich Grinsen
aus, einer klopft zustimmend auf den Tisch.
Ein anderer dagegen verfolgt die Worte konsterniert, vorne auf der Bank der
Nebenkläger: Maximilian P. Der junge Mann gehörte zur Kirmesgesellschaft in
Ballstädt, als diese vor sieben Jahren, [1][in der Nacht zum 9. Februar
2014], von Neonazis überfallen wurde – von den neun Angeklagten, die ihm
heute gegenüber sitzen. Und die nun zu Bewährungsstrafen bis zu einem Jahr
und zehn Monaten verurteilt wurden. Eine Strafhöhe, die Maximilian P.
später „völlig unverständlich“ nennt. Und auch die Generalkritik der
Richterin findet er „unterste Kanone“.
Tatsächlich hatte der Überfall in Ballstädt 2014 bundesweit für Entsetzen
gesorgt. Die Kirmesgesellschaft hatte damals im Kulturzentrum ein
Dankesfest gefeiert, als die vermummten Rechtsextremen hineinstürmten. Wer
die Scheibe im „Gelben Haus“, ihrer Wohngemeinschaft im Ort, eingeschmissen
habe, rief der Anführer Thomas W.
Dann schlugen er und die anderen Rechtsextremen zu, selbst auf einen
Schlafenden. Nach zwei Minuten blieben Scherben, Blutlachen und zehn teils
schwer Verletzte zurück, mit Platzwunden im Gesicht, Knochenbrüchen,
abgesplitterten Zähnen, einem verletzten Ohr.
## Ein Angriff wie ein „Überfallkommando“
Von einem „Überfallkommando“ und einer gemeinschaftlich gefährlichen
Körperverletzung spricht Richterin Rathemacher. Die Angeklagten hätten auf
die eingeworfene Scheibe „völlig überzogen und ungerechtfertigt“ reagiert,
es auf Gewalt abgesehen gehabt. „Selbstjustiz und Rache ist nie zu
billigen.“ Die Opfer würden den Angriff wohl nie vergessen. Auch zwei
Minuten könnten „sehr, sehr lange sein“.
Und dennoch kommen die Rechtsextremen – viele von ihnen seit Jahren Teil
der Neonazi-Szene – nun milde davon. Alle erhalten Bewährungsstrafen,
ausgesetzt auf bis zu drei Jahre. Einige müssen außerdem bis zu 3.000 Euro
an den Förderverein einer Ballstädter Kita entrichten, andere bis zu 300
Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Gegen einen Angeklagten, der
Mitbeschuldigte breit belastet hatte, und eine Angeklagte, die beim Angriff
Schmiere stand, wurde das Verfahren schon zuvor vorläufig eingestellt – sie
mussten 3.000 und 6.000 Euro Geldauflage zahlen.
Die Milde hat auch mit der langen Verfahrensdauer zu tun: Ein erstes Urteil
mit Haftstrafen bis zu dreieinhalb Jahren wurde 2020 vom Bundesgerichtshof
aufgehoben, da es mangelhaft begründet gewesen sei. Diesmal einigte sich
das Gericht auf Deals mit den Neonazis: [2][Bewährungsstrafen gegen
Geständnisse].
Die Rechtsextremen beließen es teils allerdings bei dürren Aussagen.Sie
hätten an den Angriff keine Erinnerung mehr, wären aber wohl dabei gewesen,
erklärten gleich mehrere. Und auch sie verwiesen auf das eingeworfene
Fenster. Die Kirmesgesellschaft bestreitet indes bis heute, etwas damit zu
tun zu haben. Auch ein Neonazi räumte im Prozess ein, man habe wohl die
Falschen getroffen.
## Ausdauernder Protest gegen die Deals
Mit Kundgebungen protestierten Linke jeden Prozesstag gegen die Deals. Auch
die AnwältInnen der Verletzten verwahrten sich dagegen, verzichteten im
Prozess am Ende aus Protest auf ihre Plädoyers. Der Prozess sei eine
„Farce“ und „ein abgekartetes Spiel“ gewesen, kritisierten sie stattdes…
in einer Stellungnahme. Die Rechte der Opfer seien übergangen worden. Es
sei nur darum gegangen, das Verfahren „schnell vom Tisch zu bekommen“. Die
milden Urteile stärkten nun die Neonazi-Szene.
Hinzu kommt: Drei der Angeklagten, darunter Thomas W., sitzen derzeit in
U-Haft, weil sie mit ihrer rechtsextremen „[3][Turonen]“-Truppe
[4][Drogenhandel und Geldwäsche in größerem Stil] betrieben haben sollen.
Ein weiterer, Marcus R., wurde gerade erst wegen des Verdachts eines
Sexualdelikts festgenommen. Für eine günstige Sozialprognose spricht das
nicht. Dennoch erhalten auch sie Bewährungsstrafen. Richterin Rathemacher
bezieht die neuen Vorwürfe in ihr Urteil nicht mit ein – sondern betont
hier die Unschuldsvermutung.
Vielmehr teilt Rathemacher in Richtung Nebenklage-AnwältInnen aus. Diese
hätten im Prozess haltlose Vorwürfe gemacht und ihre Mandanten politisch
instrumentalisiert. Die Deals verteidigt die Richterin: Diese stünden
grundsätzlich erstmal allen Angeklagten zu. Zudem sei es damit gelungen,
Geständnisse zu erhalten und trotz dünner Beweislage alle Angeklagten zu
verurteilten – andernfalls hätte es auch Freisprüche geben können.
## Richterin sieht kein politisches Motiv
Und auch das behauptete politische Motiv gebe es nicht. Es sei um Rache für
das kaputte Fenster gegangen, die auch Fußballfans oder Motorradrocker
hätte treffen können. „Das hat mit rechter Gesinnung nichts zu tun.“ Ein
kühner Vergleich für eine arglos überfallene Kirmesgesellschaft – umso
mehr, da der Zuzug der Rechtsextremen ins Dorf [5][zuvor zum Politikum
wurde], Demonstrationen inklusive.
Rathemacher aber teilt noch weiter aus. Auch die Politiker:innen, die sich
gegen die Deals ausgesprochen hätten, hätten die Gewaltenteilung nicht
verstanden, erklärt die Richterin. Und die Öffentlichkeit habe zwar ein
Recht auf Information, „aber kein Recht auf Einmischung“. Zudem könne man
schon auch fragen, warum das „Gelbe Haus“ mit einem Stein attackiert worden
sei. „Gibt es gute Gewalt? Keine Gewalt ist gut.“
## Die Nebenklage sieht eine Täter-Opfer-Umkehr
Nebenklageanwältin Kati Lang spricht von einer „Täter-Opfer-Umkehr“ und
einer „Verharmlosung rechter Gewalt, die ich so noch nicht erlebt habe“.
Der Rechtsstaat werde hier zum „zahnlosen Tiger“. Es gebe keinen Anspruch
auf einen Deal vor Gericht. Und natürlich sei der Angriff von Ballstädt
eine politische Tat. Schließlich seien die Neonazis an dem Abend auf der
Suche nach „Zecken“ gewesen, hätten zuerst ein linkes Projekt in Gotha
aufgesucht und dann dem Dorf, das sie gegen sich sahen, eine Lektion
erteilen wollen. „Die Tat war ein rechtes Dominanzsymbol.“
Die Rechtsextremen spazieren derweil gut gelaunt aus dem Gericht, auch ihre
Gesinnungskameraden auf der Empore sind zufrieden. „Nazis raus“-Rufe
schallen ihnen von der Kundgebung entgegen. Einige rufen dort auch:
„Justizskandal“. Unter den Protestierenden steht auch die
Linken-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss, die das Urteil ebenfalls
„eine Schweinerei“ nennt. „Das ist heute eine Diffamierung aller, die sich
antifaschistisch engagieren oder sich für Betroffene rechter Gewalt
einsetzen.“ Auch der SPD-Abgeordnete Denny Möller spricht von einem
„verheerenden Signal“ durch das Urteil.
Vor dem Gericht steht da auch Maximilian P., der bei dem Angriff damals
verletzt wurde. Auch er nennt die Urteilsverkündung „sehr unangenehm“.
„Dass damit einer von uns abschließen kann, glaube ich nicht.“ Auch die
Vorwürfe an die NebenklageanwältInnen sei abwegig. „Als ob wir die Kritik
nicht selber üben würden.“ Und die Neonazis genössen dank der milden
Strafen nun einmal mehr „Narrenfreiheit“. „Ich würde mich nicht wundern,
wenn die heute noch feiern gehen.“
12 Jul 2021
## LINKS
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[5] /Zivilcourage-gegen-Rechts-in-Thueringen/!5523464
## AUTOREN
Konrad Litschko
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Rechte Gewalt
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