| # taz.de -- Jung und alt im Wahlkampf: Zoomer gegen Boomer | |
| > Frühreife KlimaaktivistInnen versus bornierte EgoistInnen: Wie wir aus | |
| > der Wahlkampf-Logik des inszenierten Generationenkonflikts herauskommen. | |
| Bild: Der Wahlkampf wird medial als Showdown eines ramponierten Generationenver… | |
| Das Wahlkampffinale wird medial als Showdown eines ramponierten | |
| Generationenverhältnisses arrangiert: Sat.1 zitiert die Kandidat:innen | |
| ins Klassenzimmer, Pro7 flüstert [1][Kindern] frühreife Fragen ein, um die | |
| Bewerber:innen entsprechend alt aussehen zu lassen. Die Website | |
| enkelkinderbriefe.de, unterstützt von Fridays for Future und | |
| kulturschaffender Prominenz, macht aus geliebten Nachkommen plagiierende | |
| Plagen. Dort steht ein Vorlagengenerator für emotionale Erpresserbriefe | |
| bereit: „Liebe Oma, lieber Opa, ich wollte euch mal wieder schreiben, weil | |
| ich mir Sorgen um die Zukunft mache.“ Und ein anderer Enkeltrick sorgte | |
| jüngst auf Twitter für Furore: Die Familie einer 96-Jährigen verkündete, | |
| sie sei der Oma bei der Briefwahl behilflich gewesen. „Wo steht die CDU?“, | |
| hatte sich Oma erkundigt. Aber man versicherte ihr: „Mutter. WIR wählen die | |
| Grünen“. Und so geschah es. | |
| Diese „verkehrte“ Nachhilfe wirkt bisweilen unappetitlich. Nicht nur werden | |
| hier Minderjährige und deren berechtigte Zukunftsängste instrumentalisiert. | |
| Zugleich wird ein identitätspolitisch bizarres Bild vom realen | |
| Zusammenleben der Generationen gezeichnet: „Wir, [2][die Jungen], werden | |
| von euch, den Alten, unterdrückt und unserer Zukunft beraubt!“ Aber stimmt | |
| es eigentlich, dass die Älteren bloß egoistisch sind und widerwillig, den | |
| Planeten zu retten? | |
| Wer Generationengerechtigkeit fordert, setzt zu Recht voraus, dass die Welt | |
| nicht allein den heute Lebenden gehört. Schon Karl Marx mahnte angesichts | |
| des kapitalistischen Raubbaus, die Erde sei „den nachfolgenden Generationen | |
| verbessert zu hinterlassen“. Zwar muss man so weit gar nicht gehen. Es | |
| würde schon reichen, die Welt einfach nicht kaputtzumachen. Das moralische | |
| Mindestgebot lässt sich auf eine einfache sanitäre Formel bringen: „Bitte | |
| hinterlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn vorzufinden wünschen!“ | |
| Manche deuten diese Pflicht religiös im Sinne einer zu bewahrenden | |
| „Schöpfung“. Andere vertragstheoretisch: Da ich niemandem zugestehe, | |
| egoistisch „unsere“ Ressourcen zu verschwenden, muss ich mich auch selbst | |
| zurückhalten; und zwar selbst noch ungeborenen Generationen gegenüber. | |
| Dritte betrachten das Problem familiär. Schon Immanuel Kant gab zu | |
| bedenken, dass Eltern ihre Kinder „ohne ihre Einwilligung auf die Welt | |
| gesetzt“ haben und damit die Verpflichtung eingehen, ihre Nachkommen „mit | |
| diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen“. Salopp formuliert: Statt mich | |
| zu zeugen, hättet ihr ja auch eine Viertelstunde spazieren gehen können! | |
| Woraus aber resultiert der üble Beigeschmack jener „Zoomer gegen | |
| Boomer“-Kampagnen? Sind diese nicht einfach nur konsequent? Die zugespitzte | |
| Frontstellung wird befeuert von der Selbstgerechtigkeit tonangebender | |
| Jugendfunktionäre, die ganz genau zu wissen scheinen, wer schuld an der | |
| Katastrophe ist. Die [3][Großeltern] werden längst unironisch als | |
| „Umweltsäue“ markiert, die von ihrer automobilen Dreckschleuder nicht | |
| lassen wollen und Discounterfleisch futtern. | |
| Abgesehen davon, dass es wohlfeil ist, mit dem Katastrophenwissen von heute | |
| Lebensstile von gestern zu skandalisieren: Diese denunziatorische | |
| Pauschalität wird weder dem individuellen ökologischen Fußabdruck jener | |
| hinterherhinkenden Ahnen gerecht – im Vergleich etwa zur industriell | |
| organisierten Verantwortungslosigkeit. Noch wird gesehen, dass dieser | |
| Fußabdruck von Oma zu Opa sehr verschieden ausfällt, und zwar abhängig von | |
| Diversitätskriterien, die eine „intersektionale“ Gerechtigkeitstheorie | |
| heute zu beachten hätte: Einkommen, Bildung, Herkunft, Geschlecht usw. | |
| Zweitens irritiert die Scheinfrömmigkeit, mit der man sich darüber | |
| hinwegtäuscht, dass der ökologische Raubbau Folge eines kapitalistisch | |
| produzierten Wohlstands ist, von dem auch die Kritiker:innen | |
| profitieren: reduzierte Säuglingssterblichkeit, höhere Lebenserwartung, | |
| bessere Gesundheitsversorgung, Mobilität, Online-Shopping. Man darf heute | |
| kiffen, ohne in den Knast zu wandern, die Regierung beschimpfen, ohne | |
| nachts aus dem Bett geholt zu werden, lieben, wen man will, freitags die | |
| Schule schwänzen, ohne von den Lehrern verprügelt zu werden. Wem hat die | |
| Jugend das eigentlich zu verdanken? Sich selbst? | |
| Die dritte Aversion betrifft die undemokratische Präpotenz, mit der sich | |
| die Apparatschiks der Nachwelt nach einer „Entmündigung“ der senilen | |
| Altvorderen sehnen. Sicher, bei Wahlen geht es stets auch um die Zukunft, | |
| und an dieser ist die Jugend von heute naturgemäß mehr interessiert als die | |
| Jugend von gestern. Aber die Demokratie muss auf dem Unterschied von | |
| „überzeugen“ und „überrumpeln“ beharren. Ich persönlich kenne keine … | |
| die rufen: „Nach uns die Sintflut“. Sondern nur Eltern, die beim Wählen | |
| auch an ihre Kinder denken. Daher ein Vorschlag zur Güte. | |
| Undemokratisch ist vor allem, dass Ältere bei Wahlen viel stärker als | |
| Jüngere ins Gewicht fallen. Das ist nicht nur der Demografie, dem Trend zur | |
| Kinderlosigkeit sowie dem Umstand geschuldet, dass Ältere häufiger zur | |
| Wahlurne schreiten. Das Wahlrecht selbst ist nicht mehr zeitgemäß. Die | |
| Stimmen eines kinderlosen Paars zählen am Wahlsonntag genauso viel wie die | |
| einer sechsköpfige Familie mit Kindern unter 18. Eine Absenkung des | |
| Wahlalters ginge da nicht etwa zu weit, sondern nicht weit genug. Wir | |
| brauchen ein „Familienwahlrecht“, bei dem Eltern für ihre Kinder mitwählen | |
| dürfen. | |
| Leicht lässt sich erahnen, wie rasch sich die Wahlprogramme ändern würden. | |
| Der Einwand, Kindern fehle die politische Reife und Eltern könnten ihr | |
| Stimmrecht missbrauchen, geht am Kern des Problems vorbei. Mangelnde Reife | |
| herrscht auch aufseiten vieler Erwachsener. Und die Warnung vor | |
| Wahlrechtsmissbrauch übersieht einmal mehr, dass Eltern zuzutrauen ist, | |
| sich um die Zukunft ihrer Kinder zu sorgen. Es bedarf also keiner | |
| Enkeltricks, damit die Demokratie aus den Kinderschuhen herauswächst, | |
| sondern einer „kleinen“ Revolution des Wahlrechts. | |
| 22 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kandidat-Laschet-spricht-mit-Kindern/!5797397 | |
| [2] /Junge-Leute-unter-18-duerfen-nicht-waehlen/!5802134 | |
| [3] /Oma-for-Future-ueber-Klimaprotest/!5799510 | |
| ## AUTOREN | |
| Arnd Pollmann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Fridays For Future | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Generationen | |
| Menschenrechte | |
| Wir retten die Welt | |
| Klimakonferenz in Dubai | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Wahlkampf | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Buch über Menschenrechte und -würde: Fragil, aber alternativlos | |
| Der Philosoph Arnd Pollmann nimmt die Menschenrechte in Schutz vor neuen | |
| relativistischen Abgesängen und erinnert an ihren revolutionären Gehalt. | |
| Aufbruch, Angst und Mut: Wir zählen auf Sie | |
| Es ist Abi-Reden-Saison. Unser Autor war dieses Jahr indirekt betroffen. | |
| Was sagt man jungen Menschen, die jetzt ein Leben in der Klimakrise | |
| aufbauen? | |
| Philosoph zum Kampf gegen Klimawandel: „Wir haben ein Motivationsproblem“ | |
| Die Erde wird unbewohnbar, wenn wir weiter so konsumieren. Warum tun wir es | |
| dennoch? Ein Gespräch mit dem Sozialphilosophen Arnd Pollmann. | |
| Podcast „Bundestalk“: Klimawahl – oder Klima egal? | |
| Kurz vor der Wahl rückt die Klimakrise endlich in den Fokus. Aber wie | |
| überzeugend sind die Pläne von Laschet, Scholz und Baerbock? | |
| Hungerstreik von Klimaaktivist:innen: Erneut Person in Klinik gebracht | |
| Seit Ende August verweigern mehrere Aktivist:innen die Nahrung. | |
| Politiker:innen und Bewegungsforscher Dieter Rucht warnen vor einem | |
| Streik „bis zum bitteren Ende“. | |
| Springer-Blatt gegen Aktivistinnen: Am Pranger der „Bild“ | |
| Nach der ARD-Wahlarena hetzt die „Bild“ gegen junge Aktivistinnen. Doch auf | |
| deren Anliegen kommt es an. |