| # taz.de -- Kunsthistoriker über deutsche Würste: „Würste sind Kunst“ | |
| > Wolfger Pöhlmann hat Würste probiert und ein Buch geschrieben – über | |
| > Identität, Handwerksmeister und den Geschmack der Massentierhaltung. | |
| Bild: Schnee, der auf Würste fällt. Lübeck, 26. Februar 2018 | |
| taz am wochenende: Herr Pöhlmann, ist das Deutsche eine Wurst? | |
| Wolfger Pöhlmann: So kann man es jedenfalls betrachten. Es gibt von Joseph | |
| Beuys ein Zitat: „Die Wurst ist Ausdruck für das Ganze.“ | |
| Sie betrachten die Wurst in Ihrem Buch als Kulturgut. | |
| Mein Ziel ist, die deutsche Identität anhand des Gegenstandes Wurst zu | |
| hinterfragen und herauszuarbeiten. Es gibt kaum einen Aspekt aus der | |
| deutschen Geschichte und Kultur, der nicht auch seinen Ausdruck in der | |
| Wurst gefunden hätte. Das fängt bei der Sprache an. Es gibt eine solche | |
| Vielfalt von Redewendungen, die sowohl negative wie positive Gefühlswelten | |
| abbilden, in denen die Wurst ähnlich wie das Schwein auftaucht. Und das | |
| endet in einer schier unübersichtlichen Sortenvielfalt. | |
| Sie spielt auch eine große Rolle in der Kunst, etwa bei Joseph Beuys. | |
| Das Spannende an der Wurst ist, das in ihr alles Mögliche zusammengemixt | |
| wird. Beuys hat ähnlich gearbeitet, sehr assoziativ. Bei Beuys spielte die | |
| Wurst eine große Rolle. Bei der Zeitgeist-Ausstellung 1982 hat er an einen | |
| Mast von der Höhe eines Maibaums eine Blutwurst gehängt und einen Essay | |
| geschrieben mit seinem berühmten Zitat. Er wurde dann von einem | |
| Journalisten gefragt, wie meinen Sie das: „Die Wurst ist Ausdruck für das | |
| Ganze“: Beuys antwortete lachend: „Schneiden Sie mal ein Stück ab, dann ist | |
| sie nicht mehr ganz.“ | |
| Sie haben in ganz Deutschland Würste probiert und sie wie Kunstwerke | |
| angesehen. | |
| Ja, man kann der Wurst so begegnen wie der Kunsthistoriker einem Kunstwerk. | |
| Es geht darum, die Individualität des Schöpfers bei der Produktion | |
| kenntlich zu machen: die Beziehung zwischen dem Produkt, dem Ort und der | |
| Zeit, in der es entstanden ist. Und der Technik natürlich. Das sind die | |
| Hauptkriterien, mit der man Kunst betrachten kann, aber eben auch die | |
| Wurst. Wie lokal unterschiedlich der Geschmack ausgeprägt ist, auch das hat | |
| mich fasziniert. | |
| Und haben Sie große Kunst gefunden? | |
| Auf jeden Fall dort, wo Metzger noch selbst wursten. Es gibt inzwischen | |
| eine verfeinerte Esskultur, in der die Erzeuger zu Künstlern mutieren. Das | |
| kam meinem Ansatz entgegen. Mir ging es aber auch darum, den redlichen, | |
| einfachen Handwerker zu porträtieren und in Schutz zu nehmen, denn die | |
| Metzgerei ist ein aussterbendes Gewerbe. | |
| Wie viel Wurstsorten gibt es eigentlich heute in Deutschland? | |
| Ich habe bei 1.500 aufgehört zu zählen. Jeder Metzger hat seine eigene | |
| Handschrift. Und der Gestaltungsspielraum ist so groß. Wenn man bedenkt, | |
| dass heute nicht mehr nur Schwein und Rind Fleischlieferanten für die Wurst | |
| sind, sondern auch Wild, Geflügel und pflanzliche Zutaten, potenziert sich | |
| die Zahl der Wurstsorten beinah ins Unendliche. | |
| Die Franzosen sind unheimlich stolz auf ihre Käsevielfalt. In Deutschland | |
| ist das anders. | |
| Die Wurst steht derzeit fast am Pranger. Sie gilt als ungesund. Sie ist | |
| Ausdruck von furchtbaren Verstößen gegen das Tierwohl. | |
| Es hat sich das Vorurteil gebildet, Wurst sei vor allem fett, aus | |
| minderwertigem Fleisch und mit allerlei Gewürzen und Geschmacksverstärkern | |
| angereichert. | |
| Na ja, es ist ein Unterschied zwischen einer in einer Manufaktur | |
| hergestellten Wurst und dem Produkt aus der Industrie. Diese Wursterzeugung | |
| finde ich auch sehr grenzwertig, beinahe kriminell. Da wird zum Teil | |
| wirklich alles verwertet, vermischt, mit Geschmacksverstärkern und Aromen | |
| überdeckt. Das Ganze schmeckt am Ende einheitlich. | |
| Erkennen Sie denn den Unterschied? | |
| In einer Naturwurst schmeckt man das Tier mehr heraus. Und ich bilde mir | |
| ein, inzwischen sogar zu schmecken, ob das Tier, das in der Wurst steckt, | |
| ein gutes Leben hatte. Das war ein unheimlicher Erfahrungsprozess. Oft sind | |
| die Bestandteile einer Wurst nur sehr schwer zu erraten. Aber wenn mir ein | |
| Metzger erzählt, wie er die Wurst gemacht hat, was alles drin ist, dann | |
| kann man das eher schmecken und so im Laufe der Zeit seinen Geschmackssinn | |
| verfeinern. | |
| Wie ist der Geschmack der Massentierhaltung? | |
| Ich meine, den Gestank dieser Ställe erkennen zu können, ein komischer | |
| Nachgeschmack. Widerlich. Auch bei Schnitzel oder der Schweinshaxen | |
| passiert mir das inzwischen. | |
| Käse hat in Frankreich ein höheres Ansehen als hierzulande die Wurst. Er | |
| wird immer am Ende eines Menüs serviert. | |
| Nicht nur das; Wurst ist auf dem Land auch ein Teil der Entrées. Oder | |
| denken Sie an die italienischen Affettati misti, also die gemischte Wurst- | |
| und Käseplatte als Vorspeise. Wir in Deutschland hätten eigentlich auch das | |
| Zeug dazu. Ich weiß nicht, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist. | |
| Was sagen Sie eigentlich zu vegetarischen Würsten? | |
| Ich habe damit kein Problem. Die vegetarische Wurst hat ja auch schon eine | |
| längere Geschichte. Die erste ist übrigens in Deutschland von Konrad | |
| Adenauer erfunden worden. | |
| Eine Kanzlerwurst? | |
| Eine Kriegswurst. Das war noch in seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister, | |
| also während des Krieges. Adenauer war ein großer Erfinder, er entwickelte | |
| damals auch ein Ersatzbrot. Und weil der Deutsche Wurst auf der Brotscheibe | |
| braucht, machte er sich Gedanken und entwickelte eine Soja-Wurst. Er | |
| beantragte sogar ein Patent. Das wurde ihm aber verwehrt mit der | |
| Begründung, Wurst, die kein Fleisch enthalte, sei keine Wurst. Genau die | |
| gleiche Argumentation, wie sie heute Landwirtschaftsminister Christian | |
| Schmidt von der CSU benutzt. | |
| Fast jeder deutsche Kanzler hat Wurstgeschichte geschrieben. Bei Kohl war | |
| es der Saumagen, bei Schröder die Currywurst. Wie ist das bei Angela | |
| Merkel? | |
| Es gibt unglaublich viele Bilder von ihr, wie sie herzhaft in eine | |
| Bratwurst beißt. Bei Gerhard Schröder sah das immer unglaubwürdiger aus. Er | |
| hielt die Currywurst mit spitzen Fingern im Brioni-Anzug. Ich glaube, dass | |
| die Merkel so große Zustimmung hat, weil sie sich in solchen Situationen | |
| unbewusst völlig normal verhält. Es sind zwar keine klassisch schönen | |
| Bilder, aber sie sind identitätsstiftend. | |
| 2 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jörn Kabisch | |
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