# taz.de -- Konflikte in Bergkarabach: Droht ein Völkermord? | |
> Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan schwelt, die kleine | |
> Region Bergkarabach ist zwischen den Gegnern eingekeilt und gefährdet wie | |
> nie. | |
Bild: Die aktuelle Zuspitzung ist eine Folge erneuter kriegerischer Auseinander… | |
In der südkaukasischen Region Bergkarabach bahnt sich eine humanitäre | |
Katastrophe an. Was genau passiert dort gerade? | |
Die Bevölkerung in [1][Bergkarabach] (armenisch: Arzach), derzeit noch rund | |
120.000 Armenier*innen, droht zu verhungern. Jüngst wurde über einen | |
40-Jährigen berichtet, der an Unterernährung gestorben sei. Es fehlt nicht | |
nur an Nahrungsmitteln, sondern auch an Medikamenten, Benzin wird knapp, | |
Strom und Gas gibt es, wenn überhaupt, nur stundenweise. | |
Der Grund: Bergkarabach ist seit Monaten [2][von seinem Hauptversorger | |
Armenien abgeschnitten]. Luis Morena Ocampo, Ex-Chefankläger des | |
Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, sprach in der | |
vergangenen Woche vom „Hunger als unsichtbarer Waffe“ eines Genozids, den | |
Aserbaidschan vorbereite. Ohne dramatische Veränderungen würden die | |
Armenier*innen in Bergkarabach binnen weniger Wochen sterben. | |
Hintergrund der Krise ist ein territorialer Konflikt zwischen Aserbaidschan | |
und Armenien. Woher rührt der Streit? | |
Zu Sowjetzeiten hatte Bergkarabach einen autonomen Gebietsstatus innerhalb | |
der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Im Zuge des | |
Zerfalls der Sowjetunion – 1991 erklärte sich Bergkarabach für unabhängig … | |
kam es zwischen Aserbaidschan und Armenien in den 1990er Jahren zu einem | |
Krieg. | |
Zehntausende Soldaten und Zivilist*innen wurden getötet, mehr als eine | |
Million Menschen wurde vertrieben. 1994 wurde ein Waffenstillstand | |
vereinbart, der allerdings brüchig blieb. Armenien kontrollierte fortan | |
außer Bergkarabach auch noch eine Pufferzone um die Region herum. Der | |
„Quasi-Staat“ Bergkarabach ist international nicht anerkannt, | |
völkerrechtlich gehört er zu Aserbaidschan. | |
Warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt? | |
Die aktuelle Zuspitzung ist eine Folge erneuter kriegerischer | |
Auseinandersetzungen vom Herbst 2020, die 44 Tage dauerten und etwa 7.600 | |
Tote forderten. Aserbaidschan eroberte, auch mit militärischer Hilfe der | |
Türkei, in Bergkarabach die strategisch wichtige Stadt Schuscha sowie | |
weitere Orte. Am 10. November 2020 sah sich Armeniens Regierungschef Nikol | |
Paschinjan gezwungen, ein von Russland vermitteltes | |
Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen. | |
Teile Bergkarabachs sowie die sieben Distrikte aus der umliegenden | |
Pufferzone fielen an Aserbaidschan. Eine 2.000 Mann starke russische | |
Friedensmission soll nicht nur den Waffenstillstand für zunächst fünf Jahre | |
überwachen, sondern auch den sogenannten Latschin-Korridor kontrollieren, | |
der für die Karabach-Armenier*innen von existenzieller Bedeutung ist. Er | |
stellt die einzige Landverbindung und Versorgungsroute zu Armenien dar. | |
Wieso hat Russland in Bergkarabach Friedenstruppen stationiert und wie kam | |
es zur Blockade des Latschin-Korridors? | |
[3][Moskau betrachtet auch Armenien als seine Einflusssphäre], es unterhält | |
in der zweitgrößten armenischen Stadt Gjumri seine einzige Militärbasis im | |
Südkaukasus. Dort sind rund 3.000 russische Soldaten stationiert. Doch seit | |
Ende 2022 ist das bilaterale Verhältnis merklich angespannt. Die Regierung | |
von Nikol Paschinjan wirft Moskau vor, seine Verpflichtungen nicht | |
wahrgenommen und eine Blockade des Latschin-Korridors durch Aserbaidschan | |
zugelassen zu haben – für die desaströse Situation in Bergkarabach also | |
mitverantwortlich zu sein. | |
Zur Blockade des Landkorridors kam es, nachdem aserbaidschanische | |
Umweltaktivist*innen im Dezember 2022 dort Straßensperren errichtet | |
hatten, um gegen die Rohstoffplünderungen durch Armenier*innen zu | |
demonstrieren. So die Darstellung aus der aserbaidschanischen Hauptstadt | |
Baku. | |
Trotz massiver Verkehrsbehinderungen eskortierten Angehörige der russischen | |
Truppen Warenlieferungen durch den Korridor, auch das Rote Kreuz konnte | |
Hilfsgüter nach Bergkarabach bringen und Kranke medizinisch versorgen. Am | |
23. April 2023 errichtete Aserbaidschan einen Grenzkontrollpunkt, was die | |
Versorgung der Karabach-Armenier*innen weiter erschwerte. Am 12. Juli | |
kündigte der aserbaidschanische Grenzschutz die vorübergehende Schließung | |
des Checkpoints „Latschin“ an, offiziell begründet mit angeblichen | |
armenischen „Schmuggelaktivitäten“. Derzeit ist der Korridor so gut wie | |
dicht. | |
Welche Ziele verfolgt Aserbaidschan? | |
Nach Lage der Dinge will Baku die komplette Kontrolle über Bergkarabach | |
übernehmen. Die Armenier*innen könnten ja aserbaidschanische Pässe | |
bekommen, heißt es. Dieses „Angebot“ dürfte kaum auf Gegenliebe stoßen, … | |
die Armenier*innen ein Leben unter aserbaidschanischer Kontrolle mit | |
Unterdrückung und Schlimmerem gleichsetzen. Als Alternative, nicht zuletzt, | |
um dem Hungertod zu entgehen, bliebe ihnen dann nur, Bergkarabach zu | |
verlassen – was einer ethnischen Säuberung ohne direkte Waffengewalt | |
gleichkäme. | |
Ein zweites Ziel Bakus ist die Schaffung eines Korridors nach Nachitschewan | |
– eine autonome Republik Aserbaidschans, die an Armenien, Iran und auf | |
einer Länge von 17 Kilometern auch an die Türkei grenzt. Nachitschewan ist | |
nur durch einen knapp 50 Kilometer breiten und zu Armenien gehörenden | |
Landstreifen von Aserbaidschan getrennt. Im September 2022 beschossen | |
aserbaidschanische Soldaten Grenzgebiete im Süden Armeniens, es gab | |
hunderte Tote. Dies war unstrittig ein Angriff auf die territoriale | |
Integrität des Landes. | |
Ist die Internationale Staatengemeinschaft in den Konflikt um Bergkarabach | |
involviert und wenn ja, wie? | |
In den vergangenen Monaten kam es mehrmals zu Gesprächsrunden zwischen den | |
Konfliktparteien, mit internationaler Beteiligung. Auf Bitten Armeniens hat | |
eine zivile Mission der EU (Euma) im Februar ihre Arbeit aufgenommen, ihr | |
gehören 100 internationale unbewaffnete Mitglieder an. Das Mandat ist auf | |
zwei Jahre befristet und sieht Patrouillen auf armenischer Seite entlang | |
der gesamten armenisch-aserbaidschanischen Grenze vor. | |
Am 22. Februar 2023 forderte der Internationale Strafgerichtshof Baku dazu | |
auf, „eine ungehinderte Bewegung von Personen, Fahrzeugen und Frachten“ | |
durch den Latschin-Korridor in beide Richtungen zu gewährleisten. In dieser | |
Woche war der Konflikt Thema bei einer Dringlichkeitssitzung des | |
UN-Sicherheitsrats, alle 15 Mitgliedstaaten drängten Baku erneut, den | |
Latschin-Korridor umgehend zu öffnen. Die Konfliktparteien müssten sich um | |
eine diplomatische Lösung bemühen, hieß es – das war’s. Eine gemeinsame | |
Erklärung? Fehlanzeige. | |
Armenien fühlt sich von den westlichen Staaten im Stich gelassen. Es | |
wünscht sich deutlich mehr Druck auf Aserbaidschan. Warum geschieht das | |
nicht? Gibt es überhaupt Perspektiven für einen Friedensvertrag? | |
Aserbaidschan ist reich an Rohstoffen und daher als Handelspartner höchst | |
attraktiv – vor allem in Zeiten des Ukraine-Krieges. Im Juli 2022 | |
unterschrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Abkommen | |
über die Verdoppelung von Gaslieferungen ab 2027. Dafür kann man auch schon | |
mal über ein paar Defizite in Sachen Menschenrechte hinweg sehen, so | |
scheint es. Was Friedenshoffnungen angeht: Immerhin reden die | |
Konfliktparteien noch miteinander, weitere Treffen sind bereits in den USA, | |
auf EU-Ebene und in Russland geplant. Viele Armenier*nnen sind indes | |
pessimistisch, eine Journalistin sagt: „Spätestens in 30 Jahren wird es | |
Armenien auf der Landkarte nicht mehr geben.“ | |
18 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Konflikt-um-Bergkarabach/!5907715 | |
[2] /Konflikt-um-Bergkarabach/!5915297 | |
[3] /Konflikt-um-Bergkarabach/!5908329 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Armenien | |
Völkermord | |
Aserbaidschan | |
wochentaz | |
Armenien | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Armenien | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Armenien | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Aserbaidschanisch-armenische Beziehungen: Frieden in Sicht? | |
Armenien und Aserbaidschan wollen ihre Beziehungen normalisieren. Ziel ist | |
ein Abkommen. Auch ein Gefangenenaustausch gehört zur Vereinbarung. | |
Kämpfe in Bergkarabach beunruhigen UN: Aserbaidschan schießt weiter | |
Aserbaidschan solle die Offensive sofort beenden, fordern mehrere Länder | |
bei der UN-Generalversammlung. Doch Baku will nur verhandeln, wenn Armenien | |
kapituliert. | |
Konflikt um Berg-Karabach: Aserbaidschan startet Angriff | |
Im Südkaukasus deutet sich ein neuer Krieg zwischen dem verfeindeten | |
Armenien und Aserbaidschan an. Umkämpft ist das armenisch-bewohnte | |
Berg-Karabach. | |
Humanitäre Krise in Bergkarabach: Blockade und Hilfe | |
Die Verbindungsstraße von Armenien nach Bergkarabach ist weiter blockiert. | |
Hilfe kommt vom russischen Roten Kreuz über Aserbaidschan. | |
Deutschland trägt Mitschuld: Der hingenommene Genozid | |
Das armenische Bergkarabach wird von der Welt abgeschnitten, die | |
Bevölkerung ausgehungert. Das gasreiche Aserbaidschan ist dem Westen | |
wichtiger. | |
Deutschland und Bergkarabach: Zynisch und geschichtsvergessen | |
Die deutsche Bundesregierung nimmt Warnungen vor einem Genozid an | |
Armenier:innen nicht ernst. Ein Skandal, der allerdings nicht | |
verwundert. | |
Konflikt um Bergkarabach: Friedensgespräche gehen weiter | |
Armenien und Aserbaidschan haben erneut über Bergkarabach verhandelt, | |
diesmal in den USA. US-Außenminister Blinken sieht „Fortschritte“. | |
Aserbaidschan und Armenien im Krieg: Sie wollen bleiben | |
In Armenien, nahe der Grenze zu Aserbaidschan, leiden Bewohner unter den | |
Angriffen des Nachbarlands. Dennoch wollen sie nicht gehen. Ein Ortsbesuch. | |
Armenien und Aserbaidschan: Hoffnung im Südkaukasus | |
Es könnte das Ende des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan | |
einleiten: Ab Sonntag verhandeln die Staats- und Regierungschefs beider | |
Staaten. |