| # taz.de -- Meakusma-Festival in Belgien: Die Rache der Nerds | |
| > Nach Pandemie und Hochwasser ist in Belgien wieder das Festival Meakusma | |
| > über die Bühne gegangen. Randständige Sounds finden hier ihre | |
| > Hörerschaft. | |
| Bild: Die schottische Künstlerin Susannah Stark | |
| Wenn ein Gastwirt sein bester Kunde ist, so nennt man das gemeinhin | |
| traurig. Wenn Musiker*innen häufig gesehene Gäste auf Konzerten von | |
| Kollegen sind, nennt man das Prosumentendasein. Hinter dem Begriff | |
| Prosument verbirgt sich eine Idee des US-Philosophen Alvin Toffler; das | |
| Portmanteau gibt dabei den Kern der Idee preis: Es geht um die Klasse jener | |
| Konsumenten, die gleichzeitig Produzenten der Ware sind. | |
| Am Beispiel von Musikschaffenden, die Konzerte und Festivals besuchen, dort | |
| sich mit Gleichgesinnten austauschen, neue Kooperationen und Bandprojekte | |
| beginnen, um bei nächster Gelegenheit selbst auf der Bühne zu stehen, kann | |
| man erkennen: Solche Kreisläufe sind eng gesteckt. | |
| Bei der diesjährigen Ausgabe [1][des 2016 ins Leben gerufenen Meakusma | |
| Festivals,] das am Wochenende im ostbelgischen Eupen stattgefunden hat, | |
| traf man auf allerlei Prosumenten. Die hohe Dichte professioneller | |
| Akteur*innen aus der Kreativwirtschaft ist der Markenkern des Festivals. | |
| Nach dreijähriger Pause hat es wieder im Alten Schlachthof der | |
| 20.000-Einwohner-Gemeinde im Länderdreieck Deutschland – Niederlande – | |
| Belgien an vier Tagen stattgefunden. | |
| Man soll sich das nicht wie bei einem Branchentreff von | |
| Polohemden-Träger:innen vorstellen, bei dem stets Visitenkarten gezückt | |
| werden. [2][Das Meakusma Festival gleicht in seinen besten Momenten einer | |
| schillernden Utopie:] Ungewaschene Füße von urbanen Hippies tanzen dann | |
| über Perserteppiche in einem Hinterhof; Dancehall-Stars mixen Lovers Rock | |
| mit dem bisweilen verschmitzten HipHop von Missy Elliott und erzeugen | |
| knallharte Dub-Wände; auf Folk-Gitarren folgen Electronica und Soul. | |
| ## Ein aktualisiertes Woodstock | |
| Hier, im Hochmoor der Hügelkette Hoher Venn, wo ein Großteil der | |
| deutschsprachigen Minderheit Belgiens lebt, hat sich eine Gruppe von | |
| Music-Nerds ihre eigene Version von Woodstock gebastelt. Aktualisiert und | |
| mit vielfältigerem Musikprogramm, wohlgemerkt. | |
| Ganze drei Jahre hat die Anhängerschaft warten müssen, um an dieser Utopie | |
| wieder teilhaben zu können. Einerseits vereitelte die weltweite | |
| Coronapandemie die Durchführung 2020, im vergangenen Jahr verhinderte dann | |
| das verheerende Hochwasser, das rund um Eupen die Ufer der belgischen Weser | |
| und anderer kleiner Flüsse flutete, die Durchführung. Fast 20 Prozent der | |
| Hotelbetten sind dadurch weggefallen. | |
| Beim Gang durch das pittoreske Stadtzentrum sieht man von der Zerstörung | |
| nichts mehr. Hier stechen andere Merkmale hervor: Typisch für die Region | |
| wird simultan Französisch und Deutsch parliert, die Eupener begegnen dem | |
| Andrang der Connaisseure stets aufgeschlossen. Vielleicht aber etwas | |
| verhaltener als sonst, wie Stammbesucher*innen im Gespräch anmerken. | |
| Selbst in der übermäßig besuchten Frittenbude kann man immer wieder ein | |
| Lächeln auf der anderen Seite der Theke ausmachen. Die | |
| Meakusma-Besucher*innen danken mit Schmatzgeräuschen beim Verzehr der in | |
| Schweinefett ausgebackenen Kartoffelstäbe. Das Festival ist ausverkauft und | |
| dauert diesmal einen Tag länger als sonst. Fast 50 Prozent mehr | |
| Künstler:innen als zuvor sind aufgeboten. Denn die ausgefallenen | |
| Auftritte der vergangenen Jahre werden nachgeholt. Einige Künstler*innen | |
| heben im Gespräch hervor, dass dieses Vorgehen einzigartig sei – sie geben | |
| deshalb nochmal ein paar Prozent mehr. | |
| ## Chinesisches Scherenschnitttheater | |
| Dieses Surplus ist förmlich zu spüren: So etwa bei der belgischen | |
| Nachwuchshoffnung Sky H1 (gesprochen „high“), die ihr Anfang des Jahres | |
| veröffentlichtes Album „Azure“ zu einer audio-visuellen Erfahrung ausgebaut | |
| hat. Zusammen mit der Grafikerin Mika Oki – beide kennen sich aus dem | |
| Brüsseler Umfeld – werden so die kristallinen und scharfkantigen | |
| Elektronika-Landschaften performativ verschleiert. | |
| Sky H1 und Oki stehen auf der Bühne in einem Baldachin, sie selbst sind | |
| nicht zu sehen, sehr wohl aber ihre Silhouetten. Dadurch fühlt man sich in | |
| ein chinesisches Scherenschnitttheater versetzt; der Sound ist eine moderne | |
| Melange aus Bass-Klängen und trippelnden Hi-Hats. | |
| Gleich nebenan im Kesselraum schwelgen die Besucher*innen derweil zur | |
| Musik der Schottin Susannah Stark, die ihren feinsinnigen | |
| Leftfield-Bedroom-Pop in Bandkonstellation aufführt und die ein oder | |
| andere Träne in Gesichter zaubert. So ist es beim Meakusma – immer wieder | |
| treffen Gegensätze und Überraschungen im Programm aufeinander. | |
| Ebenso unerwartet: Freitagnacht, ein Uhr. Andernorts nennt man das | |
| Peak-Time und bietet seine breitbeinigeren Acts auf, hier setzt sich der | |
| sympathische Detroiter Sänger und Houseproduzent John F. M. ans Piano und | |
| spielt R&B-Torchsongs, nur mit Piano. Mit Engelszunge besingt der Künstler | |
| nicht nur Herzschmerz, sondern auch Schusswaffenverbrechen bei Partys. | |
| ## Springen über Genregrenzen | |
| Die ungewöhnliche Programmierung geht zwar immer wieder auf, droht aber so | |
| manchen Raum auch zu überfordern. Was nicht allein Fehler des Teams sein | |
| kann, sondern sich auch aus der geschmackssicheren Volatilität der | |
| Besucher*innen ergibt. Diese halten sich nämlich nicht an Genregrenzen, | |
| sondern springen teils intuitiv von Auftrittsort zu Auftrittsort, von Jazz | |
| zu Jungle, zurück zu Singer-Songwriter-Folk. | |
| Dazwischen wird viel diskutiert: Auftritte werden resümiert, dann wieder | |
| über das Thema „kulturelle Aneignung“ gestritten, man fachsimpelt über die | |
| Vorteile bestimmter Synthesizer. Währenddessen pumpen im Open-Air-Innenhof | |
| sämtliche Spielarten afrokaribischer Bassmusik aus einem aufgestellten | |
| Soundsystem klassischer Bauart. | |
| Für gute Stimmung sorgen am Freitag- und Samstagabend auch etliche | |
| Neuankömmlinge der Generation Z, die vor allem zum Tanzen gekommen sind. So | |
| schäumt die Stimmung auf dem Dancefloor „Heuboden“ über, der über das | |
| Wochenende vom französisch-belgischen Internetradio LYL kuratiert wird. | |
| Jubel, als die beiden Lokalhelden Front de Cadeau brachial-stampfende | |
| New-Beat-Smasher im Zeitlupentempo bieten. Die belgische | |
| Spätachtzigervariante von Techno wird hier auf sonst unpopuläre 90 BPM | |
| runtergepitcht. | |
| ## Musik, abseits der großen Märkte | |
| Was beide Seiten – Produzierende und Konsument*innen – eint: Wer das | |
| Festival Meakusma besucht, weiß, dass es in Eupen um randständige Musik | |
| geht, die abseits der großen Märkte ihre eigenen Wege und Orte findet. | |
| Der Zusammenhalt ist daher besonders gut. Nächstes Jahr könnte man ja | |
| selbst auf der Bühne stehen. Die Besucher*innen schauen sich an, | |
| wissend, dass es hier in Belgien nicht um Abzocke geht. Meakusma bleibt für | |
| immer die Rache der Nerds. | |
| 5 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Meakusma-Festival-in-Belgien/!5344735 | |
| [2] /Meakusma-Festival-in-Eupen/Belgien/!5621260 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
| ## TAGS | |
| Musikfestival | |
| Belgien | |
| elektronische Musik | |
| DJ | |
| Musikfestival | |
| Pop-Underground | |
| Ruhrtriennale | |
| Theater | |
| Free Jazz | |
| Festival | |
| Detroit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Elektronik-Festival in Belgien: Radikal und ungeschliffen | |
| Das „Meakusma“-Festival konzentrierte sein Programm in diesem Jahr auf | |
| einen „Weekender“. Bespielt wurde eine Kleinstadt in der ostbelgischen | |
| Provinz. | |
| Revival der Cassette: Stichflamme Dormagen – Tape only | |
| Wie es zur Renaissance von Cassetten als Tonträgern kam. Eine Spurensuche | |
| zwischen ESA-Raumfahrtagentur und DIY-Homerecording. | |
| Festival Ruhrtriennale 2022: Richtiger Rave im falschen Leben | |
| Techno gegen Ohnmacht: An der Ruhrtriennale inszeniert Regisseur Łukasz | |
| Twarkowski mit „Respublica“ die Vorstellung für ein anderes Zusammenleben. | |
| Internationales Theater in Wiesbaden: Vom Schwindel ergriffen | |
| Das Theater als Diskurs- und Lehranstalt: Das ist teils angestrengt und | |
| unvermittelt auf der Biennale Wiesbaden. Gelingt teils aber auch berührend. | |
| Album von US-Drummer Gerald Cleaver: Groove und wildes Denken | |
| Jazzdrummer Gerald Cleaver weicht ab von der Norm. Auf „Griots“ mischt er | |
| analoge Polyrhythmik mit elektronischer Klangerzeugung. | |
| Meakusma-Festival in Eupen/Belgien: Hundsfett mit Rumbabeats | |
| Zeitgenössische Musik, Freejazz, Dancefloor und bildende Kunst: Das | |
| Festival Meakusma im belgischen Eupen schafft interessanteste Verbindungen. | |
| Houseproduzentin Viola Klein: Aus Gründen der Wertschätzung | |
| Egalitär hören und feiern: Die Kölner Produzentin und Künstlerin Viola | |
| Klein macht elektronische Tanzmusik mit ethnografischer Genauigkeit. |