# taz.de -- Migrationsexperte über Einwanderung: „Nur wenige werden kommen“ | |
> Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz tritt in Kraft, aber es bleiben hohe | |
> Hürden. Migrationsexperte Brücker plädiert für mehr Integrationschancen. | |
Bild: Die Hoffnung für den Arbeitsmarkt: Zugewanderte. Hier auf einer Jobbörs… | |
taz: Herr Brücker, im März tritt [1][das Fachkräfteeinwanderungsgesetz] in | |
Kraft. Ist dann der Fachkräftemangel gelöst? | |
Herbert Brücker: Nein, natürlich nicht. Die zu erwartenden Effekte sind | |
relativ gering. Es ist kein grundlegender Wandel in der Gesetzgebung | |
vollzogen worden, man hat nur das Bestehende etwas weiterentwickelt. | |
Menschen mit beruflichem Abschluss werden Hochschulabsolventen | |
gleichgestellt und die Vorrangprüfung wird weitgehend abgeschafft. Aber die | |
wichtigste Hürde bleibt bestehen: Menschen können nur einwandern, wenn ihre | |
Berufsausbildung gegenüber deutschen Abschlüssen als gleichwertig anerkannt | |
wird. | |
Warum ist das problematisch? | |
Das duale Ausbildungssystem in Deutschland ist weltweit ziemlich einmalig. | |
Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Menschen, die zu | |
uns kommen, exakt die gleichen Qualifikationen haben wie deutsche | |
Beschäftigte. | |
Warum beharrt Deutschland überhaupt so darauf? | |
Dahinter steckt die Vorstellung, dass Migrantinnen und Migranten genauso | |
sein müssten wie deutsche Arbeitnehmer. Die Politik hat Angst, dass | |
Menschen doch arbeitslos werden, dem Sozialstaat zur Last fallen. Das ist | |
verständlich. Aber: Die Menschen, die über das | |
Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu uns kommen, werden sich zwar hervorragend | |
in den Arbeitsmarkt integrieren. Doch es werden wenige sein. | |
Die Bundesregierung hat kürzlich betont, dass auch in Deutschland noch | |
nachqualifiziert werden kann. | |
Diesen Weg gab es schon im alten Recht. Das ist jetzt noch etwas erschwert | |
worden, weil zusätzlich Deutschkenntnisse gefordert werden. Das | |
Hauptproblem aber ist, dass es gleichermaßen für die Arbeitgeber als auch | |
die Arbeitnehmer sehr riskant ist, diesen Weg zu wählen. Wenn die | |
Anerkennung nicht gelingt, müssen sie wieder ausreisen. Das Risiko wollen | |
viele nicht eingehen. Deshalb hat in der Vergangenheit nur eine | |
verschwindend geringe Zahl von Personen diesen Weg gewählt, ich wäre | |
überrascht, wenn sich das jetzt ändert. | |
Wie viele Menschen bräuchte die Wirtschaft denn? | |
Ganz ohne Zuwanderung würde das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis | |
2060 um 40 Prozent sinken. Im historischen Durchschnitt liegt die | |
Nettoeinwanderung bei 200.000 Menschen pro Jahr. Wir bräuchten aber | |
400.000, um das Erwerbspersonenpotenzial gerade mal konstant zu halten. | |
Auch dann wird das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern noch deutlich | |
zunehmen. | |
Sind in dieser Zahl auch die Geflüchteten inbegriffen? | |
Ja. Aber Geflüchtete haben viel geringere Erwerbstätigenquoten als | |
Menschen, die über ein Arbeitsvisum einreisen. Es wird immer humanitäre | |
Migration geben, das ist auch richtig so. Aber die Proportionen stimmen in | |
Deutschland nicht. Im Moment machen Arbeitsmigranten etwa ein Zehntel der | |
Zuzüge aus Drittstaaten und fünf Prozent der gesamten Migration aus. Es | |
wäre gut, wenn wir einen Anteil von etwa 30 bis 40 Prozent erreichen, so | |
wie andere Einwanderungsländer. | |
Aber die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten läuft doch besser, als | |
man gedacht hat, oder? | |
Die Erwerbstätigenquote liegt bei der ausländischen Bevölkerung insgesamt | |
bei etwa 55 Prozent. Bei der deutschen Bevölkerung sind es 70 Prozent. Von | |
den Geflüchteten, die seit 2015 gekommen sind, sind inzwischen 40 Prozent | |
erwerbstätig. Sie integrieren sich langsamer in den Arbeitsmarkt. Es dauert | |
etwa 10 bis 15 Jahre, bis sie vergleichbare Erwerbstätigenquoten erreichen | |
wie andere Migrantengruppen. | |
Warum? | |
Das liegt nicht allein an den Bildungsvoraussetzungen. Diese Menschen | |
[2][fliehen vor Krieg und Verfolgung], sie sind also viel schlechter auf | |
die Migration vorbereitet und müssen die Flucht auch verarbeiten. Die | |
Asylverfahren dauern lange, und sie haben in der Regel nur temporäre | |
Aufenthaltstitel. Hinzu kommt ein geringer Anteil, der über berufliche | |
Bildungsabschlüsse verfügt. All das hat langfristig negative Folgen für die | |
Arbeitsmigration. | |
Wie zeigt sich das in konkreten Fällen? | |
Die Beschäftigungschancen eines Schutzsuchenden mit Hochschulabschluss sind | |
schlechter als bei jemandem, der ohne berufliche Ausbildung über ein Visum | |
zu Erwerbszwecken kommt. Das sagt eigentlich alles. | |
Unternehmen suchen auch dringend Bau- oder Pflegehelfer. Sollte man auch | |
diese Wege weiter öffnen? | |
Seit 2012 ist das Beschäftigungswachstum bei Menschen, die | |
Helfertätigkeiten ausüben, etwa doppelt so stark gestiegen wie im | |
Durchschnitt der Beschäftigten. Es besteht also durchaus eine hohe | |
Arbeitsnachfrage in diesem Feld. Wir wissen aber auch, dass Menschen ohne | |
abgeschlossene Berufsausbildung dauerhaft höhere Beschäftigungsrisiken | |
aufweisen. Schon deshalb sollten wir bestimmte Bildungsanforderungen | |
stellen. | |
Bei der Westbalkanregelung müssen Menschen aber keine Berufsausbildung | |
vorweisen. | |
Die Beschäftigungsquoten bei Menschen aus den Westbalkanländern sind durch | |
diese Regelung extrem stark gestiegen. Es spricht vieles dafür, dass sie | |
sich hervorragend in den Arbeitsmarkt integriert haben. Sie üben übrigens | |
nicht alle Helfertätigkeiten aus, viele arbeiten auch als Fachkräfte. Die | |
Regelung schließt allerdings aus, dass Menschen hier Leistungen beziehen, | |
die Risiken für den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat sind also relativ | |
gering. Für eine endgültige Bewertung müssen wir erst einmal die | |
Evaluationsergebnisse abwarten. | |
Könnte eine ähnliche Regelung für andere Länder dazu beitragen, das | |
Asylsystem zu entlasten? | |
Ich bin da vorsichtig. Die meisten Menschen, die als Asylbewerber nach | |
Deutschland gekommen sind, haben legitime Schutzansprüche. Zum Jahresende | |
2018 hatten 72 Prozent der Schutzsuchenden in Deutschland einen anerkannten | |
Schutzstatus, 11 Prozent waren endgültig abgelehnt und bei 17 Prozent war | |
noch nicht endgültig über die Asylanträge entschieden worden. | |
Die große Mehrheit der Menschen flieht vor Krieg oder Verfolgung aus | |
Syrien, dem Irak oder Afghanistan, oder sie kommen aus den Ländern am Horn | |
von Afrika, wo es Diktaturen und zum Teil auch Bürgerkriege gibt. Die weit | |
verbreitete Auffassung, wonach die große Mehrheit der Menschen aus | |
wirtschaftlichen Gründen gekommen wäre und hier keinen Schutzanspruch hat, | |
ist falsch. | |
Die SPD wollte [3][einen Spurwechsel], um gut in den Arbeitsmarkt | |
integrierten Geduldeten einen Aufenthaltstitel zu geben. Warum ist das | |
nicht passiert? | |
Es gibt da zwei widerstreitende Interessen. Die Integrationspolitiker | |
sagen: Sowohl die deutsche Bevölkerung als auch die Anspruchsberechtigten | |
profitieren davon. Die Innenpolitiker sagen: Wir schaffen damit | |
Pull-Effekte. Ein einfacher Ausweg wäre eine Stichtagsregelung: Wer vor | |
einem bestimmten Datum eingereist ist und bestimmte Kriterien erfüllt, | |
bekommt eine zunächst befristete Aufenthaltserlaubnis. Das machen viele | |
Länder und hat auch Deutschland in der Vergangenheit schon gemacht. Man | |
kann das dann alle fünf, zehn Jahre in unregelmäßigen Abständen | |
wiederholen. Solange das nicht kalkulierbar ist, sind die Pull-Effekte | |
gering. | |
Was steht stattdessen im Gesetz? | |
Ein Kompromiss: die Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung. Eine Duldung | |
ist aber kein Aufenthaltstitel, die Menschen werden hier nur toleriert. Und | |
man hat Fristen eingeführt, während derer der Staat versuchen kann die | |
Personen abzuschieben, auch wenn sie Ausbildungs- und | |
Beschäftigungsverträge haben. So wird die Arbeitsmarktintegration verzögert | |
und dadurch letztlich immer unwahrscheinlicher. | |
Die Union wollte sich auf einen Spurwechsel aber nicht einlassen. | |
Die Frage ist, wem das nützt. Die größte Gruppe unter den Geduldeten sind | |
die Afghanen. Wegen der Sicherheitslage in Afghanistan schiebt Deutschland | |
dorthin fast nicht ab. Diese Menschen werden viele Jahre hier in | |
Deutschland bleiben. Wenn wir ihre Beschäftigungschancen verschlechtern, | |
werden wir sie über den Sozialstaat finanzieren müssen. Wenn wir aber | |
umgekehrt Integrationschancen einräumen, gewinnen alle Seiten. Es ist | |
schade, dass man diese Möglichkeit vergibt. | |
Wie wird es jetzt weitergehen mit Deutschland als Einwanderungsland? | |
Man wird sehen, wie viele Leute über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz | |
kommen und wie sie sich in den Arbeitsmarkt integrieren. Bei Letzterem | |
braucht man kein Genie zu sein, um zu prognostizieren: Sie werden das | |
hervorragend tun. Was aber die Zahlen angeht, wird das Gesetz | |
voraussichtlich kein großer Erfolg. Also wird man neu nachdenken und dieses | |
Gesetz novellieren – auch das wäre nicht das erste Mal. Vielleicht reden | |
wir dann über ein Einwanderungsgesetz, das diesen Namen auch verdient. | |
31 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
Barbara Dribbusch | |
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