# taz.de -- Maßnahmen gegen Corona: Vielleicht geht es gut | |
> Gesundheitsämter und Ärzt*innen hoffen, dass die Corona-Einschränkungen | |
> nicht zu spät kommen. Die betroffenen Branchen sind verunsichert. | |
Bild: In den Krankenhäusern steigt die Sorge – vor allem in den Corona-Hotsp… | |
Anette Wicht kann mittlerweile viele Orte aufzählen, an denen sich Menschen | |
mit Corona anstecken. Seit einem halben Jahr fährt sie jeden Tag von | |
Weißensee im Norden Berlins einmal quer durch die Stadt nach | |
Steglitz-Zehlendorf im Südwesten. Eigentlich ist sie Physiotherapeutin an | |
einer Förderschule. Doch momentan hilft sie im Gesundheitsamt mit, die | |
Menschen zu ermitteln, die Kontakt zu Corona-Infizierten hatten. | |
Bars, Familienfeiern, Kaffeekränzchen – das seien die Klassiker. Nur | |
manchmal ist Wicht noch überrascht, so wie kürzlich, als ihr ein | |
Infizierter von seinem Besuch bei einer Sexparty erzählte. „Da musste ich | |
direkt ein zweites Mal nachfragen, so was hört man nicht alle Tage“, sagt | |
Wicht. | |
Um sie herum: Teppichboden, Aktenablagen und Schreibtische, die mit | |
Pinnwänden voneinander getrennt sind. Die Zentrale, in der die große | |
Hoffnung liegt, die Pandemie doch noch einzudämmen, wirkt provisorisch. Das | |
System: nur halb-digital. Die Mitarbeiter*innen füllen Papierformulare | |
aus, während sie telefonieren. | |
An der Wand neben Anette Wichts Schreibtisch hängt ein Kalender. Daran | |
zählt sie ab, wie lange die Menschen, die sie benachrichtigt, in Quarantäne | |
bleiben müssen. „Meistens sind die Leute verständnisvoll, wenn wir sie | |
erreichen“, erzählt sie. „Aber manchmal sind sie auch wütend und sagen, s… | |
hätten keine Symptome – und fangen im gleichen Augenblick an zu husten.“ | |
Noch schlimmer aber: Wicht und ihre Kolleg*innen können viele der | |
Kontaktpersonen gar nicht mehr erreichen. Sie kommen mit ihrer Arbeit | |
einfach nicht hinterher. Carolina Böhm, als Bezirksstadträtin so etwas wie | |
die Behördenleiterin, schüttelt oft den Kopf, wenn sie erzählt. Dass die | |
Infektionszahlen im Herbst steigen, sei keine Überraschung gewesen. Aber | |
wie schnell und hoch das Wachstum bereits jetzt sei, habe sie nicht | |
erwartet. „Im Vergleich zur ersten Coronawelle und dem Sommer erleben wir | |
gerade eine völlig neue Situation“, sagt sie. „Wir arbeiten sieben Tage die | |
Woche. Und trotzdem gerät die Nachverfolgung außer Kontrolle.“ | |
## Überstunden und Wochenendarbeit | |
Ihr Amt ist schon lange nicht mehr das einzige, das von der aktuellen | |
Coronasituation überfordert ist. Schon in der vergangenen Woche hatte die | |
Apotheken Umschau eine Umfrage unter allen 401 Behörden in Deutschland | |
veröffentlicht. 164 antworteten und ein Viertel davon gab an, nicht mehr | |
alle Kontaktpersonen von Corona-Infizierten rechtzeitig aufspüren und | |
informieren zu können. Diejenigen, die es noch schaffen, ächzen unter | |
Überstunden und Wochenendarbeit. Veraltete Ausstattung und Personalmangel, | |
das ist ein Grund. Der Anstieg der Infektionszahlen der andere. | |
In den Krankenhäusern schlägt sich dieser Anstieg noch nicht so stark | |
nieder wie in den Ämtern, aber auch hier steigt die Sorge – vor allem | |
[1][in den Corona-Hotspots]. In Berlin-Mitte kommt am Donnerstag Mittag | |
Norbert Suttorp aus der Charité herüber in die benachbarte | |
Bundespressekonferenz. Suttorp ist Lungenarzt an der Universitätsklinik und | |
berichtet von der Lage dort. „Gestern waren in Berlin 160 Covid-Patienten | |
auf Intensivstation. Das ist mehr als zu Peak-Zeiten im April“, sagt er. | |
Allein die Charité behandle derzeit 130 Corona-Erkrankte. „Vor zwei Wochen | |
waren es noch 60, vor vier Wochen 30. Wir waren immer im exponentiellen | |
Wachstum. Jetzt geht es aber richtig flott.“ Die Beschränkungen, die Bund | |
und Länder am Vortag getroffen hatten: für Suttorp „richtig und fällig und | |
sogar ein bisschen überfällig“. | |
Ungewohnt einig zeigten sich Kanzlerin und Ministerpräsident*innen, als sie | |
am Mittwoch in einer [2][Videokonferenz über die neuen Beschränkungen] | |
berieten. Der Kern der Maßnahmen, die die Länder in diesen Tagen nach und | |
nach in Verordnungen umsetzen und die am Montag in Kraft treten sollen: Im | |
Privatleben dürfen sich nur noch Menschen aus zwei Haushalten zugleich | |
treffen. Einrichtungen und Unternehmen, die im weitesten Sinne dem | |
Vergnügen dienen, müssen schließen. Bars, Tattoo-Studios, Theater: im | |
November für vier Wochen dicht. Anders als im Frühjahr dürfen Schulen und | |
Läden aller Art dagegen geöffnet bleiben. Fabriken und andere | |
Arbeitsstätten sowieso. | |
## Hygienekonzepte sinnlos? | |
Bei Vertreter*innen der betroffenen Branchen stößt das auf Unverständnis. | |
Sie bringen vor allem zwei Argumente vor. Erstens hätten sie in den | |
vergangenen Monaten mit viel Aufwand an Hygienekonzepten gearbeitet und so | |
das Infektionsrisiko gesenkt. Zweitens sei nicht nachgewiesen, dass | |
ausgerechnet ihre Branchen vermehrt für die Corona-Ausbreitung | |
verantwortlich seien. | |
Die Logik der Regierungen lautet dagegen: Solange die Pandemie außer | |
Kontrolle ist, ist jedes Zusammentreffen von Menschen potenziell | |
gefährlich. Und Zusammentreffen zum Vergnügen sind am ehesten entbehrlich. | |
„So viele Hygienekonzepte wurden erarbeitet, und die Betroffenen fragen | |
sich: Soll das alles sinnlos gewesen sein?“, sagte Kanzlerin Angela Merkel, | |
als sie die Maßnahmen am Donnerstag Morgen im Bundestag begründete. „Ich | |
erwidere: Nein, das war es nicht, und diese Hygienekonzepte werden auch | |
wieder gebraucht werden. Aber im gegenwärtigen exponentiellen | |
Infektionsgeschehen können diese Hygienekonzepte ihre Kraft nicht mehr | |
entfalten. Wir können bei 75 Prozent der Infektionen nicht mehr zuordnen, | |
wo sie geschehen sind.“ | |
Mandy Krüger ist eine von denen, die [3][deswegen ihre Türen schließen | |
muss.] Am Donnerstagabend sitzt sie im Hafen-Domizil, ihrem Restaurant in | |
Altglienicke, einem eher rustikalen Wohnviertel im Berliner Südosten. Erst | |
im August hat sie den Laden gemeinsam mit drei Partnern übernommen. Ein | |
Risiko in diesen Zeiten, klar, aber ihr Plan schien eigentlich aufzugehen. | |
Wiener Schnitzel und König-Pilsener schmissen sie von der Karte, | |
stattdessen gibt es jetzt Frischkäseklopse mit Schwarzwurzelragout, dazu | |
Craft Beer aus Neukölln. Die alten Stammgäste blieben weg. Dafür hat sich | |
herumgesprochen, dass man in Altglienicke jetzt auch etwas gehobener essen | |
kann. Im Oktober haben die Einnahmen zum ersten Mal die Kosten getragen. | |
Für Sankt Martin hatte das Hafen-Domizil schon 50 Reservierungen. | |
## Frust über die Ungerechtigkeiten | |
Und jetzt? Krügers Stimmung schwankt. „Aufgeben ist keine Option“, sagt sie | |
in der einen Minute. „Wir schaffen einen Monat, vielleicht zwei, dann ist | |
Schluss“, in der nächsten. Die Ungewissheit, wie lange der Gastro-Lockdown | |
dauern wird, nagt an ihr. Genauso wie der Frust über die Ungerechtigkeiten | |
der Pandemie. „Ich bin echt sauer auf die Partymenschen und auf die | |
Coronaleugner mit ihren Demos ohne Masken. Die werden uns die zweite Welle | |
eingebrockt haben und wir müssen es ausbaden.“ | |
Immerhin: Der Staat könnte ihr dabei helfen. Die Coronahilfen für den | |
November sind großzügiger gestaltet als die bisherigen. Weil die neuen | |
Beschränkungen auf einen Monat und bestimmte Branchen begrenzt sind, könne | |
die Regierung „massiv wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung | |
anbieten“, sagte Finanzminister Olaf Scholz, als er das neue Hilfsprogramm | |
am Donnerstagnachmittag in Berlin vorstellte. | |
Grundsätzlich gilt für kleine Unternehmen: Wer in den nächsten vier Wochen | |
auf staatliche Anordnung schließen muss, bekommt [4][75 Prozent seiner | |
Einnahmen aus dem November 2019 als Kompensation.] Solo-Selbstständige | |
dürfen davon auch ihren Lebensunterhalt bestreiten und nicht, wie bisher, | |
nur ihre Betriebskosten bezahlen. Und neu gegründete Unternehmen wie das | |
von Mandy Krüger, die bisher keine Hilfen bekamen, berücksichtigt die | |
Regierung dieses Mal wohl auch. Sie bekommen Scholz zufolge 75 Prozent der | |
Oktober-Einnahmen. Zumindest, wenn alles läuft wie geplant. An den Details | |
arbeitet sein Ministerium noch. | |
Als Krüger am Abend im Hafen-Domizil davon hört, rechnet sie im Kopf kurz | |
nach. „Das wäre gut“, sagt sie dann. „Gehälter und Krankenkasse könnte… | |
davon schon mal zahlen.“ Und wenn auch sonst alles klappt, könnte die | |
zweite Welle für sie doch noch glimpflich ausgehen. Wenn der Laden an | |
diesem Wochenende noch mal gut läuft. Wenn das Hafen-Domizil im Dezember | |
wirklich wieder öffnen darf. Und wenn die neue Idee für Sankt Martin bei | |
der Kundschaft verfängt: Den Reservierungsgästen bietet Krüger jetzt einen | |
Lieferservice an. Menü mit Rotwein. Gans-to-go. | |
31 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christina Gutsmiedl | |
Tobias Schulze | |
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