| # taz.de -- Märzrevolution von 1848: Jetzt geht’s fürs Vaterland | |
| > Deutschland gedenkt der Märzrevolution, Steinmeier baut Barrikaden. Das | |
| > ist nur denkbar, weil die Nation vor linkem Aufstand keine Angst mehr | |
| > hat. | |
| Bild: Hier noch ohne Bundespräsident: Berliner Barrikadenkämpfe zwischen 18. … | |
| Um 11 Uhr am Samstag wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier [1][zum | |
| Barrikadenbau] in Berlin erwartet: Friedrichstraße/Ecke Jägerstraße, so wie | |
| damals 1848, mit umgeworfenen Wagen und Trümmern – eine schwarz-rot-goldene | |
| Fahne soll wohl auch drinstecken. Das ist Kunst, versteht sich, und Auftakt | |
| der Festlichkeiten zur Erinnerung an die republikanischen Kämpfe von einst. | |
| Gut, der Anlass klingt vielleicht ein bisschen krumm: 175 Jahre 1848. Aber | |
| dafür geht’s ums Ganze, oder wenigstens um einen „Meilenstein der | |
| Demokratiegeschichte“, wie der Berliner Senat neulich verlauten ließ. Man | |
| soll die Feste eben feiern, wie sie fallen. | |
| In diesem Fall die Geburtsstunde oder den Zeugungsakt des demokratischen | |
| Deutschlands zum Jahrestag der Märzrevolution von 1848. Das Ereignis muss | |
| man erst mal aus der Mottenkisten ins öffentliche Bewusstsein | |
| hinüberschaffen. Es mag [2][klassischer Schulstoff] sein, ist aber auch – | |
| platt gesagt – ziemlich lange her. Auch als Spektakel betrachtet war es mit | |
| 48 bislang nicht so ganz weit her: Der 150. stand doch noch sehr im | |
| Schatten von Wiedervereinigung und dem „Ende der Geschichte“ nach dem Sieg | |
| des Kapitalismus. Und um den 100. hatte man hierzulande eh ganz andere | |
| Dinge im Kopf, wovon später noch die Rede sein wird. | |
| [3][Was war also passiert] am 18. und 19. März 1848? In Frankreich war ein | |
| paar Wochen zuvor die Zweite Republik ausgerufen worden, was den ohnehin | |
| längst gärenden demokratischen Bewegungen in den deutschen Staaten und | |
| Fürstentümern Nachdruck verlieh. Ihre Forderungen lesen sich tatsächlich | |
| wie das Fundament heutiger Selbstverständlichkeiten: ein Parlament, freie | |
| Presse, unabhängige Justiz, Frauenrecht – na ja, und die heute nicht mehr | |
| ganz so angesagte Volksbewaffnung. | |
| Ohne Gewalt ging es nicht, auch außerhalb Berlins nicht: In Wien hatte man | |
| gerade das Ständehaus gestürmt und den Staatskanzler verjagt. In Frankfurt | |
| am Main saß man bereits in der Paulskirche und schnitzte an der Verfassung. | |
| Und selbst draußen auf dem Land – im Odenwald etwa – hatten Bauern die | |
| Rathäuser gestürmt, um Pfand- und Zehntbriefe zu verbrennen. | |
| ## Im Blut gewatet | |
| In Berlin eskaliert die Situation am 18. März. Schüsse fallen, Barrikaden | |
| werden errichtet und binnen weniger Stunden toben die Kämpfe im ganzen | |
| Stadtzentrum. [4][Ein Deputierter aus Köln notiert] nach dem Gemetzel am | |
| Alexanderplatz: „Ich habe es immer für Übertreibung gehalten, wenn man | |
| erzählen hörte, 'Wir sind bis in die Knöchel im Blut gewatet.’ Heute aber | |
| bin ich von der Möglichkeit überzeugt.“ | |
| Die Lage ist undurchsichtig – und die Inhalte widersprüchlich. Die | |
| Bauernaufstände im Odenwald richten sich etwa wie selbstverständlich nicht | |
| nur gegen Adel und Grundeigentümer, sondern [5][auch gegen Jüdinnen und | |
| Juden]. Bis heute wird darüber gestritten, ob es nicht gerade die | |
| verhassten Soldaten waren, die angekündigte Pogrome letztlich verhinderten. | |
| Was von der bald erstickten Revolution bleibt, sind ihre Symbole: die | |
| Frankfurter Paulskirche etwa, in der bis ins Folgejahr die | |
| Nationalversammlung tagt, als erste Volksvertretung für ganz Deutschland. | |
| Das prägt bis heute: Nach dem Zweiten Weltkrieg übernimmt die | |
| Bundesrepublik diverse Elemente aus dem Grundrechtekatalog der Paulskirche | |
| wortwörtlich. Die Sitzordnung der politischen Lager von links nach rechts | |
| bestimmt bis heute die Koordinaten gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. | |
| Und selbst an die schwarz-rot-goldenen Schärpen der Studenten sollte man | |
| sich ein knappes Jahrhundert später wieder erinnern, als die | |
| schwarz-weiß-rote Flagge der Nazis ausgedient hatte. | |
| Überhaupt scheint das Scheitern der Revolution in dieser Rückbesinnung auf | |
| ihre kleine große Stunde genauso ausgeklammert wie der kurze Sieg der viel | |
| einschneidenderen danach: die nämlich 1918 Schluss mit Weltkrieg und | |
| Monarchie machte. Ganz zu schweigen vom Nationalsozialismus und dem Mythos | |
| der Stunde null noch etwas später. | |
| ## Kultureller Revolutionsbetrieb | |
| Kurzum: Es gibt mehr als genug Stoff für den staatstragend-demokratischen | |
| Betrieb, der sich heuer mit der 1848er-Revolution befasst. Berlin hat ein | |
| aufwendiges Veranstaltungsprogramm organisiert, diverse Theater hieven | |
| Büchners Vormärz-Drama „Dantons Tod“ in die Spielpläne – und von Frank… | |
| am Main über Dortmund bis Wadersloh legen große und kleine Museen ihren | |
| jeweils regionalen Perspektiven auf die Revolution dar. | |
| Das Interesse ist zum 175. jedenfalls überraschend groß, gerade auch, was | |
| die Vermittlung angeht. Von Steinmeiers Barrikade aus kann man etwa mit dem | |
| Smartphone in die Augmented Reality eintauchen und sich entlang | |
| verschiedener Stationen mit Aufständischen ins Benehmen setzen: vom | |
| perspektivlosen Handwerker bis zur Frauenrechtlerin. | |
| Dass dieses historische Interesse auch geleitet von staatstragenden | |
| Erwägungen ist, darf man voraussetzen. Tatsächlich scheint der Bedarf an | |
| Demokratie-PR angesichts der unentspannten Weltlage auch in Deutschland so | |
| groß wie lange nicht. Erstaunlich ist eher die nicht nur vom | |
| Bundespräsidenten vorgeführte Lust an Aufruhr, Widerstand und Straßenkampf. | |
| Kein Vergleich etwa mit Roman Herzog, der sich in seiner Rede zum 150. | |
| Jubiläum in der Paulskirche noch große Sorgen darüber machte, dass sich am | |
| Ende auch heute „nicht nur die Arbeitslose“ abwenden und es zu | |
| Unzufriedenheit und Protest kommen könnte. | |
| Wahrscheinlich ist das Schattendasein von 1848 im antikommunistischen | |
| Westen vor allem dem Gewaltmoment zuzuschreiben – oder der nur vagen | |
| Drohung gestörter Ordnung. Weil man die Demokratie im Grunde zwar sogar in | |
| der CDU irgendwie ganz gut fand, es tatsächlich aber doch mit | |
| Autoritarismus hielt, wenn’s drauf ankam. | |
| Es ist jedenfalls schon kurios, dass es bis weit in die 1990er Jahre vor | |
| allem Linke und Linksradikale waren, die den republikanischen | |
| Gründungsmythos in Ehren hielten. Schon das einschlägige Liedgut hatte | |
| einen festen Platz im Repertoire [6][linker Folk-Punk-Bands], die in der | |
| von Liedermacher Hannes Wader vorgemachten Intonation die alten Lieder | |
| aufspielten, wo immer man sie ließ: vom traditionellen Pfingstcamp der | |
| Linksjugend bis zum Einheizen für die regelmäßigen Castor-Krawalle im | |
| Wendland. | |
| Klar haben sich auch Christdemokraten ab und an „Die Gedanken sind frei“ | |
| über die Lippen gepresst, aber das Gros der Revolutionsfolklore war doch | |
| klar von links besetzt. „[7][In dem Kerker saßen], zu Frankfurt an dem | |
| Main, schon seit vielen Jahren sechs Studenten ein …“ Hohn, Spott und | |
| geballte Fäuste gegen die Obrigkeit, ihre Kerkermeister und Soldaten – | |
| subversive Noten, die doch vor allem gegen den Staat und nicht etwa für | |
| seinen demokratischen Charakter in Stellung gebracht wurden. So war’s | |
| gemeint und so wurde es auch verstanden. | |
| Umgekehrt ist allerdings auch nicht frei von Ironie, dass gerade die linke | |
| Traditionspflege sich extrem schwertat mit der anderen Seite ihrer | |
| Geschichte. Schon beim gerade angestimmten Lied von der Freien Republik | |
| galt es nur drei Strophen später das „Auf ihr deutschen Brüder, jetzt | |
| geht’s fürs Vaterland“ wegzuhusten oder wenigstens die Lautstärke etwas zu | |
| regulieren. Endgültig an ihre Grenzen kam die linke Begeisterung für | |
| 1848er-Symbolik dann aber bei der Flagge. Manche werden sich erinnern: Noch | |
| zur Jahrtausendwende gab es Schwarz-Rot-Goldenes an genau drei Orten zu | |
| sehen: An Regierungsgebäuden, auf Sporttrikots und in den verranzten | |
| Schrebergärten abgehängter Altnazis. | |
| ## Was treibt die Linke? | |
| Im Grunde ist am heutigen Brimborium das Interessanteste, was sich darin an | |
| linksbürgerlicher Haltung zum deutschen Staat niederschlägt. Und die hat | |
| sich über das Vierteljahrhundert seit dem letzten Revolutionsjubiläum doch | |
| stark gewandelt. | |
| Unvergessen ist in diesem Zusammenhang etwa Gerhard Schröder, der sich 2000 | |
| nach dem Brandanschlag auf die Düsseldorfs Synagoge an die Spitze der | |
| Zivilgesellschaft setzte, den „[8][Aufstand der Anständigen“] ausrief und | |
| es tatsächlich fertigbrachte, antinationaler Antifa und den versprengten | |
| Resten der Autonomen den Rang abzulaufen. Noch etwas dumpfer, aber nicht | |
| weniger wirkmächtig dürfte das Flaggenmeer zur Fußball-WM 2006 gewesen | |
| sein: ein Volksaufstand ohne Aufstand, gegen den die Linke sich zwar kurz | |
| noch aufbäumte, aber letztlich doch klein beigeben musste. Auch gegenüber | |
| sich selbst. | |
| Ist das am Ende die doppelte Befriedung? Der bürgerliche Staat hat sich ein | |
| revoltierendes Moment ins Programm gedichtet und die Linke erträgt dafür | |
| den nationalistischen Symbolismus? | |
| Wahrscheinlich ist es nicht ganz so einfach. Aber bemerkenswert ist doch, | |
| was für ein Deutschland heute den Bogen schlägt von sich selbst zurück zur | |
| Revolution – das die Subversion bagatellisiert und das Demokratie, | |
| Freiheit, Widerstand und Nationalismus auf eine Weise verrührt, dass einem | |
| schwindelig davon wird. | |
| Und damit schließt sich wohl wirklich ein Kreis mit einem Präsidenten auf | |
| einer Barrikade, gegen die keiner mehr anstürmt, auf den es ankäme. | |
| 18 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Die-Wochenvorschau-fuer-Berlin/!5918545 | |
| [2] https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/bpb_TB_extra_18_Maerz_BF.pdf | |
| [3] /Freiheitskaempfe-im-Maerz-1848/!5754689 | |
| [4] https://shop.greven-verlag.de/franz-raveaux.html | |
| [5] http://www.hfjs.eu/md/hfjs/juedische_emanzipation/unterrichtseinheit_gewalt… | |
| [6] https://www.discogs.com/de/artist/134918-Die-Schnitter | |
| [7] https://deutschelieder.wordpress.com/2021/01/14/die-freie-republik/ | |
| [8] /30-Jahre-Rostock-Lichtenhagen/!5873707 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Revolution | |
| Linke Szene | |
| Deutsche Geschichte | |
| Geschichtspolitik | |
| Revolution | |
| Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
| Revolution | |
| Revolution | |
| Demokratie | |
| Demokratie | |
| Barrikaden | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Erinnerung an die Märzrevolution: Ein Kampf gegen Windmühlen | |
| In Berlin-Mitte erinnert der „Platz der Märzrevolution“ an die Aufstände | |
| von 1848. Doch 27 Jahre nach der Benennung fehlt noch immer ein | |
| entsprechendes Schild. | |
| Ausstellung zum 18. März 1848 in Berlin: Revolutionärinnen auf den Barrikaden | |
| Kugeln gießen und Vereine gründen: Eine Ausstellung erzählt die | |
| Märzrevolution 1848 aus weiblicher Perspektive und als Beginn der | |
| Frauenbewegung. | |
| Maler Carl Alexander Simon: Der romantische Kolonialist | |
| Carl Alexander Simon wollte nach 1848 im Süden Chiles ein neues Deutschland | |
| aufbauen. Die entstehenden Probleme sah er dabei erst gar nicht. | |
| Märzrevolution 1848 in Berlin: Wieder drängend | |
| Bei einem Wochenende für die Demokratie wird in der ganzen Stadt der | |
| Berliner Märzrevolution vor 175 Jahren gedacht. Viele fühlen sich | |
| angesprochen. | |
| Historiker über die Märzrevolution: „Ich habe wie im Rausch geschrieben“ | |
| Rüdiger Hachtmanns neuestes Werk untersucht die Märzrevolution in Berlin. | |
| Darin geht er auch auf die Bedeutung von Frauen ein. | |
| Erinnerung an den 18. März 1848: Ein Aufruf zur Revolution | |
| Am Wochenende jährt sich die Märzrevolution in Berlin zum 175. Mal. | |
| Künstler Jim Avignon hat zehn Berliner*innen gemalt, die eine Rolle | |
| spielten. | |
| Märzrevolution in Berlin: „Ein Tag des Sieges der Demokratie“ | |
| Die Initiative „Aktion 18. März“ will den Tag zum nationalen Gedenktag | |
| erklären lassen. Warum, erklärt Gründer Volker Schröder. | |
| Die Wochenvorschau für Berlin: Ein Fest der Demokratie feiern | |
| 900 Barrikaden wurden in Berlin am 18. März 1848 errichtet. Zu Erinnerung | |
| an die Märzrevolution wird eine von ihnen wieder aufgebaut. |