# taz.de -- Aufbruch, Angst und Mut: Wir zählen auf Sie | |
> Es ist Abi-Reden-Saison. Unser Autor war dieses Jahr indirekt betroffen. | |
> Was sagt man jungen Menschen, die jetzt ein Leben in der Klimakrise | |
> aufbauen? | |
Bild: Also raus aus der Schule und ran ins echte Leben! | |
Wenn ich Sie heute hier vor mir sehe, kommt es mir vor, als hätten Sie alle | |
einen Oscar gewonnen: die Herren zum ersten Mal im Anzug, die Damen in | |
unglaublichen Kleidern, die LehrerInnen unfassbar kumpelig. Und sicherlich | |
fühlen Sie sich zu Recht auch genau so, als hätten Sie eine große Trophäe | |
gewonnen: Die Arbeit hat sich gelohnt, 13 Jahre Schule – oder mehr – liegen | |
hinter Ihnen. Und da draußen wartet das Leben auf Sie. | |
Und genau deshalb wollte ich Ihnen kurz ein paar ungebetene Ideen mitgeben. | |
Blicken wir kurz zurück: Als Sie eingeschult wurden, die meisten im Jahr | |
2009, [1][scheiterte gerade mit großem Krawall] die Klimakonferenz in | |
Kopenhagen. Das war nicht Ihre Schuld, aber es hat was mit Ihnen zu tun. | |
Damals stand die CO2-Konzentration in der Atmosphäre noch bei etwa 390 ppm | |
(fragen Sie den zauberhaften Physik-Nerd mit der roten Mütze neben sich | |
nach Details), heute sind wir bei etwa 420. | |
Während Sie damit beschäftigt waren, Mathe und Französisch zu lernen, haben | |
wir Eltern [2][hunderte von Tier- und Pflanzenarten ausgerottet], riesige | |
Flächen von Naturschätzen verwüstet und mit Plastikflaschen alles zwischen | |
Südsee und Arktis vermüllt. Sie haben darüber sicher mal ein Referat | |
gehalten. | |
Nun stehen wir da, wo wir stehen. Und Sie gehen voller Vorfreude in eine | |
Zukunft, die entscheidend für uns alle wird. Wenn Sie in 30 Jahren stolz | |
bei der Abiturfeier Ihrer ersten Tochter in der Schule erscheinen, ist | |
diese Welt eine andere. Entweder Deutschland und Europa stoßen 2052 kein | |
einziges Molekül Kohlendioxid mehr aus oder wir (und Sie) haben diese | |
Schlacht verloren. Dann sind Sie (viele von uns heute stolzen Eltern | |
fungieren dann schon als Kohlenstoffsenken) echt im Schlamassel. Das kann | |
man Ihnen nicht wünschen. | |
## Nicht alles ist beherrschbar | |
Wer gibt Ihnen solche Ratschläge? Ein Abiturient des Jahrgangs 1984. Wir | |
hatten Orwells Buch gelesen, konnten uns aber nicht vorstellen, wie recht | |
er haben würde: Dass seine Slogans „Freiheit ist Sklaverei“, „Friede ist | |
Krieg“ und „Unwissenheit ist Stärke“ heute in so vielen Gegenden | |
offizielles Regierungsprogramm sind. Und dass der Große Bruder von uns | |
freiwillig mit so vielen persönlichen Daten gefüttert wird, dass es 1984 | |
als Horrorszenario galt. | |
Ich will Ihnen keine Angst machen, eher Mut zum Kämpfen. Sie werden Bio | |
oder Chemie studieren und neue technische Lösungen für die Klima- und die | |
Artenkrise erfinden, Sie werden als Juristin bessere Gesetze machen und als | |
Ökonom endlich eine Wirtschaft, die uns nicht ruiniert. Nehmen Sie Ihre | |
Arbeit ernst. | |
Die Coronapandemie hat Sie besonders getroffen. Aber auch gezeigt: In | |
natürlichen Kreisläufen herumzupfuschen kann böse Folgen haben. Nicht alles | |
ist beherrschbar, was aus dem Wald kommt. Und systemrelevant sind [3][auch | |
und vor allem Menschen, die nicht auf die Uni gegangen sind]: | |
Krankenpfleger, BusfahrerInnen, Reinigungskräfte – die Leute, die Ihnen mit | |
ihren Steuern nun das Studium finanzieren werden. Denken Sie daran, wenn | |
Sie sich mit einem gutdotierten Job über zu hohe Steuern und soziale | |
Umverteilung aufregen. | |
Also raus aus der Schule und ran ans echte Leben! Ihre Generation hat | |
gezeigt, dass die Welt sich manchmal am besten verändern lässt, wenn man am | |
Freitag nicht zur Schule geht. Da müssen sie unbedingt weitermachen. Wir | |
zählen auf Sie. Retten Sie Ihre Welt. Und hören Sie dabei nicht allzu sehr | |
auf die Ratschläge Ihrer Eltern. | |
13 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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