# taz.de -- Wackelige Zukunft der Linkspartei: Kein totes Pferd reiten | |
> Wie geht es weiter nach dem Austritt von Sahra Wagenknecht? Trotz aller | |
> Abgesänge treten nun teils prominente neue Mitglieder ein. | |
Bild: Will ins EU-Parlament: Ines Schwerdtner | |
ALTENBURG taz | Rotes Lastenfahrrad, rote Kugelschreiber, selbst die | |
Kaffeekannen sind rot. Am Marktplatz von Altenburg, Thüringen, suchen drei | |
Linke aus dem Kreisverband und die Europa-Kandidatin Ines Schwerdtner am | |
Donnerstag nach Menschen, die Probleme haben. „Wohnen“, „Wärme“, „Of… | |
Ohr“, lauten die Überschriften auf dem roten Flyer, den sie verteilen. Doch | |
das erste Problem, das im Gespräch mit einem älteren Mann aufkommt, | |
betrifft die Linkspartei selbst: „Was ist denn nun mit der Wagenknecht?“ | |
Ines Schwerdtner ist erst wenige Wochen vor dem Austritt von Sahra | |
Wagenknecht in die Linkspartei eingetreten. Jetzt kandidiert sie für die | |
Europawahl, am liebsten würde sie den einigermaßen aussichtsreichen fünften | |
Listenplatz der Partei erreichen. | |
In der Woche nach Wagenknechts Abgang meldete die Linkspartei über 400 | |
teils prominente Eintritte. Dabei steht sie in Umfragen weiterhin bei 4 bis | |
5 Prozent, viele Beobachter gehen davon aus, dass die Partei ohne ihre | |
bekannteste Vertreterin keine Zukunft mehr hat. Warum schließen sich jetzt | |
trotzdem Menschen der Linken an? | |
Am Dienstag hatte Dietmar Bartsch, jetzt alleiniger Vorsitzender der | |
Linksfraktion im Bundestag, für die kommende Woche die „Liquidation“ seiner | |
Fraktion angekündigt. Liquidation. Ein hartes Wort, das aber schlicht aus | |
dem Abgeordnetengesetz stammt. | |
## Letzte Liquidation vor 63 Jahren | |
Es ist nicht geläufig, weil so etwas wie der Parteiaustritt Sahra | |
Wagenknechts und neun weiterer Bundestagsabgeordneter Ende Oktober so noch | |
nie vorkam. Vergleichbar wäre höchstens das Schicksal der [1][Deutschen | |
Partei, deren Abtrünnige sich aber teils bestehenden Parteien anschlossen]. | |
Die Liquidation der rechten Bundestagsfraktion liegt auch schon 63 Jahre | |
zurück. | |
Die linken Abgeordneten – wie auch die Wagenknecht-Leute – können nach der | |
Auflösung der Fraktion den Status als parlamentarische Gruppe im Bundestag | |
beantragen. Doch als Gruppe werden die 28 übrig gebliebenen | |
Linke-Abgeordneten an parlamentarischen Rechten verlieren, an Redezeit und | |
Geldern. Über 100 Fraktionsmitarbeitende werden ihre Jobs verlieren. „Man | |
kann nach Aufbruch rufen, aber so einfach ist das nun mal nicht“, sagte die | |
Linke-Abgeordnete Gesine Lötzsch der Frankfurter Rundschau. Auch, weil mit | |
Wagenkecht ja nicht die Richtungsfragen verschwunden sind. | |
Eine Strategieerklärung der Parteispitze soll einen „Neustart der Linken“ | |
markieren, besonders mit Blick auf die im Juni 2024 anstehenden EU-Wahlen | |
und die Wahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen | |
und Brandenburg. Zentrales Wort, das man aus der Partei nun immer wieder | |
hört: „Geschlossenheit“. | |
Am kommenden Wochenende auf dem Bundesparteitag in Augsburg wird es einen | |
ersten Hinweis darauf geben, ob die Partei diese Geschlossenheit | |
durchhalten kann. Dort wird über das Programm und die | |
Kandidat:innenliste zur Europawahl abgestimmt. | |
## Stammklientel droht fremdzugehen | |
Mit Wagenknechts Abgang und bewegungsnahen Europa-Kandidat:innen wie der | |
Seenotretterin und Klimaaktivistin Carola Rackete habe die Linke | |
möglicherweise die Chance, „als wirklich progressive Kraft“ Neumitglieder | |
oder Stimmen aus dem studentischen Milieu zu gewinnen, sagt der | |
Parteienforscher Benjamin Höhne im Gespräch mit der taz. Doch drohten auch, | |
gerade im Osten, die Stammwähler:innen der Linken fremdzugehen. | |
In Altenburg sind die Genossen froh, dass zumindest die Hängepartie vorbei | |
ist. Auch wenn sie auf ihrer Bürgertour noch immer über Wagenknecht | |
sprechen müssen. Schwerdtner und ihre Genossen sagen dann, Wagenknecht sei | |
eine Millionärin, die in einer Villa im Saarland sitze und für | |
Sozialpolitik und die Probleme vor Ort nicht viel übrig habe. Um dann | |
schnell das Thema zu wechseln. | |
Die Linke bringen sie als Kümmererpartei in Stellung. Viele junge Leute | |
ziehen aus Altenburg weg, Leerstand ist in der Stadt ein Problem. | |
„DDR-Softeis aus originalen Maschinen“, steht an einem Laden, auch die | |
Erinnerung, dass die Stadt früher zu Sachsen gehörte, ist noch wach. Es | |
habe in die Linksjugend im Kreis mehrere Eintritte gegeben, seitdem | |
Wagenknecht weg ist, erzählt Leon Walter aus dem Kreisvorstand. Und nur | |
einen einzigen Austritt. | |
Walter hat Ines Schwerdtner zu ihrer Tour durch Altenburg eingeladen, die | |
Europa-Kandidatin, die ihnen hier zusagt. Die 34-Jährige war bis Juli | |
Chefredakteurin des linken Magazins [2][Jacobin]. Als solche wollte sie das | |
Wagenknecht-Lager eher integrieren. Wie auch Noch-Fraktionschef Dietmar | |
Bartsch. Ein Fehler? „Wagenknecht konnte man schon lange aufgeben, aber | |
nicht ihre Leute“, sagt Schwerdtner. „Es gibt viele ältere Genossen, die | |
hadern. Man muss zumindest versuchen zu verstehen, was sie an Wagenknecht | |
finden, und sie integrieren.“ | |
## Zwischen Wagenknecht und Bewegungslinken | |
Zum Beispiel beim Thema Migration, wo Wagenknecht rechte Positionen | |
vertrete. Schwerdtner will den Leuten klarmachen: „Nicht Migration ist die | |
Mutter aller Probleme, sondern das finanzielle Austrocknen der Kommunen.“ | |
Schwerdtner ist im sächsischen Werdau geboren, ihre Eltern haben nach der | |
Wende ihre Jobs verloren und sind nach Hamburg gezogen. Heute lebt sie in | |
Berlin. „Streiten für den Osten“, hat sie über ihre Kandidatur geschriebe… | |
die vom linken Landesverband Sachsen-Anhalt unterstützt wird. Sie tourt | |
durch west-, aber vor allem auch durch ostdeutsche Bundesländer. Die Partei | |
setzt ihr zu sehr auf die junge, aktivistische Klientel. | |
„Ich habe keine Vorbehalte gegen alte weiße Männer“, sagt sie am Rand der | |
Bürgergespräche in den Altenburger Straßen. Das gehe im Osten gar nicht | |
anders. Ein Regenbogenaufkleber auf dem Lastenrad der Altenburger Linken | |
zeigt aber auch, dass man hier von Wagenknechts Polemik gegen | |
„Lifestylelinke“ und „skurrile Minderheiten“ nichts hält. | |
Wer die Linke nach dem Abgang von Wagenknecht beobachtet, trifft auf Aktive | |
und Kandidat:innen, die mit viel Idealismus unterwegs sind – und sich genau | |
anschauen, mit welchen Rezepten linke Parteien in anderen Ländern | |
erfolgreich sind. Der Blick auf Jean-Luc Mélenchon in Frankreich zeigt | |
ihnen, dass Hetzen gegen Geflüchtete und Klimaschutz nicht auf das Konto | |
einer linken Massenbewegung einzahlt. Von der belgischen Partei der Arbeit | |
und der Kommunistischen Partei Österreichs wollen sie eine soziale | |
Bürgernähe übernehmen. | |
## Neue Bürgernähe | |
Ines Schwerdtner will im Fall eines Einzugs ins EU-Parlament von ihrer | |
Abgeordnetendiät nur den Lohn eines Facharbeiters behalten, wie es unter | |
ihren Genossen in Belgien und Österreich üblich ist. Auch Daphne Weber, | |
Schwerdtners Konkurrentin um Listenplatz 5 für die Europa-Liste, deren | |
Kandidatur von der Parteispitze unterstützt wird, will sich auf den | |
deutschen Durchschnittslohn beschränken. Das übrige Geld solle in einen | |
Sozialfonds fließen. | |
Parteienforscher Benjamin Höhne sieht das skeptisch. „Ich habe Bedenken, | |
dass das eine Deprofessionalisierung bedeuten kann.“ Ohnehin würden linke | |
Mandatsträger:innen im Vergleich zu den anderen Parteien mehr Geld an | |
ihre Partei abgeben. Und Brüssel sei teuer. Ein klassischer linker Ansatz | |
gebe keine Almosen, sondern spreche über Strukturen. „Diese Abgaben haben | |
ein populistisches Moment. Fraglich ist, ob sie neben Symbolpolitik viel | |
bewirken können.“ | |
Inge Hannemann, 55, findet den Sozialfonds dagegen genau den richtigen | |
Ansatz. Sie ist bekannt geworden, weil sie sich als frühere Mitarbeiterin | |
eines Hamburger Jobcenters kritisch zu den Hartz-IV-Sanktionen geäußert | |
hat. 2015 ging sie als Linke-Abgeordnete in die Hamburgische Bürgerschaft, | |
2017 legte sie ihr Mandat nieder, 2020 trat sie aus der Linken aus, weil | |
die Partei die Klassenfrage über der Identitätspolitik vernachlässigt habe. | |
Eine Kritik, die auch Wagenknecht vertritt. | |
Doch Hannemann folgt jetzt nicht Wagenknecht, [3][sondern ist wieder in die | |
Linkspartei eingetreten]. „Ich setze nicht auf ein totes Pferd“, sagt sie. | |
„Wir brauchen eine starke Linke, denn die Rechten werden immer stärker.“ Es | |
sei kein Wiedereintritt mit Wow-Gefühl, „aber auch Menschen, die nicht mehr | |
können, müssen einfach in der Politik vorkommen“. Und was ist mit der | |
Kritik an Identitätspolitik? „Es geht um soziale Gerechtigkeit für alle. | |
Damit sind auch alle gemeint.“ | |
Hannemann sagt, sie überlege jetzt mit ihrem Kreisverband, wie sie sich in | |
ihre neu-alte Partei einbringen könne. „Meine Stärke ist das Schreiben und | |
Auseinanderpflücken von Statistiken.“ | |
In Altenburg geht es zeitgleich mit der Europawahl im kommenden Juni um die | |
Kommunal- und Kreistagswahlen. Im September darauf geht es bei den | |
Landtagswahlen darum, dass die Partei im einzigen Land mit linkem | |
Ministerpräsidenten nicht abstürzt. Ein älterer weißer Mann biegt um die | |
Ecke, der frühere Landrat von der CDU. Es gibt ein großes Hallo, scherzend | |
unterhalten sich die Genossen von der Linken mit ihm. Zumindest von ihrer | |
Seite gibt es da keine Berührungsängste. | |
12 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/politik/der-abfall-a-6956c2e6-0002-0001-0000-0000430… | |
[2] https://jacobin.de/ | |
[3] /Hartz-IV-Rebellin-zurueck-in-der-Linken/!5966975 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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