Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kritik an Boomern: Wir sind nicht privilegiert!
> Konsumsüchtig?! Wachstumsgläubig?! Umweltschweine?! Wer die
> Boomer-Generation so unreflektiert hatet, disqualifiziert sich selbst.
Bild: – Polizeieinsatz zur Räumung des Hüttendorfes an der Baustelle der St…
Zwei Jahre lang habe ich gedacht: Das kann die nicht besser wissen. Das hat
der bloß so zugespitzt. Das hört schon wieder auf. Aber nachdem nun auch
Kolleg:innen, die ich ansonsten sehr schätze, das Feindbild der Fridays for
Future übernehmen und sich auf „die Boomer“ als Quelle allen (Klima-)Übels
einschießen, reicht es mir. Schluss damit! Hört endlich auf!
Privilegiert?! Konsumsüchtig?! Wachstumsgläubig?! Wer eine Generation so
allgemein und unreflektiert hatet, kann nur im Tal der Ahnungslosen wohnen,
ohne Internet, ohne Bibliotheken, ohne Kontakt zu Menschen, die zwischen
Mitte der 1950er und Ende der 1960er Jahre geboren sind. Da hätte man
ansonsten nämlich einfach mal nachlesen können, wer oder was diese Boomer
eigentlich sind. Oder besser noch: Eine:n von ihnen fragen.
Ich zum Beispiel hätte bereitwillig geantwortet. Hätte berichtet, wie
undankbar es war, im selben Jahr geboren worden zu sein wie 1.357.303
andere Kinder in Deutschland, das damals noch BRD und DDR war. Denn das
Wort „Boomer“ hat nichts mit gut, groß, schön oder teuer zu tun. Es ist d…
Abkürzung von Babyboomer, was nur heißt: Verdammt viele Schreihälse auf
einmal. Zu viele. Viel zu viele…
Kleiner Vergleich gefällig? Voriges Jahr kamen hierzulande gerade mal
773.100 Babys auf die Welt, das sind fast die Hälfte weniger.
## Hunsrück, wir kommen!
Warum die Geburtenrate in meiner Kindheit explodierte, ist schnell erzählt:
Zum Babyboom kam es, als der Zweite Weltkrieg lange genug her war und es
wieder genug Männer und in der Bundesrepublik, in die ich hineingeboren
wurde, auch einen gewissen Wohlstand gab. Wobei Wohlstand hieß, dass sich
die Familien einen (!) gebrauchten (!) VW oder Opel und ein (!) Telefon
leisten konnten. Oder zwei Wochen Sommerurlaub. Im eigenen Land natürlich,
fast wie heute mit Corona: Nordsee, Eifel, Hunsrück – wir kommen!
Dafür war die Verhütung ein Problem. [1][Die Antibabypille]? Die musste
erst noch zugelassen werden und gab es dann dank der bundesdeutschen
Ärztemoral auch nur für Verheiratete, die schon drei oder vier Kinder plus
schlimmste Menstruationsbeschwerden hatten. Erst 1970 änderte sich die
Verschreibungspraxis – und, oh Wunder!, mit dem Babyboom war es dann
schnell vorbei.
Zur Generation der Babyboomer zu gehören, hieß also vom ersten Atemzug an
keinen Platz zu haben. Spielwiesen waren überfüllt, Kindergartenplätze
praktisch nicht vorhanden. In der Schule stopfte man uns mit 45 Mädchen und
Jungen in eine Klasse. Bei den Ausbildungsstellen reichte es dann gar nicht
mehr, und die Hochschulen waren schon vollgelaufen, bevor wir uns
immatrikulieren konnten.
War doch genau mein Jahrgang nicht der erste große, dafür aber zahlenmäßig
der stärkste. Diejenigen, die es von uns dann doch irgendwie ins
Arbeitsleben schafften, zahlen zwar brav anderen die Rente. Doch für unsere
eigene werden wir natürlich immer noch zu viele sein – und für die
Pflegeversicherung erst recht.
Wir, werte Generation X, Y, Z, waren die ersten in der Bundesrepublik, für
die brüchige und unstete Berufswege mit geringfügiger Beschäftigung, mit
schlecht bezahlten Tätigkeiten, mit Niedriglohn und Leiharbeit normal
waren. Um uns herum bauten die Regierungen den Sozialstaat erst ein
bisschen aus, dann aber rapide ab, bis er nicht mehr wiederzuerkennen war,
und erfanden im Zusammenspiel mit den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden
und deren Verbündeten die „Ellbogengesellschaft“. Egoismus, Konkurrenz,
Rücksichtslosigkeit und Eigennutz hießen die neuen Tugenden, mit denen wir
uns aus der Masse herausrüpeln sollten.
Wer das alles gar nicht wissen will und sich stattdessen ein
„Boomer-Privileg“ herbeifantasiert, sollte nicht anderswo von Wokeness
reden!
Hättet Ihr mich gefragt, hätte ich Euch auch etwas anderes erzählt: Zum
Beispiel, dass es ein Mythos ist, dass sich Boomer nicht für die Zukunft
unseres Planeten interessieren. Wer bitteschön hat denn Anfang der 1980er
Jahre gegen das [2][Waldsterben] protestiert, das vor allem die Folge des
sauren Regens war? Wer hat es geschafft, dass die europäischen Staaten, die
USA, Kanada und die Sowjetunion 1983 das Genfer Luftreinhalteabkommen
abschlossen?
Dass Rauchgase entschwefelt wurden, sich der Katalysator durchsetzte,
Grenzwerte für Schwefeldioxidausstoß und Stickoxide festgelegt wurden?
Boomer kämpften gegen ozonschichtvernichtende
Fluorchlorkohlenwasserstoffe, gegen Autobahnen, gegen Atomkraftwerke,
Wiederaufbereitungsanlagen, Endlager, aber auch gegen die Stationierung von
Mittelstreckenraketen im Kalten Krieg – und gegen die Asylpolitik der
Bundesregierung.
Und falls ihr Millennials und Fridays-for-Future-Kids nicht von selbst
drauf kommt: Dass vieles nur stockend voranging und manchmal auch erfolglos
geblieben ist, liegt nicht daran, dass wir nicht wollten – vieles dauert
einfach. Weil Politik und Diplomatie komplizierter sind, als man auf den
ersten Blick denkt und es eben auch viele Menschen gibt, die sich von so
ein paar Weltverbesserern nicht das Geschäft vermiesen lassen wollen. Und
überhaupt: Wir hatten kein Internet und keine Mobiltelefone, mit denen wir
uns einfach mal per Knopfdruck vernetzen oder unsere Botschaften verbreiten
konnten.
Vor ein paar Jahren lud das Familienministerium übrigens zu einem
[3][Runden Tisch „Generation Babyboomer“] ein, weil man uns als
„demografische Herausforderung“ erkannt hatte. Das hieß übersetzt: Hilfe,
was tun, wenn die mal alle alt sind? Können die für ihre Armutsrente nicht
auch noch irgendetwas leisten? Schönen Dank auch.
Doch man wollte herausfinden, wie es um die Einsatzbereitschaft von uns
Boomern steht. Das Ergebnis: Wir engagieren uns spontan und projektbezogen,
wir sind bereit, uns „in Netzwerken oder Aktionsbündnissen zu
organisieren“, sind aber „weniger gewillt“, uns „institutionell an Part…
zu binden“. Politikverdrossen ist das nicht, politikerverdrossen aber sehr
wohl.
## Soziologische Schubladen
Politisch engagiert, ohne mit dem politischen Personal und der
Parteienlandschaft zufrieden zu sein – das habe ich doch zuletzt auch in
einem anderen Zusammenhang gelesen. Ach ja, in den jüngsten Jugendstudien
von Sinus und Shell – über die Millennials und die Fridays for Futures,
auch Generation Y und Z genannt. So weit können wir also gar nicht
auseinander liegen.
Hätte man mich gefragt, hätte ich deshalb wohl auch erklärt, dass diese
Generationenbegriffe vor allem soziologische Schubladen sind. Das wahre
Leben ist doch viel durchlässiger und unaufgeräumter, findet Ihr nicht?
Oder wie erklärt ihr euch, dass Leute in eurem Alter normalerweise liebend
gern um die Welt jetten – „Ich will erstmal ein bisschen rumreisen nach dem
Abi“ – was fast immer Australien oder Neuseeland heißt – und ein schöne…
großes Auto zum 18. Geburtstag öfter mal die Nummer eins auf der
Wunschliste ist?
Gleichzeitig gibt es natürlich auch Babyboomer, die man nicht haben
will: Den Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet, zum Beispiel, der
schon als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident ganz schlimme
Klimapolitik macht. Oder Ex-RWE-Chef Rolf Martin Schmitz, der ohne Not den
Hambacher Forst räumen und roden ließ. Oder Multimilliardärin Susanne
Klatten, die sich als BMW-Großaktionärin gegen die Klimavorgaben wehrt.
Aber es gibt eben auch die anderen. Die NGOs gründeten, wie Heffa Schücking
die Umweltorganisation [4][Urgewald]. Oder Peter Fuchs den Verein für eine
ökologisch-solidarische Energie- und Weltwirtschaft [5][PowerShift]. Die in
die Wissenschaft gingen wie Postwachstumsapologet Niko Paech,
Umweltökonomin Claudia Kemfert und Scientists-for-Future-Gründer Gregor
Hagedorn.
Hättet Ihr mich gefragt, hätte ich also vielleicht auch einfach gesagt: Die
Grenze verläuft nicht zwischen Boomern und Generation X, Y oder Z, sie
verläuft zwischen oben und unten. Und sie verläuft zwischen denen, die das
Klima retten wollen, und denjenigen, denen es scheißegal ist. Kiddies,
kapiert das endlich!
10 Jul 2021
## LINKS
[1] /Soziologin-ueber-60-Jahre-Pille/!5703215
[2] /Waldzustandsbericht-2020/!5753806
[3] https://www.iss-ffm.de/fileadmin/assets/veroeffentlichungen/downloads/runde…
[4] https://urgewald.org/
[5] https://power-shift.de/
## AUTOREN
Beate Willms
## TAGS
IG
Schwerpunkt Fridays For Future
Schwerpunkt Klimawandel
Generationen
GNS
Instagram
Babyboomer
Millennials
Wir retten die Welt
Wissenschaftsfreiheit
IG
Schwerpunkt Klimawandel
Geht's noch?
Schwerpunkt Klimawandel
Annalena Baerbock
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kritik an geburtenstarken Jahrgängen: Generation X ist kein Boomer
Wer die Alten kritisieren will, spricht vom Versagen der „Boomer“. Der Zorn
mag gerecht sein. Doch wer vom Boomer spricht, sollte ihn auch meinen.
Aufbruch, Angst und Mut: Wir zählen auf Sie
Es ist Abi-Reden-Saison. Unser Autor war dieses Jahr indirekt betroffen.
Was sagt man jungen Menschen, die jetzt ein Leben in der Klimakrise
aufbauen?
Bewegung gegen Wokeness in Forschung: Im Namen der Wissenschaft
Freiheit ist immer Freiheit der Andersforschenden. Der Rückschlag der Elite
gegenüber diverseren Ansätzen ist nur vermeintlich unideologisch.
Revolution in der Arbeitswelt: 9 to 5 ist so Boomer
Die Generation Z geht selbstbewusster durchs Arbeitsleben als die
Generationen vor ihnen. Sie könnten viel verändern, wenn wir sie nicht
aufhalten.
Polizeigewalt im Hambacher Wald: Prozess nach 4,5 Jahren
Filmemacher Todde Kemmerich hat das Land NRW wegen Polizeigewalt im
Hambacher Wald verklagt. Sechs Stunden lang befragte das Gericht nun
Zeugen.
Alkoholverbot in Hamburg: Schampus statt Kioskbier
Der Hamburger Senat vertreibt Jugendliche aus Parks und Straßen. Doch das
Alkoholverbot gilt nicht für alle: In teuren Bars darf man weiter saufen.
Die These: Vergesst die Jungen nicht
Wir sind alle urlaubsreif. Aber deshalb genau da weiterzumachen, wo wir vor
Corona aufgehört haben, wäre grundfalsch.
Europäisches Klimagesetz: Weder Annalena noch Armin
Es war ja wieder viel los, wie immer. Aber was ist das wichtigste
politische Ereignis dieser Woche? Ich wette, da kommen Sie nicht drauf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.