# taz.de -- Linksfraktion löst sich auf: Szenen einer Scheidung | |
> Die Bundestagsfraktion der Linken geht am Dienstag in zwei Gruppen auf. | |
> Ein einmaliger Vorgang, durch den sie mehr als nur Geld verliert. | |
Bild: Die direkt gewählte Linken-Abgeordnete Gesine Lötzsch im Bundestag | |
BERLIN taz | Das hat es im Bundestag so noch nicht gegeben. Eine Fraktion | |
beschließt ihre eigene Auflösung mitten in der laufenden Legislaturperiode. | |
Genau das plant die Linksfraktion im Bundestag bei ihrer Sitzung am | |
heutigen Dienstag ab 14 Uhr. | |
Vermutlich soll sie ab Anfang Dezember wirksam werden, kurz vor dem | |
Nikolaus-Tag, das genaue Datum wird ebenfalls heute beschlossen. Bei der | |
abschließenden Lesung des Bundeshaushalts 2024 und der Abstimmung am | |
kommenden 1. Dezember könnte die Linke noch ein letztes Mal als Fraktion | |
auftreten. | |
Die Auflösung ist die Folge des Parteiaustritts von Sahra Wagenknecht und | |
neun Abgeordneten, [1][die Ende Oktober bekannt gaben], im kommenden Jahr | |
eine neue, [2][eigene Partei zu gründen]. | |
Ihre Mandate behalten die zehn Ex-Linken jedoch, zum Unmut ihrer bisherigen | |
Fraktionsfreunde. Die drei direkt gewählten Linken-Abgeordneten Gesine | |
Lötzsch, Sören Pellmann und Gregor Gysi nennen das einen „Diebstahl“ – | |
diesen drei verdankt es die Linke schließlich, überhaupt im Bundestag zu | |
sitzen, denn bei der Bundestagswahl 2021 war sie knapp an der | |
Fünfprozenthürde gescheitert. | |
## Fraktion „politisch tot“ | |
Auf das vergiftete Angebot der Wagenknecht-Truppe, in der Fraktion zu | |
bleiben, um Arbeitsplätze von Mitarbeitenden etwas länger zu retten, ging | |
Fraktionschef Dietmar Bartsch deshalb nicht mehr ein. Als vier der | |
„Abtrünnigen“ in der vergangenen Woche zur Fraktionssitzung in den | |
Bundestag kamen, obwohl er ihnen davon abgeraten hatte, wies Bartsch ihnen | |
nach kurzer Aussprache die Tür. [3][Die Fraktion sei „politisch tot“, sagte | |
er]. | |
Durch das Ausscheiden der zehn Abtrünnigen ist die verbleibende | |
Linksfraktion zu klein, um ihren Fraktionsstatus zu behalten: schon bisher | |
lag sie nur knapp über der Mindestgröße von 37 Abgeordneten. Um als | |
Fraktion anerkannt zu werden, muss man mindestens 5 Prozent aller | |
Abgeordneten auf sich versammeln. Das ist nach dem Abgang der | |
Wagenknecht-Gruppe nicht mehr der Fall. | |
## Aus einer Fraktion werden zwei Grüppchen | |
Es können sich jetzt zwei neue parlamentarische Gruppen bilden, die aber | |
weniger Geld und Redezeit im Bundestag erhalten. Sowohl die 28 verbliebenen | |
Abgeordneten der Linkspartei als auch die neun Abgeordneten um Sahra | |
Wagenknecht werden beim Ältestenrat des Bundestags beantragen, als Gruppe | |
anerkannt zu werden – so ist das Prozedere, das die Geschäftsordnung des | |
Bundestags vorgibt. „Da entscheiden andere über uns“, sagt Dietmar Bartsch | |
schicksalsergeben. | |
Mit dem Fraktionsstatus verlieren die verbliebenen Abgeordneten nicht nur | |
Geld und Redezeit im Bundestag, sondern noch weitere Privilegien. Sie | |
können keine Gesetzentwürfe, Anträge oder Entschließungsanträge mehr | |
einbringen. Sie können keine Kleinen und Großen Anfragen mehr an die | |
Bundesregierung stellen, sie dürfen keine Aktuelle Stunde und auch keine | |
namentlichen Abstimmungen mehr beantragen. All das ist Fraktionen | |
vorbehalten. Die linke Opposition im Bundestag wird dadurch deutlich | |
geschwächt. | |
## Linke nur noch als Hinterbänkler | |
Im Plenarsaal werden sie nach hinten rücken, weil sie auch den prominenten | |
Sitz in der ersten Reihe verlieren. | |
Mit ihrem Fraktionsstatus verliert die Linke auch ihre Mitgliedschaft in | |
Ausschüssen. Klaus Ernst, der mit Wagenknecht geht, dürfte seinen Vorsitz | |
im Energie- und Klimaausschuss verlieren. Petra Pau dagegen könnte ihren | |
Posten als Vizepräsidentin des Bundestags behalten, hat | |
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas angedeutet. Nur die AfD dürfte dagegen | |
Protest einlegen. Dietmar Bartsch und André Hahn werden weiter dem | |
sogenannten Vertrauensgremium beziehungsweise dem Parlamentarischen | |
Kontrollgremium (PKGr) angehören können, da sie vom gesamten Bundestag in | |
diese Gremien gewählt wurden. | |
Solche „Liquidationen“ gab es bisher in der Regel nur nach Wahlniederlagen: | |
2013 löste sich die FDP-Fraktion im Bundestag auf, nachdem sie den | |
Wiedereinzug verpasst hatte. 2002 musste die PDS, die Vorgängerin der | |
Linken, schon einmal ein solches Verfahren durchlaufen. Damals hatten nur | |
zwei Direktkandidatinnen den Sprung in den Bundestag geschafft. Und 1952 | |
wurde die Fraktion der KPD zur Gruppe abgestuft, nachdem sie einen ihrer | |
Abgeordneten verloren hatte. | |
## Ungeklärte Rechtsfragen und drohende Kündigungen | |
Eine „Liquidation“ ist keine einfache Sache und kann sich lange hinziehen. | |
Die FDP beauftragte 2013 ihren ehemaligen Abgeordneten Otto Fricke als | |
Liquidator, um Restgelder zu verwalten, Verträge mit Angestellten zu | |
beenden oder Verträge – etwa mit IT-Firmen – zu kündigen. Wegen vieler | |
ungeklärter Rechtsfragen habe die Abwicklung über vier Jahre lang gedauert, | |
sagte Fricke in einem Interview. „Das ist grob gesagt wie ein | |
Insolvenzverfahren.“ | |
Als Fraktion erhielt die Linke im vergangenen Jahr rund 11,5 Millionen Euro | |
an Zuwendungen. Auf 9,3 Millionen Euro beliefen sich die Personalkosten für | |
ihre über 100 Beschäftigten. Wenn die Fraktionsgröße unterschritten wird, | |
zahlt die Verwaltung des Bundestags keine Fraktionsmittel mehr. Dadurch ist | |
unklar, wie die Mitarbeitenden weiter bezahlt werden können. Geschätzt | |
wird, dass zwischen der Hälfte und zwei Drittel von ihnen gehen müssen. | |
Wie der Spiegel unlängst berichtete, berät die Bundesagentur für Arbeit die | |
rund 100 von Entlassung bedrohten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der | |
Fraktion. Üblicherweise verfügen sie über Arbeitsverträge, die bis zum Ende | |
der Legislaturperiode gelten. Mit der offiziellen Auflösung der Fraktion im | |
Dezember dürfte den meisten von ihnen gekündigt werden, vermutlich mit | |
Frist bis zum 31. März 2024. Wer bleiben darf, muss möglicherweise | |
Gehaltskürzungen in Kauf nehmen. | |
Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linken nahesteht, muss sparen und | |
deswegen Stellen abbauen. Die schlechten Ergebnisse der Linkspartei bei den | |
letzten Bundestagswahlen wirken sich auch auf deren Finanzen aus. Zudem | |
könnten die Zuwendungen aufgrund des neuen Stiftungsfinanzierungsgesetzes, | |
das Anfang 2024 in Kraft treten soll, in Zukunft deutlich zurückgehen. Auf | |
einer Belegschaftsversammlung informierte die Geschäftsführung kürzlich | |
über ihre Sparpläne, wie das Neue Deutschland berichtete. Frei werdende | |
Stellen sollen zunächst nicht wieder besetzt werden. Derzeit sind rund 300 | |
Menschen bei der Stiftung beschäftigt. | |
## Was wird aus Sahra Wagenknecht? | |
Im kommenden Jahr will Sahra Wagenknecht ihre Partei gründen, bislang gibt | |
es dafür nur einen Verein. Für Januar 2024 ist ein Parteitag geplant, auf | |
dem über den Vorstand und die Kandidatenliste für [4][die Europawahl im | |
kommenden Juni] abgestimmt werden soll. Die Partei soll ein exklusiver Club | |
sein und zunächst nur ausgewählte Bewerber aufnehmen. Man wolle „langsam | |
wachsen“, sagt Wagenknecht. | |
Sie selbst will nicht als Vorsitzende ihrer eigenen Partei kandidieren, | |
sondern schlägt Amira Mohamed Ali für den Job vor, [5][die ehemalige | |
Fraktionschefin der Linken im Bundestag]. Ob Wagenknecht als | |
Spitzenkandidatin zur Europawahl im Juni 2024 antritt, lässt sie noch | |
offen. | |
## Linkspartei schießt sich auf die SPD ein | |
Ihre bisherige Partei trifft sich bereits am Donnerstag in Augsburg, um | |
sich auf die Europawahl einzustimmen. Auf dem dortigen Parteitag will die | |
Linke ein „Signal der Erneuerung und der Stärke“ senden, beschwor | |
Parteichef Schirdewan den Kampfgeist. Die Seenotretterin Carola Rackete und | |
Gerhard Trabert, der „Arzt der Armen“, gelten als | |
Spitzenkandidat:innen gesetzt, außerdem Schirdewan selbst und Özlem | |
Alev Demirel, die bereits im EU-Parlament sitzen. | |
An der Basis hat die Spaltung der Partei einen Motivationsschub ausgelöst. | |
Derzeit würden schätzungsweise zwei bis drei Mal so [6][viele Menschen in | |
die Partei eintreten], als aus der Linken austreten, sekundierte Wissler. | |
Um sich als „Partei der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität und des | |
Friedens“ zu profilieren, ledern Schirdewan und Wissler gegen die Ampel und | |
insbesondere gegen die SPD. Letztere habe ein „Rückgrat wie ein | |
Wackelpudding“ und mache alles mit, wie ihr Koalitionsvertrag mit der CDU | |
in Hessen zeige, ätzte Wissler. Zu Wagenknecht sagte sie kein Wort. | |
Wagenknecht grenzt sich ebenfalls nur indirekt von ihrer Ex-Partei ab. Ihre | |
Bühne sind schon lange die Talkshows, nicht der Bundestag. Während Wissler | |
am Montag vor einem „Wettbewerb der Schäbigkeiten“ in der Migrationspolitik | |
warnte, zeigte sich Wagenknecht [7][bei „Maischberger“] zuletzt offen für | |
[8][Asylverfahren außerhalb der europäischen Union, etwa in Afrika]. In | |
einem anderen TV-Interview behauptete sie in Merz-Manier, manche | |
Flüchtlinge aus der Ukraine würden ungerechtfertigt Sozialleistungen | |
beziehen. | |
Etwas näher sind sich beide Lager mit Blick auf [9][Nahost]. Wissler | |
forderte am Montag einen Waffenstillstand im Gazastreifen und eine | |
Freilassung der Geiseln durch die Hamas. Auch hier geht Wagenknecht einen | |
Schritt weiter: Sie forderte am Montag die Bundesregierung auf, gemeinsam | |
mit Frankreich und Großbritannien eine Nahost-Friedenskonferenz | |
einzuberufen. „Natürlich hat Israel das Recht zur Selbstverteidigung, aber | |
das Völkerrecht muss gelten“, sagte sie. Ein „Krieg gegen mehr als zwei | |
Millionen Menschen“ sei „nicht verhältnismäßig.“ | |
14 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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