# taz.de -- Krautrock-Band Tangerine Dream: Die neben Kraftwerk | |
> Tangerine Dream ist eine Berliner Band mit Legendenstatus, wenigstens im | |
> Ausland. Auf Museum aber haben ihre Mitglieder keine Lust. | |
Bild: Tangerine Dream, ein wenig aufgefrischt | |
Die Band Tangerine Dream existiert nun beinahe so lang wie die Rolling | |
Stones. Aber wenn man deren Mitglieder trifft, wirken diese viel jünger als | |
Mick Jagger und Co. Kenner der Berliner Band wissen natürlich gleich: Das | |
liegt vor allem daran, dass sie auch viel jünger sind, allesamt zwischen | |
Anfang und Mitte 40. Tangerine Dream stellen damit durchaus eine | |
rockhistorische Besonderheit dar. Es fällt einem eigentlich keine andere | |
Band ein, die über 50 Jahre lang ohne Unterbrechung existiert, auch wenn | |
inzwischen keiner aus der Urbesetzung noch mit an Bord ist. | |
Man denke sich nur mal, Mick Jagger, Keith Richards, Ronnie Woods und | |
Charlie Watts würden allesamt in Rente gehen, um nicht sagen zu müssen: | |
wegsterben. Und ein paar Typen würden [1][unter dem Namen Rolling Stones] | |
weiter Platten veröffentlichen und auf Tour gehen. Man kann sich das gar | |
nicht vorstellen. | |
Und als dann im Jahr 2015 Edgar Froese starb, das absolute Mastermind | |
hinter Tangerine Dream und fast von Beginn an einzige Konstante in der | |
ständig wechselnden Bandbesetzung, dachten eigentlich auch die meisten: Das | |
muss es jetzt gewesen sein. Tangerine Dream ohne Froese: undenkbar. | |
Doch es war dessen ausdrücklicher Wunsch, dass seine Band auch ohne ihn | |
fortexistieren solle. Er übergab den Staffelstab und die musikalische | |
Leitung an Thorsten Quaeschning, der zum Zeitpunkt seines Todes bereits | |
seit zehn Jahren mit dabei war. „Es lag gar nicht in meinem | |
Kompetenzbereich zu sagen: Okay, wir machen weiter. Das war Edgars | |
Entscheidung“, sagt dieser heute. Und so ging es einfach weiter mit | |
Tangerine Dream. | |
Man kann nun aber gar nicht sagen, dass man sich in Deutschland in den | |
letzten Jahrzehnten besonders für die Geschicke der Elektronikband aus | |
Berlin interessiert hätte. Selbst der Tod von Froese löste in der | |
internationalen Presse ein größeres Echo aus als hierzulande. | |
## Der Ruhm im Ausland | |
Tangerine Dream wurden in den frühen Siebzigern ziemlich schnell ziemlich | |
erfolgreich. Aber vor allem im Ausland, besonders im angloamerikanischen | |
Raum. Dort werden sie auch heute noch als wichtigste deutsche | |
Elektronikband neben Kraftwerk verehrt. Selbst in ihrer deutschen | |
Heimatstadt Berlin genießen sie dagegen kaum mehr als Legendenstatus. Edgar | |
Froese packte dazu passend in seiner posthum erschienen Autobiografie eine | |
Anekdote aus. Gemäß dieser wurde zum zweihundertjährigen Jubiläum der | |
Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Los Angeles 1980 vorab eine | |
Delegation von Berlin nach Kalifornien gesandt. Die sollte ausloten, | |
welcher künstlerische Beitrag aus Deutschland zu den Feierlichkeiten genehm | |
wäre. Der Bürgermeister von Los Angeles kannte keinen der Vorschläge auf | |
der Liste und sagte: Nehmt doch Tangerine Dream. Die kannten wiederum die | |
Berliner nicht. | |
Woher diese Ignoranz rührt, darüber kann nur spekuliert werden. Die | |
Berliner, so scheint es, überhäufen einen internationalen Star, der sich zu | |
ihnen begibt, gerne mit all ihrer Liebe. Siehe David Bowie. Wer dagegen als | |
Kind dieser Stadt glaubt, woanders könnte es vielleicht noch schöner sein | |
als hier, wird abgestraft. So ist es etwa Marlene Dietrich ergangen. Und | |
vielleicht auch Tangerine Dream. Die machten nie ein Geheimnis daraus, dass | |
für sie die Welt größer war als Berlin. Richard Branson, der die Band ab | |
deren fünfter Platte zu seinem eben erst gegründeten Label Virgin holte, | |
sagte zu dieser: Pink Floyd waren gestern, die Zukunft gehört euch. Und | |
stellte ihnen in England ein geräumiges Cottage zur Verfügung, in dem sie | |
leben und arbeiten konnten. Später, als der große Ruhm in den USA kam, | |
hielten sie sich immer öfter dort auf. | |
Auch die aktuelle Wiederentdeckung von Tangerine Dream geht vom Ausland | |
aus. Es gab immer wieder Wellen, in denen die klassischen Tangerine Dream | |
aus den Siebzigern von nachfolgenden Generationen neu rezipiert wurden. | |
Deren epische Flokati-Teppiche aus schier endlosen sphärischen Sounds, zu | |
denen man gerne die Lavalampe anwirft. Vor allem im Bereich der | |
Ambientmusik bekennt man sich stark zu Tangerine Dream. | |
## Bei den Soundtracks in der A-Liga | |
Doch die eigentliche Renaissance hat eher die amerikanische | |
Unterhaltungsindustrie ausgelöst. Und die erinnert sich an die Berliner als | |
die Soundtrack-Großmeister für Hollywood, die sie in den Achtzigern waren. | |
Sie schrieben in der Zeit die Musik für Filme von Regisseuren wie Michael | |
Mann, Ridley Scott und William Friedkin, also für Hollywoods A-Liga. Der | |
effektvolle Elektronik-Score, heute gang und gäbe in Hollywood-Filmen, geht | |
letztlich auch auf Tangerine Dream zurück, die damit neben Vangelis und | |
Giorgio Moroder bahnbrechend waren. Und Hans Zimmer, der König des | |
Hollywood-Film-Score, ist natürlich auch bekennender Fan der deutschen | |
Synthie-Band. | |
Und so fragte die Firma Rockstar vor ein paar Jahren ausgerechnet beim | |
längst über 60-jährigen Froese an, ob er sich vorstellen könne, auch den | |
Soundtrack für ein mit dem Film verwandtes visuelles Medium zu schreiben. | |
Und zwar für die fünfte Auflage ihres erfolgreichen | |
Computerspieleklassikers „Grand Theft Auto“, die 2013 auf den Markt | |
gebracht wurde. Froese wollte erst nicht, ließ sich das Spiel dann aber in | |
den USA vorführen und war begeistert. Die Intro-Musik zu „GTA 5“ mit seinem | |
lässig cheasigen Westcoast-Funksound schrieb er gemeinsam mit den Rappern | |
und Hip-Hop-Produzenten The Alchemist und Oh No. Für den Score des Spiels | |
spielte er mit Tangerine Dream dann ganze 36 Stunden Musik ein. Thorsten | |
Quaeschning sagt beim Besuch der Band in einem ihrer beiden Studios in der | |
Sonnenallee in Neukölln: „Das Spiel hat sich 76 Millionen Mal verkauft. Und | |
die Leute verbringen je nach Spielglück gut ein Jahr mit unserer Musik. | |
Auch wenn sie vielleicht nicht unbedingt wissen, dass diese von Tangerine | |
Dream stammt.“ | |
Auch viele Fans der erfolgreichen Mystery-Serie „Stranger Things“ des | |
Streamingkanals Netflix dürften sich für die Elektronikband aus Berlin | |
interessieren. Das Titelthema der Serie, die dafür gelobt wird, [2][die | |
Achtziger liebevoll detailliert nachzustellen], wurde von zwei Mitgliedern | |
der Band Survive komponiert, devote Fans von Tangerine Dream. In einem | |
Interview mit dem amerikanischen Rolling Stone sagten sie, in ihrer | |
Lieblingsvideothek immer gezielt die Filme ausgeliehen zu haben, für die | |
Tangerine Dream den Soundtrack komponiert hatten. Diese Verehrung der | |
Berliner hört man ihrer „Stranger Things“-Erkennungsmelodie auch | |
überdeutlich an. | |
Inzwischen haben Tangerine Dream die Hommage gecovert, das Original grüßt | |
die Epigonen dankbar zurück. Was zeigt, dass die Band von heute nicht nur | |
ihr jahrzehntealtes Erbe verwalten, sondern sehr gegenwärtig sein möchte. | |
Das zeigt sich auch am neuen Bandmitglied, das seit einem halben Jahr dabei | |
ist: Paul Frick vom hippen Berliner [3][Techno-Trio Brandt Brauer Frick]. | |
Und der sagt: „Ich bin ganz neu in der Band. Ich beschäftige mich weniger | |
mit deren Vergangenheit, mich interessiert die Zukunft. Man kann aus so | |
einer Sache auch ein Museum machen, aber das hat hier ja zum Glück niemand | |
vor.“ Er glaubt auch, dass seine neue Band sowieso zeitgemäß klingt wie | |
lange nicht. „Seit einer Weile boomt nun schon die sogenannte Neoklassik. | |
Und in diesem Bereich klingt das ein oder andere Stück verdammt nach | |
Tangerine Dream.“ Zu dem komme noch Corona. „Seit der Pandemie machen alle | |
viel introspektivere Musik als vorher. Und Tangerine Dream waren schon | |
immer ziemlich introspektiv.“ | |
Nach Froeses Tod ging es erst einmal darum, neu zu klären, was man mit | |
Tangerine Dream überhaupt noch will. Der Meister selbst hatte ja in den | |
Jahren vor seinem Tod ein wenig den roten Faden verloren. Er holte | |
Saxofonisten mit an Bord, trat live mit Percussion-Musikern auf, war mal | |
ganz allein die Band, dann jahrelang nur mit seinem Sohn, irgendwann | |
blickte da niemand mehr durch. Ständig wurden dabei neue Platten | |
veröffentlicht, aber nur noch für eine überschaubare Anzahl beinharter | |
Fans. | |
Ziel sei es nun, so Thorsten Quaeschning, die Band zurück zum symphonischen | |
Synthiesound der Siebziger zu führen, aber dabei eben nicht nur retro zu | |
sein. Es gibt also wieder wie in der klassischen Periode drei Männer – der | |
in London lebende Ulrich Schnauss gehört noch mit zur Band – hinter ihren | |
Geräten. Aber es dürfen auch mal Beats programmiert werden. Und die | |
Violinistin Hoshiko Yamane, die seit zehn Jahren festes Mitglied ist, wird | |
weiterhin dafür sorgen, dass Tangerine Dream mehr ist als ein reines | |
Reenactment längst vergangener Tage. | |
Spätestens im Sommer soll dann das erste gemeinsam produzierte Studioalbum | |
in der neuen Bandbesetzung erscheinen. Derweil wird auch daran gearbeitet, | |
dass Tangerine Dream in Berlin doch noch ihre verdiente Aufmerksamkeit | |
bekommen. In London ist gerade eine Ausstellung über die Band im Barbican | |
zu sehen, die allerdings wegen Corona unterbrochen werden musste. Kuratiert | |
wurde diese von Froeses zweiter und letzter Ehefrau Bianca Froese-Acquaye, | |
die auch Managerin von Tangerine Dream ist. Sie sagt am Telefon, sie sei | |
gerade mit mehreren Berliner Institutionen im Gespräch, um die Ausstellung | |
auch hierher bringen zu können. | |
Es würde sich lohnen. Man würde etwa den von John Peel geschriebenen Brief | |
zu sehen bekommen, den dieser 1973 an Tangerine Dream schickte. „Zeit“, das | |
vierte Album der Band, war das Album des Jahres für den ikonischen Radio-DJ | |
der BBC. Unter anderem wollte er den Berlinern unbedingt mitteilen, dass er | |
mit seiner Frau jeden Abend vor dem Zubettgehen immer diese eine Platte | |
auflegen würde. | |
Und man würde in der Ausstellung die Legende um Tangerine Dreams Konzert in | |
der Kathedrale von Reims noch einmal erzählt bekommen, das regelrecht einen | |
Kirchenstreit auslöste. Während des viel zu vollen Konzerts kifften die | |
Zuschauer und pinkelten in die Ecken des Gotteshauses. Danach war die | |
Empörung groß und sie erreichte sogar den Vatikan. Der erließ einen Bann | |
und gab die offizielle Order an alle katholischen Kathedralen, die Band aus | |
Deutschland niemals wieder in einer von diesen auftreten lassen zu dürfen. | |
Woraufhin sich die anglikanische Kirche in England meldete und sagte: Dann | |
tretet halt in unseren Kathedralen auf. Was diese dann auch mehrfach tat. | |
Kein Teil der Ausstellung ist dagegen die Geschichte über die Beziehung | |
zwischen Froese und David Bowie. Die erzählt dann Froese-Acquaye nochmals | |
am Telefon. Die beiden Musiker kannten sich schon, bevor Bowie nach Berlin | |
übersiedelte, der Engländer war bekennender Fan von Froese. Als er dann mit | |
Iggy Pop im Schlepptau hier ankam, lebte er erst ein paar Wochen in Froeses | |
Wohnung in Schöneberg, bevor er in [4][seine WG mit Pop um die Ecke] zog. | |
Ohne Edgar Froese hätte es Bowie, der Liebling Berlins, also anfangs um | |
einiges schwerer gehabt bei seinem Umzug in die Mauerstadt. Das sollte den | |
Berlinern doch Grund genug sein, endlich auch mal Froeses angemessen zu | |
gedenken. | |
16 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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