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# taz.de -- Linguist über den Koalitionsvertrag: „Das Wort Klimakrise kommt …
> Am Montag unterzeichnen Union und SPD den Koalitionsvertrag. Der
> Politikwechsel schlage sich auch sprachlich nieder, sagt Linguist Simon
> Meier-Vieracker.
Bild: Die Spitzen der künftigen Regierungsparteien
taz: Herr Meier-Vieracker, am Montag wird der Koalitionsvertrag
unterzeichnet. Sie als Linguist haben ihn auf seine Sprache hin untersucht.
Was hat Sie überrascht?
Simon Meier-Vieracker: Die Parteien bedienen im [1][Koalitionsvertrag] erst
einmal die politischen Erwartungen, die man an sie stellt – und das auch
sprachlich. Spannend ist, dass sich bestimmte Tendenzen bestätigen lassen.
Das Wort „bleiben“ etwa kommt im aktuellen Koalitionsvertrag deutlich
häufiger vor als in dem der Ampel-Koalition. Das passt gut zum
konservativen Gestus dieser neuen Regierung.
taz: Gibt es weitere Begriffe, die auffallen?
Meier-Vieracker: Begriffe wie „vereinfachen“ und „sicher“ wurden noch
häufiger verwendet, insgesamt kam etwa „vereinfachen“ 51-mal vor. Der Fokus
liegt also klar auf Bürokratieabbau, Beschleunigung und Sicherheit. Auch
das Wort „Anreize“ wird sehr oft erwähnt. Das lässt sich wohl auch als
Abkehr von der oft behaupteten Verbotspolitik vor allem der Grünen deuten.
Und es passt zur Idee, die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern – ein Narrativ,
mit dem auch Friedrich Merz angetreten ist: die Wirtschaft wieder stark
machen.
taz: Und der Klimaschutz?
Meier-Vieracker: [2][Der wurde zurückgestuft], das ist auch aus
linguistischer Sicht nachweisbar. Ich habe untersucht, welche Begriffe
verschwunden sind. Dazu zählen „sozial-ökologisch“, „biologisch“ und
„Klimakrise“. Diese Wörter tauchen im neuen Vertrag gar nicht auf.
Wahrscheinlich, weil sie stark mit der Politik der Grünen assoziiert
werden. Für den so großspurig angekündigten Politikwechsel scheint es
wichtig zu sein, sich von den Grünen ausdrücklich abzugrenzen.
taz: Welche Begriffe stehen neu im Vertrag?
Meier-Vieracker: Zum Beispiel „Datennutzung“, „Kohäsionspolitik“,
„Herkunftsstaat“ oder „Infrastrukturvorhaben“.
taz: Das klingt technokratischer als 2021.
Meier-Vieracker: Dass jetzt ein eher technokratischer Ton mitschwingt, kann
man durchaus sagen. Zumindest scheint der jetzige Vertrag fachsprachlicher
zu sein. Vor vier Jahren war das noch anders: Die Ampel trat nach 16 Jahren
Merkel an – einer Kanzlerin, der oft vorgeworfen wurde, eher zu verwalten
als zu gestalten. Dann kam eine neue Regierung mit einem Aufbruchsnarrativ.
Dieser Wagemut spiegelte sich auch in der Sprache wider, und wohlklingende,
aber vage Schlagwörter wie eben „Aufbruch“ und „Chancen“ wurden häufig
genutzt. Der aktuelle Vertrag kommt eher nüchtern daher.
taz: Ihre Analyse zeigt auch: Im Ampel-Vertrag stand öfter „wir wollen“,
was unverbindlich klingt und auf Uneinigkeit hindeutet. Wurde man sich
diesmal eher einig?
Meier-Vieracker: Die Formel „wir wollen“ kommt in beiden Verträgen häufig
vor, aber in dem der Ampel eben nochmal ein bisschen häufiger. Und damals
wie heute wird auch „wir werden“ sehr oft verwendet. Im neuen
Koalitionsvertrag werden die Ziele oft auch im Indikativ formuliert: „wir
stärken X“, „wir entwickeln Y weiter“, so als sei es eine Tatsache. Von
einer größeren Verbindlichkeit würde ich dennoch nicht sprechen. Bei der
Textsorte Koalitionsvertrag ist ohnehin klar, dass das erst einmal nur
Vorhaben sind, die ja typischerweise der Zustimmung des Parlaments
bedürfen.
taz: Deckt sich der Koalitionsvertrag sprachlich mit dem, was wir im
Wahlkampf von den Parteien gehört haben?
Meier-Vieracker: Im Wahlkampf werden Aussagen oft überdeutlich formuliert,
um sich im politischen Wettbewerb von anderen Parteien abzugrenzen. Nach
der Wahl haben die Parteien dann rhetorisch abgerüstet, was für eine
Koalition auch notwendig ist. Dabei gibt es einige interessante Beispiele:
Schlagwörter wie „Zukunftsinvestition“, „Politikwechsel“,
„Null-Toleranz-Strategie“ oder „Steuergerechtigkeit“ haben es zum Beisp…
nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Auch der Begriff „Leitkultur“,
den die CDU im Wahlkampf häufig benutzt hat, wurde nicht übernommen.
taz: Apropos Leitkultur: Ist der politische Kurswechsel in der
Migrationsfrage auch sprachlich wahrnehmbar?
Meier-Vieracker: Ich sehe hier eine deutliche Verschärfung in den letzten
Jahren. Der Begriff Leitkultur ist für mich Ausdruck einer im Kern
rassistischen Ideologie. Denn die Forschung hat gezeigt, dass in neueren
Formen des Rassismus der Begriff der „Rasse“ zumeist durch den der „Kultu…
ausgetauscht wird. Dass „Leitkultur“ es nicht in den Koalitionsvertrag
geschafft hat, dürfte an der SPD liegen. Doch auch diese Partei zeigt wenig
Zurückhaltung, wenn es um einen harten Kurs in der Migrationspolitik geht.
[3][Im Vertrag wird nun ausdrücklich „Begrenzung der Migration“ zum Ziel
erhoben] und auch auf genau diese Wortwahl bestanden. Das war weder 2021
noch 2017 der Fall.
taz: Würden Sie sagen, es gibt einen Rechtsruck in der Sprache?
Meier-Vieracker: Seit mindestens 20 Jahren versucht die Neue Rechte in
Deutschland und in Österreich, die Grenzen des Sagbaren gezielt zu
verschieben. Spätestens seit der [4][Correctiv-Recherche zum Geheimtreffen
in Potsdam] hat auch die Mitte der Gesellschaft ausdrücklich Notiz von den
neurechten Strategien genommen, [5][neorassistische Begriffe
gesellschaftlich anschlussfähig zu machen]. Problematisch war, dass viele
Medien entsprechende Begriffe bei der Berichterstattung übernommen haben,
etwa „Remigration“. Damit ist die massenhafte, zur Not gewalthafte
Rückführung von Menschen mit Migrationsgeschichte in ihre tatsächlichen
oder vermeintlichen Heimatländer gemeint.
taz: Inwiefern war das problematisch?
Meier-Vieracker: Oft wurden solche Begriffe nicht einmal in
Anführungszeichen gesetzt, wodurch eine Distanzierung fehlte. Die Grenze
zwischen konservativer und neurechter Sprache wird dadurch durchlässiger.
taz: Die Strategie der Neuen Rechten geht also auf?
Meier-Vieracker: Das nennt sich [6][Metapolitik]. Die dahinterstehende Idee
ist, kulturelle Hegemonie zu erlangen, indem man Diskurse so beeinflusst,
dass ehemals marginalisierte Positionen sagbar werden und im öffentlichen
Diskurs ankommen. Politische Gestaltung findet dabei nicht nur über
Regierungsbeteiligung statt, von der rechtsextreme Akteure zum Glück noch
weit entfernt sind, sondern über langfristige Verschiebungen im sogenannten
vorpolitischen Raum, also im gesellschaftlichen Diskurs. Diese Strategie
wird sehr gezielt betrieben.
taz: Warum ist das erfolgreich?
Meier-Vieracker: Dafür gibt es viele Gründe: Ein wichtiger Faktor sind die
Empörungsgemeinschaften in den [7][sozialen Medien]. Polarisierende
Inhalte, die klare Schuldzuweisungen treffen, emotionalisieren, binden
Aufmerksamkeit und erzielen große Reichweite. Wer extreme Positionen
vertritt, wird dadurch häufiger gehört. Hinzu kommt, dass viele Parteien –
die CDU und auch die SPD – glauben, rechte Parteien schwächen zu können,
indem sie deren Positionen übernehmen. [8][Dabei ist gut belegt, dass diese
Strategie nicht funktioniert.] Und letztendlich hat es meiner Meinung nach
auch damit zu tun, dass wir in einer rassistischen Gesellschaft leben.
taz: Sie haben die [9][Analyse des Koalitionsvertrags auf Instagram
geteilt]. In den sozialen Medien erklären Sie regelmäßig linguistische
Phänomene – unter anderem zur inklusiven Sprache. In einem Video führen sie
zum Beispiel auf, warum es begründbar ist, „jemensch“ statt „jemand“ zu
sagen. Was erhoffen Sie sich von solchen Beiträgen?
Meier-Vieracker: Ich versuche nicht, andere davon zu überzeugen, dieses
Wort selbst zu verwenden. Aber ich möchte zeigen, dass es begründbar ist,
so zu sprechen. Ich versuche also zu erklären, wie man für solche Formen
der feministischen Sprachkritik argumentieren kann, wenn man die damit
verfolgten Ziele denn teilt. Zudem kann ich dieses Beispiel als Aufhänger
nutzen, um ganz allgemein in Grundbegriffe der Linguistik einzuführen.
taz: Und damit erreichen Sie Abertausende Menschen. Was ist Ihre
Motivation?
Meier-Vieracker: Zuallererst macht es mir Spaß, sonst würde ich mir die
viele Arbeit nicht machen. Und dann sehe ich eben anhand der vielen Views
und Kommentare, dass sich viel mehr Menschen als gedacht für mein Fach, die
Sprachwissenschaft, interessieren, wenn man die Themen richtig aufbereitet.
Wenn jetzt ein paar Menschen mehr wissen, womit sich die aktuelle
Linguistik so beschäftigt und dann vielleicht sogar sich selbst weiter
informieren, dann war es den Aufwand wert.
4 May 2025
## LINKS
[1] https://www.tiktok.com/@fussballinguist
[2] /Kritik-am-Koalitionsvertrag/!6077861
[3] /Asylpolitik-im-Koalitionsvertrag/!6081386
[4] https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigrati…
[5] /Debatte-um-Ausbuergerung/!6058227
[6] /Die-Neue-Rechte-und-Literatur/!6019114
[7] /Informationsflut-in-sozialen-Medien/!6078937
[8] /Politologe-ueber-Migrationspolitik/!5989700
[9] https://www.instagram.com/p/DIT6rb7NNmD/?img_index=1
## AUTOREN
Kai Vogt
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