| # taz.de -- Lernlücken nach den Pandemiejahren: Ein Tropfen auf den heißen St… | |
| > Das Landesprogramm „Stark trotz Corona“ soll benachteiligten | |
| > Schüler*innen helfen, durch Homeschooling entstandene Lernlücken | |
| > aufzuholen. | |
| Bild: Stark trotz Corona: Zwei Schüler mit Lehrerin Charlotte Schubert an eine… | |
| Berlin taz | Muhammad* könnte an diesem beinahe schon frühlingshaften | |
| Nachmittag im März auch wirklich etwas anderes machen – Fußball spielen mit | |
| den Kumpels draußen oder bloß irgendwo abhängen. Doch der Neuntklässler | |
| sitzt in einem reichlich schmucklosen Klassenraum in der Weddinger | |
| Ernst-Schering-Schule und feilt, nach Schulschluss, an einem | |
| Bewerbungsschreiben: Wie geht das noch mal mit der förmlichen Anrede? Und | |
| was ist ein höflicher letzter Satz? | |
| „Ich weiß, ich muss besser werden in Deutsch“, sagt Muhammad. Der Teenager | |
| erzählt, dass er i[1][m zweiten Lockdown im Frühjahr 2021] fast nur noch | |
| Arabisch gesprochen habe – und dann noch die sechs Wochen Sommerferien. | |
| Danach war Muhammads Deutsch so schlecht, dass er sich, wie er sagt, selbst | |
| zur Nachhilfe anmeldete. | |
| „Verfasse einen formalen Brief“, das ist die Aufgabe, die Nachhilfelehrerin | |
| Charlotte Schubert ihm und den drei anderen Jugendlichen an diesem | |
| Nachmittag gegeben hat. Muhammad nimmt am [2][Programm „Stark trotz Corona“ | |
| teil, dem zentralen Erste-Hilfe-Programm des Landes,] um die | |
| Folgeerscheinungen der Pandemiejahre zu lindern. | |
| 44 Millionen Euro hat Berlin allein für das „Aufholen von Lernrückständen�… | |
| vom Bund zur Verfügung bekommen – der Löwenanteil des insgesamt 63,8 | |
| Millionen Euro schweren Förderprogramms. Weitere Bundesmittel gibt es für | |
| den Kitabereich oder die Stärkung der Jugend- und Sozialarbeit. | |
| ## Ein Feuerwehrprogramm | |
| Seit Oktober können die Berliner Schulleitungen Gelder beantragen – etwa | |
| für nachmittägliche Nachhilfeangebote, die meist von freien Trägern aus der | |
| Jugendhilfe realisiert werden. Das als Feuerwehrprogramm konzipierte | |
| Hilfspaket kam zunächst schleppend in Gang: Obwohl die Mittel bis Ende 2022 | |
| ausgegeben sein müssen, waren zu Beginn des Jahres erst knapp über 5 | |
| Millionen Euro gebunden, wie eine Anfrage der CDU-Abgeordneten Katharina | |
| Günther-Wünsch an die Bildungsverwaltung ergab. | |
| Das ändere sich aber gerade, sagt Ariane Geis vom Bildungsträger Intellego, | |
| die den verhaltenen Programmstart auch darauf schiebt, dass die Schulen | |
| erst mal den Nachholbedarf der Schüler*innen ermitteln und Räume und | |
| Zeit organisieren mussten: „Inzwischen rennen uns die Schulen die Bude ein, | |
| der Bedarf ist enorm.“ Man gehe davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der | |
| Schüler*innen Lernlücken durch die Homeschooling-Phasen haben, hatte die | |
| damalige Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gesagt. | |
| Tatsächlich waren am Stichtag 25. März inzwischen 18,7 Millionen Euro der | |
| Mittel zum Aufholen von Lernrückständen gebunden, wie die | |
| Bildungsverwaltung auf taz-Anfrage mitteilt – ein Anteil von 45 Prozent. | |
| 600 von 756 antragsberechtigten Schulen hätten inzwischen Anträge gestellt. | |
| Geis erklärt: „Uns erreichen viele Hilferufe aus den Schulen, weil Lehrer | |
| nicht wissen, wie sie den Stoff aus dem Rahmenlehrplan durchkriegen | |
| sollen.“ | |
| Rund 300 Kurse an 57 Schulen, von der Grundschule bis zum Gymnasium, | |
| koordiniert Geis; 148 Nachhilfelehrer*innen hat sie dafür unter | |
| Vertrag genommen. Einige Schulen müsse sie abweisen, sagt sie, weil sie auf | |
| die Schnelle schlicht nicht genug Personal fände. Insbesondere für weniger | |
| zentrale Bezirke wie Spandau und Köpenick finde sie nur schwer Leute. | |
| Dabei sind die Bewerbungshürden niedrig: eine formale Qualifikation, etwa | |
| pädagogische Vorbildung, verlange sie nicht, sagt Geis. Wenn sich Leute bei | |
| ihr melden, die Deutsch in der Grundstufe unterrichten wollen, sollten | |
| diese selbst muttersprachliches Niveau haben. „Aber das Wichtigste ist, | |
| dass ich das Gefühl haben: Da interessiert sich jemand für die Kinder.“ Hat | |
| Geis dieses Gefühl, dürfen die Nachhilfelehrer*innen nach zwei | |
| Telefonaten und zwei Zoom-Kennenlernrunden einfach mal loslegen. | |
| Angesichts des ohnehin herrschenden Fachkräftemangels in den Schulen | |
| dürften höhere formale Ansprüche an die Bewerber*innen aber auch kaum | |
| zielführend sein. | |
| Die Feuerwehrleute, die den Kindern nach zwei Pandemiejahren durch die | |
| Klausuren helfen sollen, kommen so aus den unterschiedlichsten Bereichen: | |
| Da seien Rentner*innen, Studierende, aber auch Facharbeiter oder Menschen, | |
| „die sich in ihrem Job nicht ausgelastet fühlen und nach Feierabend noch | |
| etwas Sinnvolles tun wollen“, sagt Geis. | |
| Charlotte Schubert, die Muhammad an diesem Nachmittag beibringt, wie die | |
| formale Anrede in einem Bewerbungsschreiben funktioniert („Es ist immer | |
| gut, wenn du die Adressaten direkt mit Namen ansprichst“), hat eigentlich | |
| Medizin studiert und sucht zum Herbst eine Assistenzarztstelle für | |
| Kindermedizin. Bis dahin wolle sie die Zeit mit einem „sinnvollen Nebenjob“ | |
| füllen, sagt sie. | |
| Maximal sechs Kinder pro Gruppe unterrichtet Schubert jetzt nachmittags an | |
| verschiedenen Schulen – ihre Aufgabe sei, sagt sie, die | |
| Neuntklässler*innen auf die Berufsbildungsreife vorzubereiten und die | |
| Zehntklässler*innen auf den Mittleren Schulabschluss. Mit Muhammads | |
| Gruppe habe sie zum Beispiel Modalverben geübt, sagt Schubert – das sind | |
| Hilfsverben wie können, müssen, sollen, dürfen. Sie habe aber gemerkt, dass | |
| trockene Grammatikübungen nachmittags nach einem langen Unterrichtstag | |
| schwer vermittelbar sind. | |
| Sie habe sich dann für ihre Deutschgruppe an der Schering-Schule überlegt: | |
| Was könnte diesen Jugendlichen wirklich helfen? Eine Bewerbung schreiben zu | |
| können, „die tatsächlich jemand liest“, das sei jetzt ihr Ziel für Muham… | |
| und die anderen Schüler*innen im Kurs. | |
| Geis sagt, das schnöde Durchpauken von Stoff aus dem Rahmenlehrplan sei | |
| ihrer Erfahrung nach nicht das, was die Jugendlichen jetzt am dringendsten | |
| bräuchten: „Auch wenn die Schulen, die uns anfragen, zu 85 Prozent vor | |
| allem daran interessiert sind, verlorenen Stoff in den Kernfächern | |
| aufzuholen.“ | |
| Aus vielen Kursen bekomme sie von ihren Lehrer*innen aber die | |
| Rückmeldung: Da geht es um viel grundsätzlichere Dinge, etwa darum, zu | |
| üben, sich wieder 45 Minuten am Stück zu konzentrieren. Geis' Eindruck nach | |
| zwei Jahren Pandemie und nun auch noch dem Krieg in der Ukraine ist: „Viele | |
| Kinder haben gerade ein recht instabiles Verhältnis zu ihrer Zukunft.“ Die | |
| Priorität, die die Schulen auf das Aufholen des Stoffs legen, sei zwar | |
| verständlich – aber eigentlich müsste es auch noch viel mehr um die | |
| psychosoziale Komponente gehen. | |
| Schubert sagt, die Schüler*innen, die in ihrem Kurs sitzen, seien durchaus | |
| motiviert. Muhammad wird am Ende der Stunde fragen, ob sie bei der nächsten | |
| Stunde nicht noch mal besonders auf die Rechtschreibung achten könnten bei | |
| ihren Bewerbungsschreiben. | |
| Aber natürlich ist auch die Frage: Wer kommt nicht, wen erreichen auch | |
| diese freiwilligen Nachmittagsangebote nicht? Manche Schüler*innen seien | |
| zwar angemeldet, aber sie habe sie nie gesehen, sagt Schubert. | |
| Geis kritisiert, die Laufzeit des Hilfeprogramms sei viel zu kurz: Bis Ende | |
| des Jahres müssen die Schulen die Mittel ausgegeben haben. Aber eigentlich | |
| sei Corona nur ein „Verstärker“ für Probleme, die strukturell seit Langem | |
| bestehen: die Tatsache, dass Kinder wie Muhammad kurz vor der | |
| Berufsbildungsreife nur mangelhafte Rechtschreibkenntnisse haben, dass die | |
| Herkunft über den Bildungserfolg bestimmt. Die Tatsache, dass manche Kinder | |
| irgendwann aufgeben und einfach gar nicht mehr zur Schule kommen. | |
| Schubert sagt, sie habe nach jedem Kurs das Gefühl: „Das ist ein Tropfen | |
| auf den heißen Stein, was ich hier mache. Wenn man auch nur ein Stückchen | |
| weiterkommen will auf dem Weg zu etwas mehr Chancengerechtigkeit, dann | |
| müsste es dieses Projekt dauerhaft geben.“ | |
| *Muhammad heißt eigentlich anders, möchte aber seinen richtigen Namen nicht | |
| nennen. | |
| 6 Apr 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Klöpper | |
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